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ANDREJ TARKOWSKIJS FILM NOSTALGHIA GENAUER (WAHR)GENOMMEN

1983 kam der Film Nostalghia des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij in die Kinos. Der Film handelt von der Odyssee eines russischen Intellektuellen im damaligen Italien. Da die Beziehungen der Westeuropäer zu Russland zur Zeit so sehr im Argen liegen, kam mir in den Sinn über diesen Film zu schreiben, der in seiner Art einzigartig ist. Freilich muss man vielleicht bereit sein, mehr als ein Aufsätzchen zu schreiben, eher ein kleines Buch, um diesem Film Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Regisseur hat sich wiederholt enttäuscht über die Auseinandersetzung von Kritikern mit seinem Werk geäußert. Tatsächlich hat man oft den Eindruck bei Kommentaren, dass die Autoren ihre Aufgabe möglichst bald abhaken möchten. Sehr bald nehmen sie Zuflucht zu Abkürzungen, die oft zu sachlich falschen Wiedergaben führen. Tarkowskij erwartetete sich hingegen von Leuten, die seine Filme kommentieren, „a labour of love“; und zu Recht, weil die Filme genau das sind: „a labour of love“1. Wenn ich mich also anschicke diesen Film zu kommentieren, erwarte ich darin unterzugehen. So stelle ich das Wort von Giacomo Leopardi meinen Ausführungen voran: „E il naufragar m’è dolce in questo mare – Süß ist es für mich, in diesem Meer unterzugehen“.

Ich sprach von der Odyssee eines russischen Intellektuellen, das ist insofern irreführend, weil das an aktives Abenteurertum denken lässt, während der ehrfürchtig als Dichter angesprochene Schriftsteller Andrej Gortschakov mit zunehmender Mattigkeit durch Italien irrt, begleitet von einer jungen und schönen italienischen Übersetzerin, die passenderweise Eugenia heißt: „wohlgeboren“ kann man sie wirklich nennen: groß, schön gewachsen, üppig, mit einer noch üppigeren rotgoldenen Lockenpracht, die ihrer Farbe wegen an Sandro Botticellis Geburt der Venus denken lässt. Die Darstellerin Domiziana Giordano hat als Person Ähnlichkeit mit der Dolmetscherin: sie hat nicht nur als Schauspielerin gearbeitet, sondern ist Künstlerin, selbstbestimmt, selbstbewusst. Oleg Jankowskij, der einzige Russe unter den Darstellern in diesem Film, kam schon in Tarkowskijs früherem Film Spiegel (1975) zum Einsatz, er spielt dort in einem kurzen Auftritt den heimkehrenden Vater. Er hat Ähnlichkeit mit Tarkowskijs Vater wegen der schön gewölbten Stirn und Augenbrauen. Freilich war Arsenij Tarkowskij im Unterschied zu ihm rabenschwarz in Haaren und Augen. Als sich abzeichnete, dass für Nostalghia die Wahl auf ihn fallen könnte, war der Regisseur leicht alarmiert. So schreibt er am 2. März 1982 in seinem Tagebuch: „Jankowskij? Er ist fragil, geistig schwach, leider. Ihn härter erscheinen lassen, die Haare kurz schneiden.“2 Im Film hat er sich dann für einen andere Lösung entschieden, indem er die Schwäche des Hauptdarstellers als Symptom eines krank machenden Heimwehs erscheinen ließ. Irgendwo sprach Jankowskij in einem Interview davon, dass ihn Tarkowskij früher, zwei Monate vor Beginn der Dreharbeiten nach Italien kommen ließ, um ihn längere Zeit der Situation der Fremde auszusetzen. Als der Regisseur ihn dann wiedertraf war er zufriedengestellt, weil der Schauspieler im richtigen Zustand war.

Doch wie hebt der Film an? Im Vorspann sehen wir in Schwarzweiß ein von Baumgruppen umstandenes, von Nebeln verhangenes Flusstal, in das weibliche Figuren, ein kleiner Junge und ein Schäferhund hineingehen. Das Einzige, was die Aufnahme von einem Landschaftsbild der Romantik unterscheidet, ist ein Telegrafenmast in ihrer Mitte, der leicht hätte vermieden werden können. Eine Frauenstimme singt ein russisches Lied Kumushki über einen Fluss, vielleicht sogar den Europafluss Donau, das von dunklen Klängen der Streicher aus Verdis Requiem abgelöst wird.

Dann beginnt der eigentliche Film: grüne Wiesen in der Dämmerung, von rechts kommt ein VW-Käfer, fährt durchs Bild kehrt in einem Bogen zurück und hält weiter vorne im Bild. Die Dolmetscherin steigt aus dem Auto und sagt etwas auf russisch. Aus dem Auto hören wir die Stimme eines Mannes, der sie – nicht sehr gentlemanlike – bittet, italienisch zu reden. Sie lässt es sich nicht verdrießen, stellt fest, dass das Licht sie an bestimmte Atmosphären in Moskau erinnert und verkündet, dass sie das erste Mal als sie die Madonna del Parto gesehen hat, weinen musste.

Diese Art, emotionale Erfahrungen zu veröffentlichen, kann man als typisch westlich, genauer: typisch italienisch ansprechen.

Sie geht voran, einen schmalen Pfad, der durch die Wiesen senkrecht in die Höhe führt. Der Russe weigert sich auszusteigen:“Ich will nicht“. Dann sagt er auf russisch etwas, was seine Haltung erklärt: „Ich bin dieser krankmachenden Schönheiten überdrüssig. Ich will nichts mehr nur für mich allein.“ Der Grund für seinen Widerwillen ist die Tatsache, dass er diese Erfahrungen nicht mit den Seinen teilen kann. Das Bedürfnis nach Mitteilung ist eine grundlegende Charakteristik der russischen Mentalität. Man erinnere sich an Tolstois Beobachtung englischer Gäste in Luzern, die Konversation betrieben, aber offenbar ohne das Bedürfnis, irgendetwas Wesentliches mitzuteilen. Die positive Wertung von Telegraphenmasten, die sowohl im Vorspann als auch hier ins Bild kommen, steht in Beziehung zu ihnen als Mittel der Kommunikation.

Tarkowskijs Filme stehen in der Spannung, in dem Widerspruch, einerseits überwältigende Angebote zur Mitteilung zu sein, so umfassend, dass man sich keinen Augenblick der Unaufmerksamkeit erlauben darf, andererseits so wie die gesamte moderne Lyrik aus Protest gegen die rationale Banalisierung des Lebens kryptisch zu sein, oder wie Tarkowskij einmal in einem Interview gesagt hat, Rätsel zu schaffen, an denen sich die Menschen noch in Jahrhunderten abarbeiten sollen.

Andrej Gortschakow folgt dann doch der Italienerin, obwohl er wiederholt gesagt hat, dass er nicht will. Wir sehen sie durch treibende Nebelschwaden wandern. Aus der Dokumentation von Ebbo Demant über Tarkowskij geht hervor, dass der Russe große Bewunderung für Caspar David Friedrich hegte. Auf dessen Bild Über dem Nebelmeer (Hamburg, 1818) sehen wir diese treibenden Nebelschwaden, die der Szenerie etwas Traumhaft-Unwirkliches geben. In der Filmszene sind die ziehenden Nebel ein Bild für die ständig in die Heimat ziehenden Erinnerungen Gortschakows.

Schon in diesen ersten Bildern kann man Tarkowskijs Hang zu sinnbildlicher Verdichtung beargwöhnen, so als sei die in den Jahrhunderten bestehende Rückständigkeit der Russen emotional in ihrer schwerblütigen Schwermut begründet. Wir sind versucht, diese emotionale Rückständigkeit an der Wurzel eines Krieges zu vermuten, der vielleicht auch begonnen wurde, weil Ilja Repins Gemälde Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief einen so zentralen Platz in der russischen Folklore hat und diese Kosaken auf dem Territorium der heutigen Ukraine lebten.

Ilja Repin, Die Saporoger Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan, Öl auf Leinwand, 203 x 358 cm ,1880-91, St. Petersburg

Die Vermutung, dass Vieles in Tarkowskijs Filmen „symbolisch“ sei legt sich nahe, wurde aber von ihm immer wieder energisch bestritten. Er wehrte sich gegen ein Symbolverständnis, das Bedeutungen festschreibt, die man dann in Nachschlagewerken rubrizieren kann. Er sprach lieber von „Bildern“ und führte gerne Beispiele aus der Haiku-Dichtung des Japaners Baschô an3.

Das Wunder des Lebens

Schnitt zur nächsten Szene, die uns in den Innenraum einer Kirche versetzt. Die Kamera fährt horizontal von rechts nach links durch einen Wald kleiner Säulen. Wir befinden uns nicht am tatsächlichen Ort der Aufbewahrung der berühmten Madonna del Parto von Piero della Francesca (1410/20 – 1492) in Monterchi, sondern in der Krypta der Kirche San Pietro in Tuscania, etwas mehr als neunzig Kilometer nordwestlich von Rom. Eine Reproduktion des Freskos ist hier angebracht worden. Die durch die Krypta stolzierende Eugenia sieht im Hintergrund andächtig kniende Gläubige. Sie fragt einen älteren Mann, der sich im Weiteren als Sakristan vorstellt und den Tarkowskij mit seiner Beleuchtung als wahren Philosophenkopf erscheinen lässt, warum es vor allem Frauen sind, die sich im Gebet anvertrauen. Er erläutert, dass wenn man zerstreut ist, gar nichts passiert. Aber wirklich gläubigen Menschen können alle Wünsche in Erfüllung gehen. Das wiederholt die Aussage, die im Vorgängerfilm des Regisseurs Stalker über den innersten Raum der Zone gemacht wurde. Wir werden sehen, dass Tarkowskij auch andere Elemente dieses Films aufgreift. Eine Mindestanforderung ist aber, fügt der Sakristan hinzu, dass man bereit ist, niederzuknien.

Sie macht einen halbherzigen Versuch und bekennt dann, dass sie das nicht kann. Das greift einen Vorwurf auf, der Westeuropäern nicht nur von Russen, sondern allgemein von Osteuropäern gemacht wird, dass es ihnen an Demut fehle, was sich unter anderem in der fehlenden Bereitschaft niederzuknien zeige.

Wir werden nun Zeugen einer langsamen Prozession von Frauen, die Turmaufbauten von brennenden Kerzen und eine von einem Velum verhüllte Statue wohl der Madonna herbeitragen.

Das ist insofern nicht völlig aus der Luft gegriffen, als es tatsächlich Proteste gab als das Fresko der Madonna del Parto in ein Museum übertragen wurde, weil das Fresko offenbar einen Platz in der Volksfrömmigkeit hatte.

Während in Italien Kerzen „der Geruch der Sakristei“ anhaftet, haben Menschen in Ländern mit anhaltender Dunkelheit ein emotionaleres Verhältnis zu ihnen. In diesem Film wird ihnen eine wichtige Rolle beigemessen. Der Aufbau mit der Madonnenstatue wird so abgestellt, dass wir im Hintergrund undeutlich das Fresko sehen. Eine junge Frau mit Schleier kniet vor der Statue nieder und flüstert atemlos eine Litanei, in der es um die Mutterschaft Marias und ihren Beistand für alle Mütter geht.

Der Sakristan hatte zuvor der Dolmetscherin in ungelenken Worten gesagt, dass es seiner Meinung nach Aufgabe der Frauen sei, Kinder zu gebären und aufzuziehen. Eugenia fragt unwillig, ob sie zu mehr nicht nütze seien und geht.

Piero Della Francesca, La Madonna del Parto, Fresko, 260 x 203 cm, 1455 Monterchi

Nun geschieht ein Wunder: die kniende Frau öffnet mit leiser Gewalt – man hört das Knacken der Knoten – das Velum vor der Madonnenstatue und heraus fliegen im Schwarm zwitschernde Vögelchen. Nach meinem Eindruck ein erster poetischer Höhepunkt des Films, der als eine kreative Weiterentwicklung des Freskos zu verstehen ist. Das Fresko zeigt die Madonna in einem Zelt stehend, dem Zelt der Bundeslade4, das von zwei Engeln feierlich geöffnet wird. Die deutlich schwangere Madonna hat die rechte Hand auf die spaltbreite Öffnung ihres blauen Gewandes gelegt, als schicke sie sich an, eine weitere Öffnung anzudeuten, die Öffnung ihres Schoßes. Eben dies Motiv hat Tarkowskij mit der Öffnung des Velums aufgegriffen, um das Wunder des Lebens zu feiern. Es hat in Russland den Brauch gegeben, an Ostern Vögel aus Käfigen freizulassen, auf den Alexander Puschkin sich in einem kurzen Gedicht berief:

Das Vöglein

Den alten Brauch, den gibt es ewig,
dem ich in Fremde folgen mag:
Ich lass ein Vöglein aus dem Käfig
an fröhlich heitrem Frühlingstag.

Nun meine Seele wird genesen;
Gibt’s einen Grund zum Traurigsein,
wo ich nur einem Lebewesen
bescher‘ den freien Sonnenschein?

Der Regisseur ergänzt mit diesem Bild entscheidend die kargen Worte des Sakristans über die Rolle der Frau. Kinder zu gebären groß zu ziehen ist als Aufgabe wahrhaftig nicht hoch genug einzuschätzen.

Freilich zeigt sich hier auch so etwas wie eine beinahe ideologische Festlegung. Der Russe sah Mann und Frau komplementär. In seinem Leben hatte er es in seiner Sicht der Selbstaufopferung seiner Mutter zu verdanken, die eine emanzipierte Frau war und beachtliche schriftstellerische Versuche hinterlassen hatte, dass er der geworden ist, der er war.Als alleinerziehende Mutter in der Sowjetunion hatte sie einigen Aufwand betrieben, um ihrem Sohn eine umfassende musische Förderung zuteil werden zu lassen: Musikschule und Kunstschule Tarkowskij selbst hat sie in einem Interview einmal als „Nihilistin“ bezeichnet, was in Russland der Name für die Feministinnen der ersten Stunde, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war. Der Vater hatte die Familie früh verlassen und war in den Augen der Mutter ein Egoist. Von dem Dichter, zu dem die Beziehung zunächst einmal sehr kompliziert war, hatte Tarkowskij vieles von seiner inneren Welt geerbt und so schrieb er einmal sinngemäß in den Tagebuchaufzeichnungen: wenn er ein Egoist ist, bin ich es auch.

Im Film sehen wir nun Gortschakow in sepiagetönter Nahaufnahme. Es bleibt unklar, ob er das Fresko der Madonna, deren Gesicht wir in atemberaubender Nahaufnahme sehen, überhaupt gesehen hat. Jetzt wird er von einem Tagtraum gefangengenommen. Eine weiße Feder schwebt von oben herab, um sein Haupt zu streifen und in eine Pfütze zu sinken. Der weiße Fleck in seinem Haar, den auch der Stalker hatte, wird so deutlich als eine Zeichnung von oben gekennzeichnet. Der Prophet Ezechiel erhält im Alten Testament den Auftrag, alle mit einem Zeichen zu versehen, die über die in der Stadt begangenen Gräueltaten seufzen und stöhnen (Ez 9, 4). Für Tarkowskij wichtiger war vermutlich die Beziehung zur Offenbarung des Johnannes, wo davon die Rede ist, dass 144000 mit dem Zeichen des Lammes versehen werden (Offb 14)

In der Ferne sieht Gortschakow ein Holzhaus, das ihm Heimat bedeutet, und davor undeutlich einen Engel.

Das dunkle Hotel

In der nächsten Szene sitzen Gortschakow und Eugenia im Finstern. Wie sich im Weiteren herausstellt, ist es das Foyer des kleinen Hotels, wo sie Unterbringung finden. Die extrem dunkle Gestaltung dieser Passage des Films hat dazu beigetragen, dass der Gesamteindruck des Films, wie Tarkowskij nachher beim ersten Sehen etwas überrascht feststellte, der einer großen Verdüsterung ist. Manche mögen wegen dieser vorherrschenden Schwermut, die nach einem konventionellen Dafürhalten typisch für die Slawen im Allgemeinen und für Russen im Besonderen sein sollen, mit dem Film etwas fremdeln. Da die Melancholie mein natürliches „Habitat“ ist, nehme ich sie fast nicht wahr und gebe mich ungestört der Faszination durch das hin, was ich provisorisch Tarkowskijs „Sinnfülle“ nenne.

Eugenia beklagt sich bei Andrej, dass er das Fresko, über das er zuvor viel gesprochen hatte, überhaupt nicht sehen wollte. Sie liest ein Buch von ins Italienisch übersetzten Gedichten Arsenij Tarkowskijs. Er: Wirf das weg. Denn Dichtung, überhaupt Kunst lasse sich nicht übersetzen. Was Dichtung angeht, könne sie ja einverstanden sein, aber was ist mit Musik? Er stimmt leise eine russische Weise an. „Ihr versteht gar nichts von Russland.“ Wie ist es denn umgekehrt mit Dante, Petrarca, Machiavelli? Wir verstehen nichts, wir armen Teufel. Was könnte denn die Lösung sein? Man muss die Grenzen abschaffen, die des Staates. Mittlerweile sind die Grenzen zwischen den Staaten abgeschafft, aber es scheinen weiterhin gewisse Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Völkern zu bestehen. In dieser Unterhaltung sehen wir Gortschakow im Dunkeln von hinten, der sich dann umdreht; Eugenia sehen wir im Profil. Sie kehren einander halbwegs den Rücken zu. Andrejs sich filigran kräuselnder Zigarettenrauch wird zum Bild für seine mutlosen Raisonnements.

Zwischendurch scheint ein kurzer Erinnerungsfetzen aus der russischen Heimat auf: der Kopf einer dunkelhaarige Frau von hinten, die ein blitzblankes Weinglas anhaucht, um es noch zusätzlich zu polieren. Sie hat das in Zöpfen geflochtene Haar in einer Schnecke aufgerollt und in einen Knoten gebunden: in etwa die gleiche Frisur, wie sie die Mutter im autobiographischen Film Der Spiegel (1976) in jungen Jahren trug. Es ist in diesem flüchtigen Einsprengsel, dass wir Andrejs Frau zum ersten Mal sehen, wie sich dann spätrer klärt und nur von hinten. Das Putzen des Glases bringt auch das Thema der Reinheit zum ersten Mal ins Spiel.

Eugenia erzählt beiläufig von einer Zeitungsnotiz, die durchaus als Interpretationshilfe für einen der noch zu erläuternden Höhepunkte des Films gelesen werden kann: eine Hausangestellte aus Süditalien hat in Mailand das Haus ihrer Herrschaft angezündet: aus Heimweh – sie wollte zurück nach Calabrien.

Dann fragt sie ihn zu Sasnofskij, den russischen Musiker und Komponisten der im 18. Jahrhundert in Italien gelebt hat und über den Gortschakow forscht, er ist der eigentliche Grund seines Italienaufenthalts. Er sei aus Heimweh nach Russland in die Leibeigenschaft zurückgekehrt und habe sich dann das Leben genommen. Er gibt ihr einen Brief des Musikers, dessen Original in Bologna aufbewahrt wird. Sie solle ihn lesen, dann werde sie verstehen. Mittlerweile ist die Besitzerin des kleinen Hotels erschienen. Sie zeigt ihnen ihre Zimmer und glaubt verstanden zu haben, dass der Russe verliebt ist. Der wiederum wird von Erinnerungen an seine nun lächelnde dunkelhaarige Frau heimgesucht. Ein Mädchen rennt mit dem Schäferhund von dem heimatlichen Haus aus auf eine große Wasserlache zu und wirft etwas hinein, was der Hund apportieren soll. Damit endet der Erinnerungsfetzen abrupt.

Andrej inspiziert zögernd sein völlig finsteres Zimmer. Neben dem altertümlichen Bett, das an seinen Enden ein mit kunstvollen Windungen verziertes Gestell zeigt, was ein vertrauter Anblick aus Tarkowskij-Filmen ist, findet sich ein Lichtschalter, der kaltes, aber unstetes Neonlicht spendet. Rechter Hand öffnet sich die Rückwand in ein Badezimmer, linker Hand in eine türähnliche Nische mit einem großen Fenster, das von Läden geschlossen wird. Wie sich herausstellt, geht dieses Fenster nicht ins Freie, sondern auf einen düsteren Lichtschacht. Im Badezimmer trinkt Andrej etwas Wasser, nimmt seine Medizin zu sich. Andrej findet auf einem Sims eine Bibel, die als Lesezeichen einen mit Wolle oder Haaren gefüllten Kamm hat: eines der Rätsel am Rande. Nach meinem Eindruck war Tarkowskij nicht nur geheimnisvoll, sondern auch ein Geheimniskrämer. Etwas, das er mit meinem anderen Spezi Rembrandt gemeinsam hat. Bei Tarkowskij mochte auch die Erfahrung seines Jahres in der sibirischen Taiga als junger Mann eine Rolle spielen: Geräusche im Wald, für die man keine Erklärung findet. Gortschakow lauscht, eine Münze fällt im Dunkel zu Boden, um rollend zur Ruhe zu kommen. Dieses Motiv hat Tarkowskij in seinem letzten Film Opfer in größerer Deutlichkeit ausformuliert. Wer möchte, mag an das Bibelwort von der verlorenen Münze denken (Lk 15, 8-10).

Die Tür vom Flur zu seinem Raum öffnet sich wie von Geisterhand und davor steht Eugenia. Ohne dass sie angeklopft hätte, hat er ihre Anwesenheit wahrgenommen. Sie hält das schmale Bändchen mit den Gedichten Arsenij Tarkowskijs in den Händen. Jetzt sehen wir sie im Profil vom Flur aus, während Andrej das Licht im Flur anschaltet. Er kehrt zurück zur Tür. Sie fragt ihn, ob sie ein Telefonat nach Moskau anmelden soll, er habe seit zwei Tagen nicht mit seiner Frau gesprochen, eine Tatsache, die sie irgendwie bekümmert oder jedenfalls bemerkenswert zu finden scheint. Bei all dem schlägt sie sich mit dem Buch unablässig und leicht ungeduldig in den Schoß. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Andrej nimmt ihr das Buch ab und schließt wortlos, wieder nicht sehr gentlemanlike, die Tür hinter sich.

Im Flur auf sich allein gestellt, hat sie einen spielerischen Einfall: sie kniet (!) wie beim Start eines Sprints und rennt bei „Los“ los, nur um nach wenigen Schritten wegen ihrer Stöckelschuhe zu Fall zu kommen. Da muss sie selbst über sich lachen. Tarkowskij hat hier pantomimisch wortlos, seine Zweifel an bestimmten Aspekten der feministischen Ideologie zum Ausdruck gebracht. Die Anspielung auf den Sport erinnert uns daran, dass es sehr schnelle Frauen gibt, die schnellsten Männer aber schneller sind. Schon in Tarkowskijs frühem Film Iwans Kindheit sehen wir eine Art Wettlauf am Strand zwischen Iwan und seiner kleinen Schwester, bei dem er sie weit hinter sich lässt. Wenn wir pflichtschuldigst Fußballerinnen, Boxerinnen und Gewichtheberinnen bewundern, müssen wir uns doch eingestehen, dass aufs Ganze gesehen bei dieser Ordnung der Dinge die Frauen immer im zweiten Glied bleiben. Haben Frauen nichts Spezifisches, bei dem sie Männern überlegen sind? Weil im Hintergrund dieser Szene die Treppe zu sehen ist, die Eugenia dann hinaufgeht, legt sich der Verdacht nahe, dass Tarkowskij seine Aussage über den Sport hinaus ausdehnen möchte und es generell um Karrierestreben geht: ein Stich ins Wespennest.

Schnitt, und wir sehen wie Andrej das Buch in eine Ecke des Raumes schleudert. Diesen Schleudergestus haben wir in der Erinnerungs- oder Tagtraumsequenz gesehen. Das Mädchen schleuderte etwas offenbar in der Absicht, dass der Hund es zurückbringe…

Er setzt sich auf den Bettrand, um seine Schuhe abzustreifen und sich hinzulegen. Bezeichnenderweise legt er seinen schweren Mantel nicht ab, im ganzen Film legt er diesen Mantel mit dem zeitlosen Fischgrätmuster nicht ab, wohl weil er sich nirgendwo hier im Westen wirklich zuhause fühlt. (Jemand hat behauptet, dass er im Dunkeln den Mantel ablegt – nach meinem Eindruck ist das schlechterdings nicht auszumachen.)

Tarkowskij hat in Nostalghia die Wassermusik, bzw. die minimalistische Tropfenmusik aus dem Vorgängerfilm Stalker mitgebracht, die dort in der Szene vor dem geheimnisvollen Raum der Zone einen ersten Höhepunkt feierte. Jetzt beginnt es in Strömen zu regnen und hinter dem mit Läden geschlossenen Fenster scheinen sich dünne Schollen von Schmutz zu lösen, die nieder gleiten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch hier alles einen tieferen Sinn haben soll. Auffällig ist die Gegenüberstellung des verdunkelten Fensters mit dem strömenden Regen und dem hell erleuchteten Badezimmer mit dem modernen Design des Spiegels, einer kreisrunden, weißen Plastikfassung. Als Andrej den Wasserhahn schloss, hörte man das Gluckern stagnierenden Wassers. Jetzt sehen wir im Badezimmer die wabernden Lichtreflexe des Regens.

Wie angedeutet steht zu befürchten, dass hier eine Aussage über Russland und den Westen getroffen werden soll. Der tschechische Jesuit Tomaš Špidlík hat darüber geschrieben, dass viele russische Denker, nachdem sie sich anfänglich für westliche Philosophien begeisterten, später häufig deren Leblosigkeit beklagten5. Nachweislich war Tarkowskij an den deutschen Romantikern interessiert. In Joseph von Eichendorffs Marmorbild hat der Kreis eine negativ-magische, lähmende Bedeutung. Wer weiß, vielleicht hat der kreisrunde Spiegel hier auch nichts Gutes zu bedeuten.

Der strömende Regen fließt im Dunkeln als Wasserlache in den Raum und mit ihm taucht aus dem Badezimmer ein Schäferhund auf, der sich vor das Bett legt, wobei man hört wie ein Gefäß umfällt. Einen Schäferhund kennen wir schon aus den Heimaterinnerungen, wo er etwas aus einer großen Lache apportieren soll.

Während des strömenden Regens nähert sich die Kamera im Dunkel dem Kopf Gortschakows von vorn. Während der Regen abebbt intensiviert sich das Licht auf dessen Stirn, die Stirnadern treten hervor und mit dem pulsierenden Geräusch der Tropfen, das vom Regen übrig geblieben ist, vermittelt sich uns ein Gefühl von Verletzlichkeit, von bedrohtem Leben.

Als Andrej auf dem Bett liegt, träumt er von seiner Frau, die sich im Profil langsam vor einer wie zerfurchten Wand auf die rechts stehende Eugenia zubewegt. Die beiden Frauen liebkosen einander, umarmen ihre Häupter, beide sind zart bewegt, Eugenia zu Tränen. Dann sehen wir Eugenias phantastische Haare wie ein Goldregen sich auf Andrej herabsenken.

Auf dem Bett, von dem sich Andrej erhoben hat, liegt hell erleuchtet in dem anderweitig sich nun völlig verfinsternden Raum eine deutlich Hochschwangere, anscheinend Andrejs Frau. Diese Traumvision gibt der Sehnsucht nach Einheit Ausdruck, eines der Leitmotive dieses Films. Da es zwei Frauen sind, die sich umarmen, Russland und der Westen, kann es nur im übertragenen Sinn um die Leibesfrucht ihrer Begegnung gehen. Sie steht wie gesagt für die Sehnsucht nach Einheit.

Domenico und die Therme der hl. Katharina von Siena

Dann wird Andrej durch das Klopfen Eugenias geweckt: in einer halben Stunde gibt es Essen. Man wüsste zu gerne, ob Mittag- oder Abendessen. Was die Tageszeiten betrifft, haben wir völlig die Orientierung verloren. Wenig später im Film an der antiken Therme von Bagno Vignoni erfahren wir, dass es sieben Uhr morgens ist. Die heißen Dämpfe, die aus dem Bad aufsteigen, umnebeln die Badegäste, von denen einer einen Borsalino trägt, eine Dame einen Turban und zu allem Überfluss wird im Wasser auch geraucht. Es ist ein großartiger Ort hatte Eugenia angekündigt. Sogar Santa Caterina sei hier gewesen. In der Tat gibt es nicht viele Länder in unserem alten Europa, die mit solchen Antiquitäten aufwarten können, ein Thermalbad, das schon den Etruskern bekannt war und in dem im Mittelalter der Legende nach der jugendlichen Caterina die religiösen Flausen vergehen sollten, so sei es der Wille der Mutter gewesen. Tarkowskij hat die Örtlichkeit nonchalant zu einer mild absurden Inszenierung genutzt. Die Badegäste fragen Eugenia, was es mit ihrem Begleiter auf sich hat.

Er wandelt auf den Spuren des russischen Komponisten Sasnofskij, der Ende des 18. Jahrhunderts auch nach Bagno Vignoni kam. Gefällt dem Russen Italien? Ja, sogar zu sehr. Obwohl…

Auftritt Domenico, ein älterer Mann, der uns in der Konversation der Badenden vorgestellt wird. Er wird von Erland Josephson dargestellt, einem schwedisch-jüdischen Schauspieler, der mehrfach Hauptrollen in Ingmar Bergmans Filmen gespielt hat. Er trottet mit seinem Schäferhund am Becken entlang und führt Selbstgespräche, oder spricht doch eher zu seinem Hund, den wir nicht sehen, sondern nur leise hecheln hören. Mit seinem dunklen Mantel und vor allem der dunklen Mütze erinnert er etwas an einen orthodoxen Mönch. Er kommentiert die Gespräche der Badenden und sagt einerseits, dass man zuhören solle, weil man immer etwas lernen könne. Wenig später aber bemerkt er bekümmert: Hörst du worüber sie reden? Was sie interessiert? Man muss über wichtige Themen reden! Jemand fragt den glatzköpfigen General: Was ist das für eine Musik, die sie uns jeden Morgen hören lassen. Chinesische Musik, tausendmal besser als Verdi, keine sentimentalen Klagen, sondern die Stimme der Natur, die Stimme Gottes. Lassen Sie bitte Verdi da raus! Eine besondere Pointe ist, dass einige Akkorde aus Verdis Requiem in diesen Film hinein gewebt wurden. Nun war Tarkowskij nicht so einfältig, dass er diese Konversation einfach rundweg als eitles Geschwätz abqualifizierte. Diese Aussage scheint viel mehr zu denen zu gehören, denen man sorgfältig zuhören soll und sich in diesem Fall mit Tarkowskijs eigenen Überzeugungen berührten. Über Domenico berichten die Badenden, er habe sich und seine Familie für sieben Jahre eingesperrt, in Erwartung des nahen Weltendes. Über die Gründe für Domenicos Handlung gehen die Meinungen auseinander. Einer meint, er habe aus Eifersucht gehandelt, immer schon habe er seine Frau mit dieser Eifersucht verfolgt. Die Frau spricht von einer religiösen Krise. Der Mann ist verrückt und basta, bescheidet der glatzköpfige General, dass sehe man doch mit bloßem Auge, „a occhio nudo“ von einem Glatzkopf gesagt entbehrt nicht einer gewissen Komik. Nein, er hatte einfach nur Angst, meint ein anderer. Wovor denn? Na, vor allem, ist doch klar. Domenico fragt seinen Hund: Weißt du warum sie da in dem Wasser sind? Sie wollen ewig leben! Die wohlig einschläfernde Wirkung des heißen Wassers und die Benebelung machen die Begrenztheit der Existenz vergessen. Andererseits soll schon mal jemand eingeschlafen und ertrunken sein. Domenico spricht Eugenia an: Ich rauche nicht, haben Sie eine Zigarette für mich? Mit solchen absurden Aussagen thematisiert Tarkowskij sein eigenes Problem. Er hat seit seiner Jugend stark geraucht und ist schließlich auch an Lungenkrebs gestorben. Dann kommt Domenico auf Caterina von Siena zu sprechen: Vergiss nie, was er zu ihr gesagt hat. Wer ist er? fragt Eugenia. Domenico weist energisch zum Himmel. Und sie? Die heilige Caterina, ruft Domenico aus, wie jemand, der die Geduld verliert. „Du bist die, die nicht ist. Ich bin der, der ist.“ Das ist hohe Mystik, und die Aussage erhält Einprägsamkeit, weil Domenico sie macht als er als dunkle Silhouette vor den im Nebel auftauchenden und verschwindenden Badenden erscheint. Von den Badenden ruft prompt einer in spontanem Spott: „Bravo Domenico!“

Caterina war Dominikanerin, und dass es Domenico ist, der von ihr spricht, beweist einmal mehr, dass Tarkowskij Beziehungsreichtum liebte. Gortschakow zeigt sich beeindruckt von Domenico: Er ist nicht verrückt, er hat Glauben. Während wir vorher Domenico vor der Nebelkulisse des althehrwürdigen Bades nach links im Profil sahen, sehen wir jetzt Gortschakow an Eugenia vorbei nach rechts gehen im Profil. Er spricht sehr bestimmt, wenn auch nicht akzentfrei. Er bezweifelt, dass Domenico verrückt ist. Er habe Glauben. Eugenia hilft ihm etwas maliziös mit dem russischen Wort. Die sogenannten Verrückten stören uns, sie sind sehr allein, aber sie sind näher an der Wahrheit. Eugenia klärt ihn über eine Besonderheit der italienischen Gesundheitspolitik auf. Die psychiatrischen Abteilungen waren einige Jahre zuvor aufgelöst worden. So wurde das Verhältnis von psychisch Kranken und sogenannten Gesunden vielleicht durch diese aktuelle Konstellation zu einem zentralen Thema im Film. Gortschakow will unbedingt mit Domenico reden. Zurück im Hotel hält Gortschakow die vorübergehende Eugenia an: sie sei so schön in diesem Licht. Sie ist offenkundig geschmeichelt. Als Gortschakow sagt, er beginne zu verstehen, verrät ihr Minenspiel, dass sie Morgenluft wittert. Nur als er sie fragt, warum Domenico seine Familie eingesperrt habe, schläft ihr das Gesicht ein: Was weiß denn ich. Zugleich beginnt im Hintergrund ein Telefon zu klingeln, der Stundenschlag einer Standuhr stimmt im gleichen Rhythmus ein. Was das zu bedeuten hat? Eine Preisfrage an die werte Leserschaft: ein Anruf von irgendwem gewinnt zeitliche Dringlichkeit. Wahrscheinlich eine Frage, die ohne Antwort bleiben soll.

Die nächste Szene findet vor dem Haus Domenicos statt, einem lang gestreckten wunderbaren altem Gebäude, wie man sie in Italien finden kann, aber wahrscheinlich auch nur nach längerem Suchen: vielleicht ein ehemaliges Klostergebäude? Zwei Türen, vielleicht zehn Meter auseinander mit halbrunden oberen Abschlüssen sind die Orte der Handlung. An der Wand eine verblasste Sonnenuhr. Gortschakow und Eugenia sind von einem Mann zur rechten Tür geleitet worden. Domenico sitzt vor der linken Tür auf einem Fahrrad, das er als eine Art Hometrainer benutzt. Aus Tarkowskijs Aufzeichnungen geht hervor, dass er die Szene mit dem Fahrrad von Anfang an im Sinn hatte. Was sie zu bedeuten hat, ist etwas rätselhaft. Die Szene kann als weiteres Indiz dafür genommen werden, dass Domenico eine Schraube locker hat. Vladimir Vysotskij, den Tarkowskij früh kannte, hat ein Lied über Morgengymnastik geschrieben, das in wildem Spott über die, die ewig leben wollten, unter anderem davon handelt, dass man im Lauf auf der Stelle tritt. Das Radfahren ohne sich von der Stelle zu bewegen stimmt als Kontrast mit der, wie Eugenia berichtete, von Domenico geplanten Aktion zusammen, das Thermalbad mit einer angezündeten Kerze zu durchqueren. Denn in die Existenz kann man sich nicht häuslich einrichten, als wolle man ewig leben, wie Domenico es ausdrückt, also auf der Stelle treten, sondern sie muss durchschritten werden, hat einen Anfang und ein Ende. Das, was Domenico vorschwebt, nennt man in der zeitgenössischen Kunst eine Performance. Nur wird sie ihm nicht erlaubt, weil er als verrückt gilt. Eugenia versucht, für Gortschakow ein Gespräch mit Domenico anzubahnen. Mehrmals legt sie mit großen Schritten die Distanz zwischen den beiden Türen zurück, kann aber nichts erreichen. Sie habe gehört, Domenico habe eine interessante Erfahrung gemacht. Ja, auch ich habe davon in den Zeitungen gelesen, lautet dessen dubiose Antwort. Nach zwei gescheiterten Versuchen, mit Domenico ins Gespräch zu kommen, verabschiedet sie sich wutentbrannt von Gortschakow, sie betrachte die Reise als beendet und kehre nach Rom zurück. Mit vereinzeltem Donnergrollen kündigt sich ein Unwetter an.

Gortschakow sucht nun selbst das Gespräch mit dem Radfahrer. Er verstehe, dass er sich und seine Familie eingeschlossen habe. Domenico geht in das Haus. Gortschakow folgt ihm. Als er die Tür öffnet, liegt da eine sonnenbeglänzte Flusslandschaft. Wassertropfen und Vogelstimmen zwitschern. Hinter dem Fluss ragen Berge auf. Jetzt hören wir den Klang einer Kreissäge. Dieser Klang wird immer wiederkehren, er ist sozusagen ein Leitmotiv, ein memento mori: rechteckige Bretter, die durchsägt werden. Das spielt auf das rechteckige Becken und vor allem seine Begrenzung an. Domenico ruft ihn zu sich herein und es entwickelt sich eine Art von Gespräch, zu dem Gortschakow auch wegen seiner begrenzten Sprachkenntnisse kaum mehr als ein „Va bene“ beisteuert. Das macht Domenico nervös: er bläst die gerade angezündete Kerze aus: „Non va bene, va male!“ Er spielt eine Passage aus Beethovens 9. Symphonie ein, bis kurz vor der Stelle, als die Ode an die Freude erneut anhebt. Die Kamera inspiziert derweil Domenicos Inneneinrichtung: getrocknete Pflanzen, Bilder, die man nicht genau erkennen kann. Dann taucht aus dem Dunkel eine versehrte, wie tot wirkende Puppe auf. Ein mir befreundeter Arzt bemerkte dazu, dass dieses Bild eine Frau, die abgetrieben hat, schockieren müsse. Domenico verhält sich geheimnisvoll und feierlich. Er lässt zwei Tropfen Olivenöl in seine Hand fallen. „Ein Tropfen und ein Tropfen bilden einen größeren Tropfen, nicht zwei Tropfen.“ Es heißt von ihm, er sei Mathematiker und doch hat er groß an eine der Innenwände seines Hauses die Formel geschrieben: 1 +1 =1, Ausdruck der Sehnsucht nach Einheit, wie sie schon in der Traumsequenz mit der Umarmung der beiden Frauen aufgetaucht ist. In einer eher liturgischen Geste reicht er Gortschakow Brot und Wein, was freilich auch an die in slawischen Ländern übliche rituelle Geste der Gastfreundschaft erinnert, einem Ankömmling Brot und Salz zu reichen. Beim Kauen des Brotes schaut Domenico in einen Spiegel, sein Kauen verlangsamt sich und während er sich aus den Augenwinkeln beobachtet scheint er zusehends erschrocken. Nun hat Regen eingesetzt. Domenico trägt Andrej auf, die Aktion mit der Kerze zu übernehmen, wobei man freilich nicht den Eindruck hat, dass er sich direkt an ihn wendet, sondern wir sehen ihn von hinten vor dem von Gardinen und tropfnassem grünem Blattwerk verhangenen Fenster und er spricht nicht in Andrejs Richtung, sondern vor sich hin wie im Gebet. In seine weitläufige Behausung regnet es rein. Wir sehen einige leere Flaschen aufgestellt und den Regen leuchtend darauf und daneben niedergehen. „Wir müssen größere Ideen haben“, sagt Domenico. Das ist die Interpretation des Bildes: die Öffnung der Flaschen ist so klein, dass nur sehr wenig Wasser in sie hineingelangt. So sind einige der von Tarkowskij gefundenen Bilder tiefsinnig, während andere ein dunkles, melancholisches, dem Depressiven nahes Lebensgefühl widerspiegeln, das sich stets als bedroht, gefährdet erlebt. Der erschrockene Blick Domenicos in den Spiegel, der an gewisse, krisenhafte Selbstporträts van Goghs erinnert, ist von dieser Art, wie auch die an der Stirn hervortretenden Adern des schlafenden Gortschakow.

Domenico erläutert, was er mit größeren Ideen meint. Er sei Egoist gewesen, denn er habe nur seine Familie retten wollen, man müsse aber alle retten. Er fragt Andrej nach seiner Familie, ob seine Frau schön sei. Wie die Madonna del Parto nur ganz schwarz antwortet Andrej lachend, hat dabei die Hände am regennassen Fenster benetzt und greift mit den nassen Händen Domenico an die Eingeweide. Eine beiläufige, gleichwohl ungewöhnlich „nahe gehende“ Geste nonverbaler, suggestiver Kommunikation, über die, wer mag, sich den Kopf zerbrechen kann. Ich tippe auf die große, dunkle, feuchte Mutter, die bei Dostojewskij in den Dämonen auftaucht: eine irrationale Gleichsetzung der Muttergottes mit der Mutter Erde, wie sie die geistig schlichte Marya Lebyadkina wiedergibt. Mittlerweile hat der Taxifahrer gerufen, der Gortschakow zurückbringen soll. Domenico verkündet geheimnisvoll, dass sie in Rom etwas Grandioses planen, dann schaut er sich suchend nach seinem Hund Zoe um, weil er Angst hat und beschwört ihn, man dürfe nicht immer an die gleiche Geschichte denken.

Das „Ende der Welt“

Nun tauchen Erinnerungsbilder in Schwarzweiß von der Befreiung aus der siebenjährigen selbstgewählten Gefangenschaft auf. Wir sehen einen tief bekümmerten Domenico mit seinem Hund auf irgendeiner Treppe in die Tiefe steigen. Aus völligem Dunkel taucht das blonde Köpfchen eines Kindes auf. Als eine Tür geöffnet wird sieht man, dass es den Kopf auf die Schulter seiner Mutter gelegt hat. Im nächsten Bild sehen wir Domenico, diesmal ohne Mütze, sondern mit Locken, der zwei Kinderkoffer aus dem Verlies retten will, die ein weiß bekittelter Angestellter des Gesundheitswesens ihm abzunehmen versucht. Die Mutter umarmt wild schluchzend die gestiefelten Beine eines Polizeibeamten. Eine umgekippte Milchflasche entleert sich stoßweise. Dieses Motiv äußerster Unterwerfung, das Umklammern und Küssen der Füße, kennen wir von Ikonen. Vor einem Vertreter der öffentlichen Ordnung irritiert es etwas: ein Polizist, der als Heiland erscheint, der den Lazarus aus dem Grab holt. Man darf nicht vergessen, dass Tarkowskij in der Sowjetunion durch die Schule einer dialektischen Ästhetik gegangen ist, so sind manche Bilder dialektisch konzipiert, in sich einen Widerspruch enthaltend. Das Weiß der sich entleerenden Milchflasche ist ein Bild für den vergeblichen Versuch, sich durch Verschluss rein zu erhalten. Dann sehen wir Domenico, wie er immer noch mit den zwei Köfferchen in den Händen seinem kleinen Sohn über die Stufen einer großen Freiteppe folgt, die zu der an den Platz grenzenden Kirche hinaufführt. Vor der Kirchentür steht ein Pfarrer im Talar und spricht Domenico an. Der lädt die Köfferchen bei ihm ab. Auch wenn man diese Geste nicht wirklich versteht, beschleicht einen doch das dunkle Gefühl, dass die Kirche hier keine ganz glückliche Figur abgibt. Warum überlässt ihm aber Domenico die Kinderkoffer, die er dem Angestellten des Gesundheitswesens nicht geben wollte?

Nicht nur weil diese Szene in Zeitlupe erscheint, spürt man den Widerspruch zu der Beschreibung, die die Badenden in Bagno Vignoni von dieser Szene gegeben haben. Sie behaupteten, Domenico habe seinen Sohn gejagt und alle hätten befürchtet, er wolle ihn umbringen. Hier sehen wir, dass er ausgesprochen vorsichtig die Stufen hinter seinem Sohn herabsteigt. Schnitt, die nächste Szene ist in Farbe: wir sehen in der Ferne eine wunderbare Stadt auf dem Berge, wie sie in Italien nicht ganz selten sind. Im Vordergrund, durch eine Schlucht von der Stadt getrennt, das regenbeglänzte Stück einer Straße, auf dem ein Auto vorbeifährt. Der davor sitzende Sohn wendet sich um und blickt zu seinem Vater auf: „Papa, ist das das Ende der Welt?“ Der Kontrast zu der Aufgeregtheit der Befreiungsszene, die an die angekündigte Reinigung durch Katastrophen in der Endzeit gemahnt, könnte größer nicht sein: ein Auto taucht auf und verschwindet. Ob es je die Verheißung der Stadt auf dem Berge im Hintergrund erreichen wird, bleibt ungewiss. So ist das individuelle „Ende der Welt“ jedes Einzelnen, und das soll die Performance Art der durch das Becken getragenen Kerze in Erinnerung bringen.

Vor dem „Haus der Gefangenschaft“ verabschieden sich Domenico und Andrej und wir sehen aus einiger Entfernung wie sie sich umarmen, was beweist, dass sie sich als Freunde gefunden haben. Dann wird Andrej von seinem Taxi bescheidener Dimensionen, einem kleinen weißen Fiat fortgefahren. Es folgt noch einmal eine Rückblende: der Augenblick, als das Versteck Domenicos und seiner Familie entdeckt wurde und die Carabinieri anrückten. Zwei große Kinder kommentieren, dass sie schon immer geahnt haben, dass in diesem Haus jemand ist, worauf ein Esel schreit, was vielleicht bedeuten soll, dass sie etwas besonders Dummes gesagt haben.

Eugenia reicht es

Als Nächstes sehen wir Andrej stürmischen Schritts in das Hotel zurückkehren. Beim Durchqueren einer zweiflügeligen Schwingtür bleibt er mit dem Ärmel seines Mantels an einem der Griffe hängen. Früher hat er in seinem Zimmer den Lichtschalter zum Badezimmer auf der falschen Seite der Tür gesucht. Missgeschicke passieren, aber in so kleiner Münze nie in amerikanischen Filmen, und das ist vermutlich der Grund dafür, dass Tarkowskij meinte, diesen Tribut an den Realismus zahlen zu sollen, auch wenn ansonsten Realismus für ihn keine Priorität war.

Als er in sein Zimmer kommt sitzt Eugenia auf seinem Bett und föhnt sich die Haare. Der Wasser in ihrer Dusche sei ausgegangen, sie hoffe, dass er sie deswegen nicht umbringen werde. Wer in den 70er oder 80er Jahren Italien bereist hat, wird zugeben, dass das ein realistisches Szenario ist. Er wundert sich, dass sie noch nicht abgereist ist. Sie glaubt ihm nicht, dass er darüber erfreut ist. Er zeigt ihr die Kerze, die Domenico ihm gegeben hat, sie schaltet den Föhn, den sie zuvor abgeschaltet hat, mit höherer Stufe wieder ein und fährt aus der Haut. Sie findet, dass er vor allem Angst hat, voller Komplexe ist und sie wird dann grundsätzlich: Ihr redet von Freiheit, aber ihr könnt mit ihr gar nichts anfangen. Es ist zu vermuten, dass sie von der sexuellen Befreiung redet, wobei angemerkt werden sollte, dass diese Befreiung auch zu einer Art Sklaverei führen kann. Sie macht ihrer Verzweiflung Luft, dass sie in diesem Land offenbar nicht die richtigen Männer kennenlernt. In Moskau sei das anders gewesen. Sie geht zu dem Fenster, das sich in den Lichtschacht öffnet, fuchtelt mit einer Drahtbürste. Sie entblößt ihre in der Tat wunderschöne Brust: Wollt ihr das? Oh nein, du natürlich nicht. Du bist so eine Art Heiliger, der sich für Madonnen interessiert. Außerdem kleide er sich miserabel. Ob er wisse, was ein langweiliger Typ sei? Jemand mit dem man lieber schläft, als ihm erklären zu müssen, warum man das nicht will. Andrej versucht sie zur Vernunft zu bringen: Eugenia, was redest du? Sie fleht ihn an: ich habe mich in einer sehr peinlichen Situation befunden. Sie geht durch den Raum, schleudert die Bürste von sich, irgendetwas zerbricht. Als sie in der Tür des Badezimmers steht, fällt eine Besonderheit ihrer aktuellen Garderobe auf: über einem ziemlich kurzen Rock trägt sie einen langen aber transparenten Seidenrock, was seinerzeit wahrscheinlich als raffiniert galt. Tarkowskij sah darin vermutlich wenig würdige Locksignale.

Dann erzählt sie die Schreckensvision, die sie hatte in der Nacht, nachdem sie ihn kennengelernt hatte: ein Wurm mit vielen klebrigen Beinchen sei ihr auf den Kopf gefallen. Sie haben ihn zu Boden geschleudert und versucht zu zertreten, was ihr aber nicht gelungen sei. Er sei unter den Schrank gekrochen. Seither fühle sie immer den Zwang ihr Haar zu berühren6. Die Vision eines Wurmes scheint eine Art Projektion zu sein. (Hier sind Psychologen gefragt.) Zum Glück sei es zwischen ihnen nicht zu Intimitäten gekommen, allein beim Gedanken daran, müsse sie sich übergeben. (Während ihrer Tirade hört man übrigens beständig das Waschbecken gluckern.) Er sagt auf russisch, dass sie übergeschnappt sei und verlässt das Zimmer. Sie folgt ihm und behauptet, er sei ein Schwein wie alle anderen und hätte um ein Haar seine Frau betrogen. Sie tritt nah an ihn heran: Heuchler! Als sie sich abwendet, um zu gehen, schlägt er ihr auf den Allerwertesten. Sofort hat er Nasenbluten, was mich an einen bekannten Ausspruch Mahatma Gandhis erinnert: „Du und ich – wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.“

Bedauerlicherweise hat bislang niemand es unternommen, diesen Ausbruch Eugenias genauer zu untersuchen. Kommentare sind bislang nicht weiter gediehen als zu behaupten, Eugenia sei in Andrej verliebt und enttäuscht, weil von ihm keine Antwort kommt. Ich bin mir da nicht so sicher. Mir scheint auch möglich, dass sie eine Art Trophäenjägerin ist, die sich gerne die Skalps mehr oder minder interessanter Männer an den Gürtel hängt. Ihre Wut hätte dann mehr mit verletzter Eitelkeit zu tun. Man glaubt gerne, dass sie bislang bei ihren Beutezügen erfolgreich war. Deshalb ist sie so aufgebracht über Andrej, der nicht ganz bei der Sache ist.

Es gibt aufschlussreiche Dokumentaraufnahmen von den Dreharbeiten zu dieser Szene, in denen Tarkowskij mit großem Nachdruck von der Schauspielerin fordert, sie dürfe nicht als Opfer erscheinen, auf keinen Fall dürfe sie in Tränen ausbrechen.

Der glatzköpfige General mit einem Enkelkind auf dem Arm war im Flur Zeuge der Tätlichkeit geworden und hatte sich fluchtartig ins obere Stockwerk verzogen mit der Ankündigung, dass sie nun Musik hören zu wollen. Die befremdlichen Klänge des chinesischen Gesangs tragen zu einer heimatlosen Atmosphäre bei. Eine schlanke ältere Dame mit Cockerspaniel und extravagantem Schlapphut, die schon einmal als Hotelgast begegnete, trippelt vorbei und schwört, den chinesischen Gesang kommentierend, sie werde sich nicht aus dem Hotel ekeln lassen. Eine der seltenen humoristischen Einlagen im Film. Andrej hat sich, um sein Nasenbluten zu stoppen auf eine Holzbank im Flur ausgestreckt – ein sprechendes Bild seiner Ortlosigkeit.

Eugenia taucht wieder auf, mit zwei Reisetaschen, das Haar in einer Wollmütze versteckt und offenkundig bereit zur Abreise. Zuvor aber liest sie den Brief des russischen Komponisten, den ihr Andrej anfangs zugesteckt hatte mit der Empfehlung: dann würde sie verstehen.

Dieser Brief ist in der Tat ein eindrucksvolles Stück Literatur. Sosnofskij schreibt einem Freund und schildert einen furchtbaren Traum. Er war von seinem Herrn beauftragt worden eine bei einer Aufführung im Freien mitzuwirken, zu der es gehörte, dass die Komparsen nackt und weiß bemalt als Statuen bewegungslos mit erhobenen Armen in der Kälte stehen mussten. Der Herr ging umher, um sich mit unbestechlichem Auge davon zu überzeugen, dass seine Anweisung befolgt wurde. Er fühlte, wie die Kälte in ihm aufstieg, wie die Kräfte nachließen als er aufwachte und feststellen musste, dass das kein Traum war, sondern die Realität seines Lebens. Man zögert, die äußerst beklemmende Atmosphäre dieses Traumes kafkaesk zu nennen. Nach dem Spiegel war Tarkowskij angetragen worden, einen Film über Kafka zu realisieren. Sein letzter Kommentar zum Thema Kafka findet sich in seinen Tagebüchern am 25. 9. 1976: „Kafka sagt mir nichts.“ Eher wäre ich versucht an Michel Foucault zu denken, dessen Surveiller et Punir 1975 herausgekommen ist. Eine polemische Schreckensvision, die heute kaum noch jemand für bare Münze nimmt, aber die Möglichkeit der totalen Überwachung ist mittlerweile nicht aus der Welt, ganz im Gegenteil. Im Zusammenhang mit Foucaults Analyse der Segregation der Geisteskranken mag sein Name Tarkowskij zu Ohren gekommen sein. Im Register der sorgfältig edierten italienischen Version von Tarkowskijs Tagebüchern taucht Foucaults Name nicht auf.

Tagträume und Selbstmitteilungen Andrej Gortschakows

Als Gortschakow im Dunkel auf der Bank liegt, folgt die ausgedehnteste Szene aus seiner russischen Heimat. Seine Frau richtet sich im Bett auf, weil sie ihn ihren Namen „Maria“ nennen gehört hat, wobei das Metallgestell ihres Bettes vor ihrem Kinn einen wunderschönen konkaven Schwung zeigt. Sie steht auf, geht zum Fenster, zieht eine Gardine zur Seite, eine dort sitzende Taube schlägt mit den Flügeln, sie geht zur Tür, löst die Verriegelung. Die Tür öffnet den Blick auf die uns schon bekannte Flusslandschaft. Der kleine, blonde Sohn wartet draußen mit dem Hund und ist in eine viel zu große Jacke gehüllt, die vielleicht seinem Vater gehört; die große Schwester kommt im Nachthemd und schützt sich mit einem gestrickten Umhang vor der Kälte; die Schwiegermutter, ebenfalls im Nachthemd mit einem schweren Mantel darüber, schließt sich an. In der Ferne steht das fortwährend grasende weiße Pferd. Der Schäferhund zieht unruhig am Boden schnüffelnd seine Kreise, was mit der leise scheppernd herüber klingenden Unterhaltungsmusik zusammenstimmt. Vielleicht ein Touristendampfer auf der Wolga oder einem anderen Fluss? Man hört die klagende Stimme eines wohl eher kaukasischen als russischen Sängers. Diese scheppernde Musik weckt bei mir Kindheitserinnerungen an Jahrmärkte, wo die von ferne herüberklingende Musik freudige Erwartungen hervorrief, die sich dann in der Nähe in Enttäuschungen verwandelten.

Sie stehen in der Morgendämmerung und scheinen auf etwas zu warten. In der langsamen Kamerabewegung erscheint die ganze Gruppe ein zweites Mal. Dann hört man ein Schiffshorn und die Sonne geht über dem Haus auf. Die Gesichter sind von schmerzlicher Sehnsucht gezeichnet. Sie scheinen die Rückkehr von Andrej zu erwarten und zugleich gewinnt man den Eindruck, dass auf eine Rückkunft im religiösen Sinne angespielt wird. Wenn es die Sonne ist, die aufgeht, dann richten sie ihre Blicke nach Osten. Es schien zumindest zu Dostojewskijs Zeiten sozusagen Teil von Russlands religiöser Folklore gewesen zu sein, dass die Wiederkunft Christi in Russland erwartet wurde. Das sind Dinge, die im Westen im Allgemeinen wenig bekannt sind. In seinem Buch Die versiegelte Zeit führt Tarkowskij ein Gespräch zwischen Stawrogin und Schatow aus Dostojewskijs Dämonen an, um zu zeigen, eine wie unstet flackernde Flamme der Glaube bei Dostojewskij ist: « „ ‚Ich möchte nur erfahren, ob Sie selbst an Gott glauben oder nicht.‘ Nikolaj Wsewolodowitsch blickte ihn streng an. ‚Ich glaube an Russland und seine Rechtgläubigkeit… Ich glaube an Christi Leib… Ich glaube, dass seine Wiederkunft in Russland stattfinden wird… Ich glaube‘ stammelte Schatow ganz außer sich.’Und an Gott? An Gott?‘ ‚Ich … Ich werde an Gott glauben.’“ Was ist dem noch hinzuzufügen? Auf geradezu geniale Weise wurde hier jener verwirrte Seelenzustand eingefangen, jene geistige Verarmung und Unzulänglichkeit, die immer mehr zum unverbrüchlichen Merkmal des modernen Menschen wird, den man als geistig impotent bezeichnen kann.7»

Übrigens hat Tarkowskij eine erste Skizze dieser Szene schon im September 1976 in seinen Tagebüchern aufgezeichnet: „Wir sind um elf Uhr dreißig nachts auf die Wiese gegangen und haben uns den Mond im Nebel angesehen (ich, Larissa, Anna Semjonowna und Olga). Es war ein unbeschreiblich schöner Anblick! Episode: Einige Menschen betrachten verzückt den Mond im Nebel. Sie stehen und schweigen. Sie bewegen sich hin und her. Entzücken in ihren Gesichtern. Alle tragen den gleichen Ausdruck in ihrem Antlitz. Es liegt fast Schmerz in ihren Augen.“ (15. September 1976)

Der weitere Verlauf des Films ist insofern etwas rätselhaft, weil Gortschakow noch einmal kurz auf der Bank im Hotel gezeigt wird, der zunächst in die Richtung des Korridors und der an dessen Ende stehenden Skulptur schaut und dann in unsere Richtung, und dann sehen wir einen Mamorengel unter lebhaft strömenden, klaren Wasser: ein Flügel in der Art des römischen Barocks der Schule Berninis. Sein Gesicht ist von Pflanzen überdeckt. Außerdem wird nur sein erhobener rechter Arm noch sichtbar. Man hört planschende Schritte in dem Bach und schmutziges Wasser wird von oben herangetragen. Man findet bei Tarkowskijs Polaroidaufnahmen einen ähnlichen Engel, dessen Kopf mit einem Handtuch verhüllt ist. Offenbar war ein Engel für ihn nur in teilweiser Entzogenheit akzeptabel. In einem der Erinnerungsfetzen sah Gortschakow einen Engel vor seiner russischen Izba, aber eben auch in einiger Undeutlichkeit. Das der Engel im Wasser liegt lässt das Bild sehr filmisch werden aufgrund der fluktuierenden Bewegung, was dem Wesen des Barock entgegen kommt, das sich auch in diesem Flügel und seiner potentiellen Dynamisierung zeigt. Außerdem bringt das trüb verschmutzte Wasser das Motiv der Reinheit und deren Verlust ins Spiel.

Wir sehen Gortschakow von hinten, der bis über die Knie tief im Wasser watet, das Buch mit den Gedichten von Arsenij Tarkowskij auf dem Rücken hält und sich einer verfallenen kleinen Kirche nähert, bei der nur der Eingang mit einem massiven Dreiecksgiebel ihre einstige Würde verrät. Er scheint ein Gedicht zu rezitieren, in Wahrheit hören wir Arsenij Tarkowskij, den Vater des Regisseurs im O-ton. Einerseits murmelt er, um dann aber seine Stimme zu pathetischem Donnern zu erheben. Er spricht selbstverständlich russisch und wir können den Inhalt des Gedichtes, nur den Untertiteln entnehmen. Es ist nicht zum ersten Mal, dass der Regisseur Gedichte seines Vaters in seine Filme integriert. In Spiegel (1976) waren es vier Gedichte und er konnte seinen Vater dafür gewinnen, sie teils selbst zu rezitieren. Auch in Stalker (1979) hat eines der Gedichte des Vaters einen wichtigen Part. Von Nostalghia ließe sich behaupten, dass der Film insgesamt wie ein modernes Gedicht komponiert ist, nur eben von monumentalen Dimensionen. Was Baudelaire „correspondances“ nannte, hieß bei Tarkowskij Korrelationen und spielt eine wichtige Rolle. So stellt sich auch die Frage, wie dieses Gedicht in den Film hinein verwoben ist. Das Gedicht beginnt:

Als Kind wurde ich krank

von Hunger und Angst

Ich ziehe Stücke der Haut von meinen Lippen

In meiner Erinnerung

lecke ich Spuren von Salz, von Frische

Ein Kind erfuhr Krankheit und zwar von Hunger und Angst, also keine ganz harmlosen Bedrohungen. Außerdem fällt das beständige Schwanken zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Dass von den Lippen, vom Geschmack von Salz und Frische die Rede ist, lässt an den kleinen Jungen denken, der zum Vater aufblickt und fragt: „Papa, ist das das Ende der Welt?“ Dieser Junge hat Herpes am Mundwinkel. Das Herpes zu einer Aussage werden kann, hat man schon im Spiegel gesehen. Das Mädchen, das von Tarkowskijs Stieftochter Olga gespielt wurde, hatte Herpes und das wurde in Beziehung gesetzt zu einem Kaminfeuer, was an das Bibelwort bei den Propheten denken lässt, wo mit einer glühenden Kohle die Lippen rein gemacht werden. Im weiteren wankt er voran und hat den Eindruck der Flöte des Rattenfängers zu folgen. Doch dann ertönen Trompeten, was wiederum an die Apokalypse und das Schiffshorn denken lässt, das ertönte, als über der russischen Heimat die Sonne aufging. Die Ambivalenz lockender Signale hat der Sohn geerbt: in seinem letzten Film Offret wird erst am Ende klar, dass die sirenenhaften Lockrufe der schwedischen Hirtinnen sammeln und nicht zerstreuen. Am Ende des Gedichtes taucht die Mutter auf, hoch oben fliegend, sie winkt und verschwindet, was herzzerreißend ist. Im Film findet sich ganz am Ende die federleichte Andeutung einer Mutterbeziehung und vor allem der finale Schriftzug, dass der Film der Mutter gewidmet ist, die schon im Oktober 1979 gestorben ist.

Mittlerweile sind wir im Inneren der verfallenen Kirche, was der Stimme des Dichters einen ganz anderen Hall gibt. In Maueröffnungen am Rande des Blickfeldes taucht huschend – fast wie ein Äffchen – eine Kindergestalt auf. Schwer zu sagen, was das auf der Ebene der Suggestionen leistet.

Es folgt ein filmisch bewegtes Stillleben: ein kleines Feuer vor den das Sonnenlicht reflektierenden

Wellen des Wassers, so dass Flammen und Lichtreflexe ineinander spielen. Ein Buch, wohl das der Gedichte, wird von Gortschakow daneben geworfen. Außerdem steht da eine Flasche Wodka mit einem Plastikbecher, was mich an eine erheiternde Passage aus Tarkowskijs Tagebüchern erinnert. Im Zusammenhang der Polemik gegen den Film Stalker kam es zu folgendem Wortwechsel: „ ‚Weshalb das Wort Wodka verwenden? Es ist zu russisch. Wodka ist ein Symbol für Russland.‘ Darauf ich: ‚Ein Symbol Russlands? Was reden Sie da, Boris Wladimirowitsch! Stehe Gott Ihnen bei…‘ Ist das nicht ein Idiot?“ (13. 4. 1979) Durch die Nachbarschaft zum Feuer bebt und schwankt der Becher, kippt um. Gortschakow gießt Wodka hinein und so gewinnt der Becher Standfestigkeit. Ich fragte meine oberschlesische Großmutter, die Bildhauerin Grete Tschaplowitz-Seifert, einmal, warum die Russen so viel trinken. Ihre Antwort überraschte mich: „Wahrscheinlich ist es das furchtbare Temperament.“ Ich hätte mir eine Antwort erwartet wie: Weil das Leben so traurig ist oder ähnliches. Tarkowskij hat das „furchtbare Temperament“ mit diesem Bild genial eingefangen: der Becher bebt in der Nähe des Feuers. Der Regisseur hatte für die Rolle Gortschakows ursprünglich seinen Lieblingsschauspieler Anatolij Solonizyn vorgesehen, doch erlag der, kurz bevor die Dreharbeiten begannen, einem Krebsleiden. An ihm bewunderte Tarkowskij unter anderem die „flackernden Hände“, eine Qualität, die Jankowskij nicht hatte, und die jetzt auf dem Umweg über den Plastikbecher dennoch indirekt vermittelt wurde. Gortschakow watet in das Wasser, das das Innere des Kirchleins erfüllt. Es sieht dort wie in einer wirklichen Sumpflandschaft aus. Er murmelt vor sich hin, dass er eine Jacke abholen muss, die er drei Jahre bei seinem Vater im Schrank hängen ließ. Er will nirgendwo hingehen, ist einfach nur mutlos. Dann entdeckt er ein kleines Mädchen, das hinter ihm auf einem erhöhten Mauersims sitzt, beleuchtet von wandernden kalten Lichtreflexen, deren Herkunft unklar ist.

Gortschakow ist schon schwer angetrunken und man mag sich wundern, warum der Regisseur hier so bereitwillig Superklischees bedient: ein volltrunkener Russe, der durch einen Sumpf wankt. Vielleicht weil Klischees oft ein Körnchen Wahrheit enthalten. Wenn man sich mit einer gewissen Schonungslosigkeit zu solchen Klischees bekennt, hat das möglicherweise auch etwas Befreiendes, vielleicht sogar der Kommunikation Förderliches.

Er spricht das Mädchen in seinem gebrochenen Italienisch an, das unter Alkoholeinfluss nicht besser wird: Du musst keine Angst haben vor mir, ich muss Angst haben vor dir. Alle schießen hier in Italien. Das spiegelt die Zeit der Brigate Rosse in Italien wieder, deren Terrorakte noch lebhaft in Erinnerung waren. In der Zwischenzeit hat Russland in den 90er Jahren eine Phase großer Gesetzlosigkeit und wilder Mafia-aktivitäten erlebt. Dann kommt Gortschakow auf eine Spezialität Italiens zu sprechen: die Schuhe, die so wichtig sind und die alle kaufen. Er hebt seinen Fuß aus dem Wasser: hier diese Schuhe sind zehn Jahre alt. Das ist nicht wichtig. Eine Szene, die ich humorig finde für alle, die bei Tarkowskij über fehlenden Humor klagen. Eine kritische Anmerkung aus der Perspektive der sozialistischen Planwirtschaft an den exzessiven Konsumangeboten des Kapitalismus.

Dann fragt er das Mädchen, ob es die großen Liebesgeschichten kenne: keine Küsse, nichts dergleichen, ganz rein. Die Gefühle, die nicht zum Ausdruck gebracht werden, vergisst man nicht. Hier ist manches rätselhaft. Da ist zum Einen die ablehnende Antwort auf die lateinische Extraversion Eugenias, die zu Beginn des Films lauthals verkündete, dass sie geweint habe, als sie die Madonna del Parto zum ersten Mal gesehen habe.- Aber die großen Liebesgeschichten wie etwa Anna Karenina habe ich nicht als so platonisch in Erinnerung wie es hier behauptet wird. Auch war Tarkowskij nach allem, was man weiß, nicht ein solcher Tugendbold, dass er diese Position mit Autorität hätte vertreten können. Allein, dass er die Sehnsucht nach Reinheit zum Ausdruck brachte, machte ihn im Westeuropa des ausgehenden 20. Jahrhundert zu einem Alien.

In den Worten Domenicos bei seiner Rede auf dem Campidoglio geht es um ein Festhalten an Idealen: „Jemand muss schreien, dass wir Pyramiden bauen werden, es ist unwichtig, wenn wir sie dann nicht bauen. Man muss den Wunsch danach wachhalten!“

Außerdem erzählt er dem Mädchen eine Art Witz auf russisch, weil ihm das leichter fällt. Ein Mann liegt in einer Sumpfpfütze. Ein anderer zerrt ihn unter Aufbietung all seiner Kräfte da raus. Dann liegen beide erschöpft am Rande dieses Sumpfes und der „Gerettete“ schimpft: „Du Idiot! Warum hast du das gemacht? Ich lebe da!“ Er war sehr beleidigt, schiebt Gortschakow nach. Zum ersten Mal sehen wir ihn ausgiebiger lachen. Von vorneherein war die Kommunikationssituation hier asymmetrisch: das kleine Mädchen konnte nicht verstehen, was ihr der Russe sagen wollte. Nun, da er russisch spricht, ist es ganz aus damit. Es geht um den Wunsch nach Mitteilung, den er anders nicht ausleben kann.

Er fragt sie: „Wie heißt du?“ „Angela.“ Davon ist er erbaut: „Angela! Brava! Bist du zufrieden?“ „Womit?“ „Mit dem Leben!“ „Mit dem Leben? Ja.“ Sie schlägt ein Bein über das andere. Er wiederholt: Brava! Im gleichen Moment löst sich in seinem Mund der Filter von der Zigarette. Mit kaum merklichen Suggestionen wird uns vermittelt, dass leider die Unschuld der kleinen Angela unterminiert ist. „La vita – Das Leben“ ist unter anderem auch ein Synonym für Prostitution im Italienischen. Das Ablösen des Zigarettenfilters ist ein Bild dafür, dass jemand versucht sich zu beruhigen, eben wie der Filter den Raucher hinsichtlich der Gefahr des Rauchens beschwichtigen soll. Der Name des Mädchens lässt an die im Wasser versunkene Engelsstatue am Eingang dieser Szene denken und die dunkle Schmutzwolke, die sie überzieht, daran, dass Zweideutigkeit und Verdorbenheit auch in die Welt der Kinder eindringen. Dass ist eine Kritik an den Errungenschaften der westlichen Zivilisation, die tiefer dringt als die von Gortschakow verbal geäußerte. Die Umweltverschmutzung gibt es auch als geistige.

Sie wirft ein Steinchen ins Wasser, was ein Zitat aus dem Stalker ist, als die drei Protagonisten in einer unvollendeten Trinität vor dem innersten Raum der Zone sitzen. Wir hören nun ein weiteres Gedicht Arsenij Tarkowskijs, aber nicht mit dessen Stimme, sondern von einem Sprecher in italienischer Übersetzung. Wiederum sehr rätselhaft, stellt es Anspielungen dar nicht zu Vorangegangenem im Film, sondern zum Finale. Wir kommen darauf zurück. Das Gedicht endet mit: „posthum als Feuer sich entzünden wie ein Wort.“ Wir sehen Andrej ausgestreckt am Rand des Wassers, neben seinem Haupt liegt das geöffnete Buch der Gedichte, das zu brennen begonnen hat. Die Flammen mischen sich wieder mit den Lichtreflexen der Sonne auf dem Wasser, die sich von rechts, also vom Kopf Andrejs nach links zu dem Buch bewegen und auch von oben nach unten, als hätten die Lichtreflexe das Buch entzündet. Es ist von Tarkowskijs besonderem Verhältnis zu den Elementen gesprochen worden, insbesondere zu Wasser und Feuer. Dass Feuer cinematographisch etwas hermacht, hat sich auch bei anderen Regisseuren herumgesprochen, aber kaum je lässt sich beim Umgang anderer Regisseure mit Feuer die meditative Dimension ausmachen, die sich bei Tarkowskij findet. Man muss sich einmal klar machen, was es heißt, dass er als junger Mann ein ganzes Jahr mit einer geologischen Equipe in der sibirischen Taiga war, d.h. über viele Monate war sein einziges „Kino“ das allabendliche Lagerfeuer.

Das nächste Bild zeigt eine eher enge (römische) Gasse mit Kopfsteinpflaster, die zu diesem Zeitpunkt menschenleer ist, wenn man von Andrej absieht. Zwar ist nicht Nacht, aber die Sonne glänzt durch Abwesenheit. Die Szene ist in dunkle Sepiatöne getaucht und es herrscht ein surrealer Grad der Verwahrlosung: das Pflaster ist übersät mit Stoff und Papierfetzen. Hinten in der Gasse erhebt sich mühsam Andrej und kommt mit langsamen Schritten nach vorn. Man hört nur seine Schritte und im Hintergrund das Leitmotiv, das „Memento mori“ der Kreissäge. An der Seite liegt eine Schrankschublade, aus der Textilien quellen. Dann geht er an einem Schrank vorbei, kehrt um und beginnt ein Selbstgespräch, in dem er sich die Erfahrung Domenicos zu eigen macht, die eigene Familie jahrelang eingesperrt zu haben. Wie konnte ich sie des Sonnenlichts berauben? Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Tarkowskij hier auf die Situation der Sowjetunion anspielt, die ihre Menschen nicht für sieben Jahre, sondern für sieben Jahrzehnte eingesperrt hat, um sie vor den verderblichen Einflüssen des Kapitalismus zu bewahren. Gortschakow tritt an den Schrank, ergreift die mit einem großen Spiegel versehene Schranktür, um sie langsam zu öffnen. Domenico, nicht mit seiner Mütze, sondern mit Locken erscheint als sein Spiegelbild. Was es mit dem Motiv des Schrankes auf sich hat, ist eine offene Frage: Als Eugenia in ihrem Traum den Wurm zertreten will, verschwindet der unter dem Schrank. Im Schrank beim Vater hängt seit drei Jahren eine Jacke, die Andrej abholen sollte. Und hier erscheint im Spiegel der Schranktür Domenico, nicht mit Mütze, sondern mit dem grauen Lockenkopf, den man auf den Erinnerungsbildern von der Befreiung aus der Isolation sieht. Vor der Öffnung der Schranktür sehen wir recht lange Andrej von hinten und er erinnert in dieser Aufnahme an einen Schrank, er wird also mit dem Schrank identifiziert. (Am Beginn von Stalker gab es ähnliche Aufnahmen.)

Andrej schließt die Schranktür rasch, er lehnt am Schrank. Damit schließt die Szene und geht unvermittelt zu einer langsam wandernden Aufnahme der Kirchenruine San Galgano über, einer Zisterzienserabtei, der im 18. Jahrhundert die Blechdächer zum Verkauf abgenommen wurden. Wieder ein Zeugnis christlicher Vergangenheit, dieses Mal grandios, monumental. Die Gewölbe sind eingestürzt, die Grundmauern der in Italien ungewöhnlichen Zisterzienserarchitektur sind jedoch stehen geblieben. Andrej geht von links nach rechts über die Grasnarbe quer zur Richtung der Kirchenschiffe durch die Ruine und wir hören im Hintergrund neben dem kurzen, klagend-melodiösen Ruf einer Männerstimme die Stimme einer Vorbeterin, vielleicht ein Kind, vielleicht eine Frau, die mit übertrieben leiernder, gedehnter, gewissermaßen immer wieder durchhängender Intonation das bekannteste italienische Morgen-und Abendgebet rezitiert: „Ich bete Dich an, mein Gott“. Aus dem OFF hören wir dann eine Frauenstimme: Herr, siehst Du nicht wie er nach Dir fragt? Sag etwas zu ihm.“Eine Männerstimme antwortet: „Stell Dir vor, was passieren würde, wenn er meine Stimme hört.“ Lass ihn Deine Gegenwart fühlen.“ „Ich lasse sie ihn immer fühlen. Er ist es, der sie nicht bemerkt.“ Jetzt hört man vereinzelt quietschende Kinderstimmen und das Flattern von Vogelflügeln, während Andrej in einiger Entfernung im Dunkel des rechten Seitenschiffs steht.

Schon 1978 hatte Tarkowskij in seinen Tagebüchern einen ähnlichen Kurzdialog festgehalten: (11. April 1978) DER RUFENDE IN DER WÜSTE. Eine Wüste. Die Stimme eines Menchen: „Gott! Gott! (immer wieder) So antworte mir doch!“ Die Kamera nähert sich dem Portal mit einer angelehnten Tür. Von innen vernimmt man Flüstern: 1. Stimme: „Antworte ihm! Ruf ihn zu Dir! Sieh doch wie er leidet!“ Er: „Wie soll ich ihm denn antworten? Was wird er denken? Wird er denn glauben, dass ich Gott bin? Ich darf ihm mein Interesse nicht bekunden.“ Soll die rufende Männerstimme im Film an den „Rufer in der Wüste“ erinnern?

Durch das offene Dach nun wieder der kleinen Kirche sinkt trudelnd eine weiße Feder herab und senkt sich auf das Wasser, dessen flacher Grund von Schutt bedeckt ist; vielleicht ein Bild für die Schwierigkeit Gottes mit dem Menschen zu kommunizieren. Wieder sehen wir Andrej am Rand des Wassers liegen, in der Zwischenzeit ist das Buch ganz verkohlt. Diese Einstellung schafft eine Klammer: die Bilder in der Gasse und in der Abtei waren also Erinnerungen.

Der spektakuläre Auftritt Domenicos in Rom und die unspektakuläre Parallele

Eine Luftaufnahme Roms, das man an der Kuppel der Peterskirche erkennt, in der Abenddämmerung weht eine rote Flagge mit dem Malteserkreuz, im Hintergrund hört man das Geräusch von Flugzeugen. Schnitt: Gortschakow steht auf der Rückseite eines Hotels, zu seinen beiden Seiten Taschen: links ein schwarzer Koffer, rechts Tragetaschen, wie man sie bei Einkäufen in Geschäften bekommt in verschiedener Größe. Ein junger Mann kommt, um zu sagen, dass er in zehn Minuten bereit sei zum Flughafen zu fahren. Ein Hotelangestellter folgt ihm auf dem Fuße mit der Nachricht, für Signor Gortschakow gebe es einen Anfruf. Gortschakow bittet den Chauffeur noch einen Moment zu warten. Jetzt sehen wir Eugenia, die anruft, im Profil mit hochgestecktem Haar. Das böse Blut bei ihrem Abschied in Bagno Vignoni scheint vergessen. Sie erzählt ihm, dass sie ihn von Domenico grüßen soll, der seit drei Tagen Reden hält „wie Fidel Castro“. Domenico möchte wissen, ob er, Andrej gemacht habe, was sie vereinbart hätten. Er lügt: ja, ja. Sie erfährt von ihm, dass er es nicht mehr aushält, er keine Kraft mehr hat und er nach Russland zurückfliegen will. Sie sagt, auch sie wolle zusammen mit ihrem Mann verreisen, wahrscheinlich nach Indien. Ihr Mann Vittorio interessiere sich für spirituelle Fragen und entstamme einer bekannten Familie aus Orvieto. Während des Gespräches haben wir Gelegenheit, Vittorio aus einiger Entfernung an seinem Schreibtisch zu beobachten. Er nimmt eine Zigarette, isst aber gleichzeitig eine Kleinigkeit. Hinter ihm steht wartend eine Frau, dann auch ein junger Mann, offenbar Bittsteller. Ohne sich umzudrehen, schlägt er die weiße Tischdecke zurück, worauf der Mann dort eine „bustarella“ ablegt, einen Briefumschlag vermutlich mit Geldscheinen, den Vittorio mit dem Tischtuch zudeckt. Als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, wurde mir von einem Italiener diese Szene erklärt. Im italienischen Kontext ist sonnenklar, dass es sich um ein Schmiergeld handelte. Mit provokanter Knappheit wurde so die Korruption denunziert, von der erst zehn Jahre später ans Tageslicht kam, wie allgegenwärtig sie war, was zum Untergang der sogenannten „Ersten Republik“ in Italien führte.

Eugenia murmelt nach einigem Zögern, sie gehe Zigaretten kaufen und erhebt sich. Hier spielt Tarkowskij offenbar mit dem Gemeinplatz, dass diese Formel einen endgültigen Abschied bedeuten kann. Zumal sie das nicht sehr beiläufig sagt, sondern eher bedeutungsschwer, gefolgt von ihrem gleichfalls akzentuierten Sich-Erheben und ihrem sich dann entlang einem langen Gang Entfernen. Jetzt sehen wir noch eine Nahaufnahme von Vittorio, der eine Gabel mit einem Stück Fleisch zum Mund führt. Sein stumpfer und leerer Gesichtsausdruck trägt kaum dazu bei, die Behauptung, er interessiere sich für spirituelle Fragen, glaubhaft erscheinen zu lassen. Die Szene spielt in einem altehrwürdigen Palast mit dreibogigem Fenster hinter Vittorios Schreibtisch. Da die Dreizahl auch bei den lichtdurchfluteten Fensteröffnungen der Abtei San Galgano auffällig war, gewinnt man den Eindruck, dass Zeichen des Christlichen wie etwa hier der Verweis auf die Trinität in Italien allgegenwärtig sind. (Auch wenn die Dreizahl schon vor dem Christentum in der Architektur der Antike wichtig war.) Die Luftaufnahme von Rom zeigt eine Flagge mit Kreuz und dahinter eine Kuppel, die von einem Kreuz bekrönt wird. Im Übrigen blättert von den Wänden der Putz. Offenbar mussten für Tarkowskij Wände Spuren der Zeit zeigen.

Andrej sagt seinem Chauffeur, dass er den Abflug um zwei Tage verschieben und nach Bagno Vignoni fahren möchte. Der junge Mann kommentiert, er habe gewusst, dass Gortschakow nicht heute abreisen würde. Während er von der Hotellobby aus die Umbuchung unternimmt geht Andrej die lange Achse der Unterführungen auf uns zu. Ein ähnlich langer Weg wie der Eugenias nur in umgekehrter Richtung. Er greift sich ans Herz und lässt eine eben erst angezündete Zigarette fallen. Es geht ihm offensichtlich nicht gut. Sein plötzlicher Sinneswandel hat offenbar einzig mit Loyalität gegenüber Domenico zu tun, die ihn dazu führt eine Handlungsanweisung auszuführen, die ihm so abstrus erschienen war, dass er sie schon wieder vergessen hatte. Aber er schätzt den sonderbaren Mann so sehr und fühlt sich so sehr mit ihm verbunden, dass er sich dennoch verpflichtet fühlt, den absurden Auftrag zu erfüllen.

Schnitt und wir sehen Köpfe in Nahaufnahme, das Gesicht eines mutmaßlich von Krankheit gezeichneten älteren Mannes und direkt neben ihm ein anderer von hinten, Kaugummi kauend; eine jüngere Frau, vermutlich auch krank, nähert sich von hinten. Die Kamera schwenkt langsam nach links und zeigt weitere Menschen, die offenkundig psychisch krank sind. So weit ich weiß, sind die Hintergründe der Dreharbeiten zu diesem Film nirgends dokumentiert. Dem Augenschein nach sind die ersten Statisten, die Tarkowskij hier zeigt, wirklich psychisch Leidende. Auch die Tatsache, dass eine so bedeutende Lokalität wie das Campidoglio zum Schauplatz einer der wichtigsten Szenen des Filmes gemacht werden konnte ist ein besonderer Glücksfall, der mit den relativ guten Beziehungen der Sowjetunion zu Italien zu tun gehabt haben wird und damit, dass der damalige Bürgermeister Roms Kommunist war. Den ironischen Seitenhieb auf die endlosen Reden Fidel Castros, eines der einsamen Bannerträger des Kommunismus im Westen, wird man Tarkowskij nachgesehen haben.

Nun ist die Rede Domenicos an der Oberfläche alles andere als politisch. Was wir zunächst hören ist eine Klage über sein persönliches Leiden, seine Zerrissenheit. Bei aller Tragik hat sein Auftritt auch etwas Lächerliches. Domenicos Namenspatron hat den Predigerorden, den Ordo Praedicatorum gegründet und so würde man hoffen, dass er diesem Vorbild mit seinem Sermon etwas Ehre machen würde, doch ist der leider hochgradig verwirrt. „Welcher meiner Vorfahren spricht aus mir? Ich kann nicht zugleich in meinem Kopf und in meinem Körper leben.“ Neben dem zermarterten Gesicht eines Kranken mittleren Alters erscheint ein schwarzweißes Poster an einem Pilaster, das einen Artikel mit dem Titel „Irrenhäuser“ und einen von Schriftzügen gespaltenen Kopf zeigt. „Deshalb gelingt es mir nicht, nur eine einzige Person zu sein. Ich bin fähig, mich als eine Unendlichkeit verschiedener Dinge zu fühlen. Das wahre Übel unserer Zeit ist, dass es die großen Meister nicht mehr gibt. Der Weg unseres Herzens ist von Schatten bedeckt.“ Eine hagere Frau, seltsam gekleidet, lehnt neben dem Pilaster mit dem Poster. Später, während der dramatischeren Entwicklung vor ihren Augen, konzentriert sie sich auf einen kleinen Handspiegel, um ihr Make-up nachzuziehen. Ein Kranker mit hängendem Kopf dreht sich ruckweise, unterbrochen von völligem Stillstand, um die eigene Achse. Rechts von ihm ein schon damals altertümliches Tonbandgerät, links von ihm ein Ständer mit Mikrofon. Daneben ein älterer Herr, der hinter einem mit Zeitungen und einer Hupe (!) bepackten Tischchen sitzt, das zudem mit Zeitungsartikeln behangen zu sein scheint. Links neben ihm steht ein Megafon. Das deutet auf Menschen mit ungehörten Botschaften hin. Ostentativ missmutig kehrt ein Mann der Szene den Rücken, der eine ähnliche Strickmütze wie Domenico trägt, nur erinnert er mit Bart und Brille eher an Lucio Dalla, freilich sehr in die Länge gezogen. Bei den vertikalen, breiten, rotbraunen Streifen auf seiner hellen Hose bleibt unklar, ob es sich dabei um ein fashion statement oder eine Schlafanzughose handelt. In dieser Versammlung findet sich auch Zoé, Domenicos Schäferhund, neben ihm lehnt eine kleine dickliche Frau, die sich Militärdecken als Rock umgebunden hat und einen Schutzhelm trägt. Dann eine andere dickliche Frau, deren Kleidung etwas weniger auffällig ist. An ihr fallen ihr unmotiviertes Lächeln und ihre Mauseschwänzchen auf. „Man muss auf die Stimmen hören, die unnütz zu sein scheinen. In die Gehirne, die besetzt sind von den langen Röhren der Kanalisation, den Mauern der Schulen, dem Asphalt und den Formalitäten der Sozialhilfe soll das Summen der Insekten dringen. Unser aller Augen und Ohren müssen mit den Dingen angefüllt werden, die der Anfang eines großen Traumes sind. Jemand muss schreien, dass wir Pyramiden bauen werden. Es ist unwichtig, wenn wir sie dann nicht bauen. Man muss den Wunsch danach lebendig halten. Wir müssen die Seele nach allen Seiten auseinanderziehen, als wäre sie ein Betttuch, dehnbar bis in die Unendlichkeit.“

Mittlerweile ist die Kamerabewegung weiter nach links fortgeschritten und wir sehen eine große Freitreppe, was nach meinem Eindruck nicht den Gegebenheiten in Piazza di Campidoglio entspricht, sondern eher eine Hexerei von Tarkowskij und seiner Crew zu verdanken ist. Auf dieser Freitreppe stehen regungslos Statisten, soweit sich aus der Entfernung erkennen lässt, keine Kranken sondern sogenannte Normale, die meisten allein, einige in Zweiergruppen, mit großen Abständen untereinander. Ihr Stillstand hat etwas Surreales und erinnert an die Erstarrung der nackten Statisten im Alptraum Sosnofskijs. Eine Gestalt, die sich bewegt, ist eine Frau in langen Gewändern in schwarz und weiß, was vage an den Dominikanerorden erinnert. Sie steigt die Stufen hinab. Ein Mann kreuzt ihren Weg, der sich nach oben entfernt.

Das Summen von Insekten ist in diesem Film nirgends zu hören, aber ein Publikum, das diesem Regisseur zu folgen versucht, wird unfehlbar sehr hellhörig.

Dann sehen wir zum ersten Mal den Redner, seine Position ist in dieser Nahaufnahme vorläufig wenig klar. Über seinem Kopf spannt sich von links nach rechts ein Seil, an dem weiße, schwarz beschriftete Stofffetzen hängen, die wie an Ärmeln zusammengebunden sind.

„Wenn ihr wollt, dass die Welt vorangeht, müssen wir uns an den Händen halten. Wir müssen uns mischen, die sogenannten Gesunden und die sogenannten Kranken. Ehi, ihr Gesunden, was bedeutet eure Gesundheit?“ Jetzt wird deutlich, dass Domenico auf einem Gestell mit Metallröhren steht, mit dem die Reiterstatue des Marc Aurel eingerüstet ist. Vermutlich ist es ein schöner Zufall, dass zur Zeit der Dreharbeiten die restaurierungsbedürftige Plastik so eingerüstet war, dass Domenico da oben sicher stehen konnte. Direkt vor ihm wird der Kopf des Philosophenkaisers sichtbar. Bei seinem Appell an die Gesunden streckt seinen linken Arm nach vorn, wie Marc Aurel seinen rechten Arm vorstreckt.

„Die ganze Menschheit starrt in den Abgrund, in den wir alle stürzen werden. Die Freiheit nützt uns nichts, wenn ihr nicht den Mut habt, uns ins Gesicht zu schauen, mit uns zu essen, mit uns zu trinken, mit uns zu schlafen. Es sind gerade die sogenannten Gesunden, die die Welt an den Rand einer Katastrophe gebracht haben!“ Domenico zieht aus der Manteltasche Flugblätter, die er in die Luft schleudert. „Mensch, höre! In dir Wasser, Feuer und dann die Asche. Und die Knochen in der Asche. Die Knochen und die Asche.“ An diesen Knochen werden sich die Interpreten noch in Generationen die Zähne ausbeißen, was vermutlich Tarkowskijs Absicht war.

Die Kamera hat sich so weit rausgezoomt, dass wir jetzt die Schrift auf den hemdähnlichen Stofffetzen, die der Länge nach über den Platz gespannt sind, lesen können: NON SIAMO MATTI SIAMO SERI „Wir sind nicht verrückt, wir sind ernsthaft.“ Zu Füßen des Monuments marschiert ein Mann mit einem selbstgebastelten Plakat: Domattina è la fine del mondo – Morgen früh ist das Ende der Welt. Hier zeigt sich wieder einmal Tarkowskijs hintergründig-grimmiger Humor, denn das letzte o von mondo hat im Schriftzug dieser Zeile keinen Platz mehr gefunden und klettert in panischem Schrecken am Rand des Plakats hinauf.

Tarkowskij hatte schon am 20. April 1976 in seinen Tagebüchern (nur in der italienischen Fassung) mit Emphase eine Aussage Leo Tolstois aufgezeichnet: Man muss schreiben wie ein Yurodivy. Über die Tradition der heiligen Narren im alten Russland ist verschiedentlich geschrieben worden. Die Figur des Domenico wandelt auf den Spuren dieser heiligen Narren, bei denen auch nicht immer klar war, ob sie tatsächlich verrückt waren, oder sich nur verrückt stellten. Domenicos Rede fordert Größe der menschlichen Seele, sie soll unendlich ausgedehnt werden, er fordert große Träume, den Wunsch Pyramiden zu errichten, selbst wenn sie dann nicht errichtet werden, kurz das Streben nach Größe, im Gegensatz dazu aber auch das Lauschen auf das Summen der Insekten, auf die Stimmen, die unnütz scheinen. Ohne erkennbaren Zusammenhang damit fordert er auch die Verbrüderung der sogenannten Gesunden mit den sogenannten Kranken, den Mut den Kranken ins Gesicht zu sehen. Denn die Gesunden scheinen in der gegenwärtigen Lage mit ihrer Selbstgenügsamkeit nicht gut beraten, denn gerade sie haben die Menschheit an den Rand des Abgrunds gebracht.

Wir haben festgestellt, dass Tarkowskij Kunstwerke, die er in seine Filme integriert, dadurch ehrt, dass er sie kreativ weiterentwickelt, wie sich am Beispiel der Madonna del Parto zeigen ließ, bei der das Öffnen des Schoßes mit dem Öffnen des Zeltes vorgebildet wird und eben das Öffnen einer Art Zeltes bei der Statue die flatternden Vögel befreit. Dabei zeigt er das Fresko gar nicht so genau, dass wir die Entsprechung zwischen Öffnung des Zeltes und Schlitz im Gewand sehen: das müssen wir uns selbstständig erschließen.

Hier auf dem Kapitol greift Tarkowskij eine Qualität auf, die im Film ebenfalls kaum in Erscheinung tritt: das geniale, von Michelangelo entworfene weiße Muster auf dem Platz, das viel zu dessen suggestiver Wirkung beiträgt. Tarkowskij knüpft daran an, indem er nicht einfach ein Spruchband ausgerollt hat, sondern weiße Stofffetzen, die wie gesagt an Hemden erinnern, mit einander verbunden hat, so dass sie die Vorstellung von einem Netzwerk nahelegen, was sich mit dem formvollendeten Netzwerk Michelangelos verbindet, um sich dann potentiell, virtuell ins Unendliche fortzusetzen…

Szenenwechsel nach Bagno Vignoni, wo im Thermalbad das Wasser abgelassen worden ist. Mehrere Menschen sind mit der Reinigung des Beckens beschäftigt. Das Auto, das Andrej hergebracht hat, fährt um das Becken. Er steigt aus und fordert den Chauffeur auf, ein Stück zurückzufahren. Er steigt auf die Umfassungsmauer, um das „Buon giorno!“ eines vorbeigehenden älteren Mannes mit einem Kopfnicken zu erwidern.

Wir sehen mit weißem Schlamm verklebte Gegenstände: eine alte Sturmlaterne, eine kopflose nackte Puppe, das verbogene Rad eines Fahrrads sind vor der Umfassungsmauer des Beckens deponiert worden. Im Becken liegt das zugehörige Fahrrad. Diese Gegenstände erinnern zum Teil vage an Früheres im Film, an das Fahrrad, auf dem Domenico in die Pedale trat, an die Puppe in einem Winkel seiner Behausung, lediglich die Sturmlaterne weist voraus, nicht zurück.Wir sehen eine verstörte, tief bekümmerte Milena Vukotic Münzen in ein Glas sammeln.

Nun sehen wir Andrej von hinten, der in das Becken hinabgestiegen ist und vollkommen entkräftet, zusammengekrümmt auf einem Sims lehnt. Er fingert in seiner Manteltasche nach Tabletten, die er notgedrungen wie schon zuvor trocken zu sich nimmt.

Szenenwechsel zurück zum Kapitol: Wir sehen Domenicos Stehen auf dem Pferd, nur von den Unterschenkeln abwärts, wie er von einem Fuß auf den anderen tritt mit der Frage: „Wo bin ich, wenn ich nicht in der Realität, aber auch nicht in meiner Fantasie bin?“ Vielleicht ein Hinweis auf die eigene Wirklichkeit des Films. Die folgenden Aussagen scheinen für wirklichen Wahnsinn zu sprechen: „Ich mache einen neuen Pakt mit der Welt: Die Sonne soll in der Nacht scheinen und im August soll es schneien.“ Dann wird es wieder sinnvoller: „Die großen Dinge enden. Die kleinen überdauern. Die Gesellschaft muss wieder geeinter werden und nicht so zerrissen sein. Schaut nur auf die Natur, dann versteht ihr, dass das Leben einfach ist. Ihr müsst vor den Punkt zurückkehren, an dem ihr die falsche Richtung eingeschlagen habt. Wir müssen zu den Grundlagen des Lebens zurückkehren ohne das Wasser zu verschmutzen. Was für eine Welt ist das, wenn euch ein Verrückter sagen muss, dass ihr euch schämen sollt?!“ Diese letzte Aussage hat wieder mehr Durchschlagskraft. Das Anliegen der Einheit hatte Domenico schon vorher vorgebracht, bislang schien es beschränkt auf die interpersonale Ebene, jetzt geht es um die ganzen Gesellschaft. Wenn Domenico fordert an den Punkt zurückzukehren, „an dem ihr den falschen Weg eingeschlagen habt! fragt es sich, ob aus ihm der Russe Tarkowskij spricht, der dem Westen vorwirft, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Da deckten sich Tarkowskijs Überzeugungen in etwa mit denen Solzhenitsyns, der fünf Jahre vor diesem Film in seiner Harvard-Rede 1978 den Beginn der Verirrung des Westens in der Renaissance sah. Insofern war Tarkowskij in Italien durchaus an der richtigen Adresse, am historischen Ursprung der Fehlentwicklung.

Nun folgt ein geniales Verwirrspiel. Domenico hat seine Rede beendet und ruft: „Und jetzt die Musik!“ Einige seiner Mitarbeiter eilen herbei und heben einen recheckigen, silbern glänzenden Kubus zu ihm hinauf. Der übertölpelte Zuschauer fragt sich, ob es sich dabei um einen Lautsprecher handelt. Domenico hät inne, er hat etwas vergessen, kramt einen Zettel aus der Manteltasche. Nun meldet er sich ein letztes Mal zu Wort: „Oh Mutter, oh Mutter, die Luft ist das leichte Ding, das um deinen Kopf kreist und heller wird, wenn du lachst!“ Hier wendet er sich völlig außerhalb jeden Zusammenhangs an die Mutter, und wenn man nach irgendeinem Anknüpfungspunkt im Film für diese Aussage sucht, wird man zu der Nahaufnahme vom Kopf der Madonna del Parto von Piero della Francesca geführt. Sie hat ein weißes Band um den Kopf gewunden, was Tarkowskijs sonderbar-dinghafte Verfestigung der Luft vertretbar erscheinen lässt. Das Licht auf ihrem Gesicht ist wunderbar subtil, aber sie lächelt nicht oder kaum. Tarkowskij sucht die Kunstwerke, die er filmisch aufgreift, weiterzuentwickeln, zu steigern.

Was Domenico in den Händen hält ist ein Benzinkanister und nun wird sein Vorhaben deutlich: er zieht sich die Mütze ins Gesicht und übergießt sich mit Benzin. Die Musik lässt weiter auf sich warten. Einer von Domenicos Assistenten kommt eine weitere Freitreppe, auf der wiederum regungslose Statisten stehen, aufgeregt heruntergestürzt. Wir sehen Domenicos Hand, die das Feuerzeug mehrfach vergeblich zu entzünden sucht. Schließlich gelingt das doch, und er führt das Feuerzeug vor seinen Körper. Er geht in Flammen auf und zeitgleich brandet die Musik in einem gewissermaßen berstend-expressiven Ausbruch an, bevor sie sich als die Ode an die Freude aus Beethovens 9.Symphonie zu erkennen gibt. Wie er brennend hinter Mark Aurel steht wachsen ihm Flammenflügel, die das Reiterdenkmal für mehrere Sekunden zu einem geflügelten Pegasus, dem Dichterross machen, was die Formulierung des Dichtervaters aufgreift: „Und nicht mehr leuchten in der Nacht an meinen Schultern zwei Flügel…“

In der Europahymne heißt es in den Worten Schillers an die Freude gerichtet: „Wir betreten feuertrunken, Himmlische, Dein Heiligtum“. Was bei Schiller metaphorisches Reden bleibt, wird von Tarkowskij drastisch umgesetzt, zugleich leistet die Parallelisierung von Feuer und Musik und die Beziehung zur Dichtung einer Ästhetisierung der Szene Vorschub, was zu den unauflöslichen Widersprüchen beiträgt, wie sie Tarkowskij in seiner Kunst zu gestalten suchte. Denn andererseits führte er Kunstgriffe ein, die das Geschehen als Realität spürbar machen sollen. So wird Domenicos Handlung von einem anderen Verrückten unten auf dem Platz pantomimisch abgebildet: er hat schon Domenicos vergebliche Versuche mit dem Feuerzeug imitiert und als Domenico vom Denkmal springt und dahinter verschwindet, wälzt der Imitator sich im Vordergrund wild im eingebildeten Schmerz zappelnd. Was geschieht durch diese Doppelung? Es wird die Situation der im Film abgebildeten Realität abgebildet, von der wir wissen, dass sie gespielt und nicht real ist, und dadurch wirkt das Geschehen realer, macht sozusagen einen Sprung auf uns zu. Die Ode An die Freude endet abrupt bei: „Alle Menschen werden…“ Das Wort „Brüder“ hören wir nicht mehr, sondern nur noch das schmerzerfüllte Brüllen Domenicos. Es wird behauptet, dass er den Namen seines Hundes: „Zoe“ brüllt, was ich nicht bestätigen kann. Tatsache ist, dass in dieser Szene nur der Hund „menschliche Regungen“ zeigt. Er liegt zwar an der Leine, beginnt aber unruhig zu winseln und zu bellen, springt nach vorn, als Domenicos Wahnsinnstat sich abzuzeichnen beginnt, während die Menschen um ihn herum in Lethargie und Desinteresse verharren. Tarkowskij hatte eine sehr enge Beziehung zu seinem Schäferhund in Russland, dem er ein ungewöhnliches Wahrnehmungsvermögen zuschrieb.

Der russische Regisseur hat schon am 9. September 1970 am Ende einer seitenlangen Einlassung (später finden sich solche langen Eintragungen nicht mehr) in seinem Tagebuch geschrieben: “Und all jene, die an die Seele gedacht haben – im Lauf der Jahrhunderte bis zum heutigen Tag – , hat man physisch vernichtet oder vernichtet sie immer noch. Das einzige, was uns jetzt retten kann, ist eine neue Ketzerei, die alle ideologischen Gebäude unserer unglückseligen, barbarischen Welt zum Einsturz bringen wird. Die Größe des heutigen Menschen liegt im Protest. Ruhm gebührt dem, der sich aus Protest vor dem Antlitz einer stumpfen schweigenden Menge verbrennt – demjenigen, der auf den Platz hinaustritt, bewaffnet mit Plakaten und Losungen, und sich den schlimmsten Repressalien ausliefert, auch all jenen, die nein sagen zum Egoismus und zur Gottlosigkeit.

Sich über die Möglichkeit zu leben erheben, sich praktisch unserer Vergänglichkeit, unserer Sterblichkeit klar bewusst werden, gerade im Namen des Künftigen, im Namen der Unsterblichkeit… Ist die Menschheit dazu imstande, dann ist noch nicht alles verloren. Dann besteht noch eine Chance.“ Warum er darin eine Chance sieht, erläutert er nicht. Vielleicht sieht er in der Ehrlichkeit, die dazu gehört, eine Voraussetzung für eine Lösung der dringlichen Probleme. Diese Ehrlichkeit fällt bei Tarkowskij immer wieder auf sowohl in seinem Werk als auch in überlieferten Interviews, was man anerkennen sollte, selbst wenn man manche seiner Positionen problematisch finden kann. Diese Überzeugung von der Ehrlichkeit als wichtiger Voraussetzung von Kunst scheint er unter anderem von Tolstoi übernommen zu haben. Darüber hinaus ist es der Glaube, der in diesem Denken, in diesem „sich über die Möglichkeit zu leben erheben“ zum Ausdruck kommt. Schließlich war es der „Glaube“, den Gortschakow an Domenico wahrgenommen hat. Ein Glaube, der für Tarkowskij selbst alles andere als selbstverständlich war, um den aber sein Denken kreiste.

Im Grunde hat Tarkowskij hier zwölf Jahre bevor er den Film Nostalghia geschaffen hat dessen Programm formuliert. Warum er eine so extreme Tat wie die Selbstverbrennung nennt, hat vielleicht mit dem tiefen Eindruck zu tun, den Ingmar Bergmans Film Persona (1966) auf ihn gemacht hat. Eine der Protagonistinnen sieht im Fernsehen entsetzt die Selbstverbrennung des buddhistischen Mönches in Saigon (1963), die so schockierend ist, weil ihre Realität außer Frage steht. Persona war wohl der Film Bergmans, der Tarkowskij am nachhaltigsten beeindruckt hat. Ob er auch von der Selbstverbrennung des tschechischen Studenten Jan Palach wusste, der sich im Januar 1969 aus Protest gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in sein Heimatland auf dem Wenzelsplatz in Prag angesteckt hatte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.

Weder der buddhistische Mönch noch Jan Palach waren wahnsinnig, so bleibt auch offen, ob Domenico wirklich wahnsinnig war. Sein Appell für die Einheit der Gesellschaft deckt sich mit der Aussage der Ode, dem hohen Pathos von Schiller und Beethoven: „Alle Menschen werden Brüder“. Nur weist der russische Regisseur darauf hin, dass dieses Ziel nicht mit „Friede, Freude, Eierkuchen“ zu erreichen ist. Er hat immer wieder die Bereitschaft zum Opfer hervorgehoben, was dann auch der Titel seines letzten Films wurde. Vielleicht deckt sich seine Überzeugung mit den Worten von Jesus: „Und wenn ich erhöht sein werde von der Erde, werde ich alle an mich ziehen.“ (Joh 12, 32)

Das Solidaritätspathos, wie es in Westeuropa in der Moderne seinen Ausgang genommen hat, war von Anfang an auf einem Auge blind: es werden eben nicht alle Menschen Brüder, die Verrückten waren von vorneherein ausgeschlossen. Michel Foucault hat den Finger auf diese Wunde gelegt. Und Domenico macht das mit seiner „Ketzerei“, die in der Forderung gipfelt, den sogenannten Geisteskranken nicht nur ins Gesicht zu sehen, sondern sogar mit ihnen zu schlafen, eklatant.

In der letzten Szene des Films, die auch berühmt geworden ist, weil sie ohne Schnitt mehr als neun Minuten dauert, versucht Gortschakow eine angezündete Kerze vom einen Ende des entleerten Beckens in Bagno Vignoni zum anderen Ende zu bringen, nur um sein Versprechen an Domenico zu erfüllen.

Zu Beginn hantiert Andrej mit einem Feuerzeug, versucht mehrfach vergeblich eine Flamme damit zu schlagen, was eine deutliche Parallele zu der Szene schafft, als Domenico das Gleiche mit seinem Feuerzeug versucht. Dann schlägt er mit der Hand an den rechten Rand des Beckens, an den Startpunkt, was an ein übliches Ritual in einem Kinderspiel erinnert. Tarkowskij hatte dem Schauspieler erklärt, dass er diese Szene so spielen sollte, als sei sie die Darstellung eines ganzen Menschenlebens. Andrej ist, wie wir gesehen haben, schwer krank, sehr geschwächt. Er schlurft mit winzigen Schritten durch Schlick, Steine und feuchte Nebelschwaden, sorgsam die Flamme der Kerze schützend. Doch zweimal erlischt sie, als er fast schon das Ziel erreicht hat. Er kehrt jedes Mal an den Ausgangspunkt zurück, und das mühsame Spiel beginnt von vorn. An die Kindheit erinnert, dass er jedes Mal die Hand am Startpunkt anschlägt wie in einem Kinderspiel.

Im Hintergrund lehnt ein umgekehrter Reisigbesen am Beckenrand, was bei Tarkowskij durchaus ein Hinweis auf böse Mächte und Hexenwesen sein kann. Angeblich soll aber der Besen mit dem Reisig nach oben als Abwehr gegen Hexen dienen. Schließlich gelingt es Gortschakow mit letzter Kraft zu den leise anhebenden Klängen aus Verdis Requiem die brennende Kerze am Zielpunkt aufzustellen und er bricht zusammen. In zweiten Gedicht Arsenij Tarkowskijs heißt es unmittelbar nach der Zeile, in der von den leuchtenden Flügeln die Rede war: „Beim Fest habe ich, Kerze, mich verzehrt,/ sammelt am Morgen mein geschmolzenes Wachs/ und dort lest, dass Weinen es ist, worauf man stolz sein soll“.

Wenn man fragt, was die brennende Kerze zu bedeuten hat, soll man im Hinterkopf behalten, dass es nicht im Sinne dieses Regisseurs war, eindeutige Zuordnungen zu schaffen. Da Gortschakow bei Domenico seinen „Glauben“ bewunderte, steht die Flamme vielleicht für eben diesen Glauben, theologisch ausgedrückt, für das Leben der Gnade, oder allgemeiner für das innere Leben.

Um noch einmal den Tagebuchauszug zu zitieren: „Sich über die Möglichkeit zu leben erheben, sich praktisch unserer Vergänglichkeit, unserer Sterblichkeit klar bewusst werden, gerade im Namen des Künftigen, im Namen der Unsterblichkeit… Ist die Menschheit dazu imstande, dann ist noch nicht alles verloren. Dann besteht noch eine Chance.“ Dafür ist die sich verzehrende Kerze auch ein Bild: unsere Vergänglichkeit, unsere Sterblichkeit, die gegenüber den Menschen, die sich im wohlig warmen Wasser und seinen Dämpfen einnebeln und „ewig leben wollen“. Deshalb auch das „Memento mori“ der Kreissäge, das im Film immer wieder zu hören ist und an Schnitt und Abbruch erinnert.

Worin besteht nun die Beziehung zum Geschehen auf der Piazza di Campidoglio? In beiden Fällen geht es um Brennen und sich Verzehren. (Es ist angebracht, sich an die eingangs von Eugenia erwähnte Zeitungsnotiz zu erinnern, in der die Rede davon war, dass eine Hausangestellte in Mailand das Haus ihrer Herrschaft in Brand gesteckt hat, um nach Calabrien, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Domenico setzt seinen Körper in Brand, weil er sich darin fern seiner wirklichen Heimat fühlt…) Einmal die große Flamme der spektakulären Selbstverbrennung „Wir sind zum Schauspiel für Menschen und Engel geworden.“ (1 Kor 4,9) Dem gegenüber die still durchgetragene Existenz, von kaum jemandem beachtet. Ein Professor, der mit dem Film insgesamt nicht sehr viel anfangen konnte, zeigte sich beeindruckt von der Beharrlichkeit, der Zähigkeit, wie sie in der dieser Szene zum Ausdruck kommt. Die charismatische Chiara Lubich hat Ende der 50er Jahre einmal Eigenschaften der verschiedenen Völker genannt, die für andere vorbildhaft sein könnten; bei den Slawen nannte sie „Zähigkeit“.

Tarkowskij sprach davon, dass die Bilder seiner Filme im Betrachter fortwirken sollten. Da war das Element der Sturmlaterne, assoziativ verknüpft mit dem die brennende Kerze tragenden Gortschakow und dem Kapitolsplatz im Hintergrund: es lenkt assoziativ auf Nietzsches „tollen Menschen“ aus der Fröhlichen Wissenschaft, der am Vormittag eine Laterne anzündet, über den Platz geht und unablässig ruft: „Ich suche Gott!“. Er wird von allen verspottet. Wer das weit hergeholt findet, muss immerhin zugeben, dass auf diese Weise die Laterne „aufgeräumt“ ist, ihr assoziatives Potential zum Einsatz kommt. Die parallel geschalteten Szenen in der Imagination übereinander zu blenden liegt nahe. Tarkowskijs Beschäftigung mit Nietzsche wird in seinem letzten Film Offret (1985) explizit.

Als Andrej zusammenbricht, stürmt sein junger Chauffeur herbei. Es stellt sich heraus, dass sich doch eine ganze Reihe Schaulustiger eingefunden hat. Auch Milena Vukotic erscheint noch einmal in Nahaufnahme, noch verstörter, noch bekümmerter dreinblickend. Dann ein letzter Blick auf die flackernde Kerze während wir weit im Hintergrund die fistelnden Stimmen irgendwelcher Klageweiber hören. Wechsel zu Schwarzweiß und wir sehen den lichtblonden kleinen Jungen aus den Russlanderinnerungen wie er sich umwendet. Die Mutter nähert sich langsam von hinten und legt ihm federleicht die Hände auf die Schultern. Dann das Schlussbild: Andrej lagert auf der Erde mit aufgestütztem Arm, neben ihm liegt der Hund, hinter ihm das heimatliche Haus vor nebelverhangenen Bäumen, vor ihm die Wasserlache, in der sich die drei Fensteröffnungen der Abtei von San Galgano spiegeln. Denn es stellt sich heraus, indem die Kamera herauszoomt, zurückweicht, dass die russische Heimat von der majestätischen Ruine der Kirche umfasst ist. Nur im mutmaßlichen Tod Andrejs ist die Einheit von russischer Innerlichkeit, „slawischer Seele“ und italienischer altehrwürdiger Formvollendung gelungen. Dann beginnt ein leichter Schneefall, eine federleichte Zärtlichkeit wie die Geste der Mutter. Zugleich verhält sich der Schneefall zu den beiden herabsinkenden Federn zuvor wie die Erfüllung zur Verheißung.

Domenico forderte in seinem verrückten „neuen Pakt mit der Welt“ Schnee im August. Es gibt die wenig bekannte Legende, dass die größte Marienkirche Roms, Santa Maria Maggiore, an der Stelle errichtet werden sollte, wo am Morgen des 5. August eine schneebedeckte Fläche gefunden wurde. Das war sowohl einem patrizischen Ehepaar als auch dem Papst Liberius im Traum bedeutet worden. Diese poetische Geschichte geht in die Fühzeit der Kirche, in das Jahr 352 zurück. So können wir in dem Abschlussbild des Films eine Aufforderung sehen, gemeinsam an die Ursprünge der Kirche zurückzukehren, sie neu aufzubauen.

Nachdem wir nun einigermaßen umsichtig durch den Film gewandert sind, stellt sich die bange Frage, ob der Film uns in der gegenwärtigen Situation etwas sagen kann. Zu seiner Entstehungszeit waren Russen veritable Exoten im Westen. Mittlerweile sind sie keine so seltene Erscheinung mehr. In den Nachrichten wird immer wieder von prolligen Oligarchen berichtet, mehr oder minder kultivierte Neureiche besuchen unsere Länder. Einsame Sucher wie der Dichter Andrej Gortschakow sind eher selten darunter.

Umso belastender wirkt der Krieg, der von einem isolierten und der Realität entfremdeten russischen Präsidenten vom Zaun gebrochen wurde. Es bleibt zu hoffen, dass der Film des russischen Regisseurs, der im eigenen Land eine Art Heldenstatus gewonnen hat und im Westen vorwiegend in intellektuellen Kreisen bekannt ist, weiterhin als Stimulanz wirken kann den Dialog zwischen den so verschiedenen Kulturen zu suchen.

1Erwähnt werden sollte eine aus ihrem Blickwinkel eher „zu gründliche“ Auseinandersetzung mit dem Film von Julia Selg, die in einem sehr schön gestalteten Buch mit zahlreichen Abbildungen Gestalt gefunden hat: Julia Selg, Andrej Tarkowskij und die Gegenwart der Alten Meister. Kunst und Kultus im Film Nostalghia, Stuttgart 2009. Generell bin ich einverstanden, dass man einzelne Aussagen etwa die von dem „verrückten“ Domenico auf dem Kapitol, dass heute „die Meister“ fehlen, zu Anlass nimmt, den Film auf die Anwesenheit der Alten Meister zu befragen. Nur führt das dazu, dass die Autorin auf Schritt und Tritt zum Teil sehr kryptische Zitate der Alten Meister entdeckt, wobei ich ihr recht bald die Gefolgschaft aufgekündigt habe. Zumal Tarkowskij sich von nachstellenden Bildzitaten distanziert hat; vgl. Mikhail Romadin, On Film and Painting, Romadin zitiert Tarkowskij indirekt: „What will you have, if instead of figure drawn on a canvas by the artist we see instead a live actor? This is a surrogate painting, a ‚live picture‘.“ (Nostalghia.com Website)

2Übersetzt aus der italienischen Fassung, Andrej Tarkovskij, Diari, Martirologio,Firenze 2002

3Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Frankfurt Berlin 1986, S. 112

4Als Bundeslade Gottes wird Maria in der Lauretanischen Litanei angesprochen.

5Tomaš Špidlík, Russische Spiritualität, Regensburg 1994, S. 22

6 Das Berühren der Haare ist ein Motiv, das in dem letzten Film Tarkowskijs aufgegriffen wird: der igendwie zwielichtige Bote Otto greift sich immer wieder ins Haar. Das ist, abstrakt genommen, ein Bild für die „recurvatio in se ipsum“, das „Zurückbezogensein auf sich selbst“ als Inbegriff der Sünde.

7Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 47f.

Tarkowskij und unser Kommen und Gehen

Kürzlich habe ich den jüngsten preisgekrönten Film Michael Hanekes Liebe (2012) in der ARD gesehen und war im Großen und Ganzen angetan, auch wenn nicht zu leugnen ist, dass die üblichen Verbeugungen in Richtung des Zeitgeistes ihm an Größe nehmen. Man könnte sagen, dass der Film dem Geist Simone de Beauvoirs verpflichtet ist, die sich am Ende ihres langen Lebens „geprellt“ fühlte: die Kunst, die Musik, alles leere Versprechungen. Dabei waren ihr die Spielregeln, zu denen wir antreten, seit ihrer Kindheit bekannt: sie konnte sich kaum mit Recht geprellt fühlen.

Der Film erzählt die Geschichte eines kultivierten älteren Ehepaars in Paris, dem das fortgeschrittene Alter zusetzt: sie kann sich nach einem Schlaganfall kaum noch selbst helfen. Er sieht sie, wenn er eine CD hört, sie in einem Tagtraum am Flügel sitzen und spielen: die ehedem großartige Pianistin. Die Landschaftsgemälde an den Wänden der Wohnung werden in stummem Vorwurf als vergehend, zurückbleibend gezeigt. Er (Jean-Louis Trintignant) geht an einem Nachmittag zu einer Beerdigung und berichtet nach seiner Rückkehr nur widerstrebend davon. Das macht seine wenigen Worte nur umso wirkungsvoller. Der Priester sei ein Schwachkopf gewesen. Dass es Priester gibt, die Schwachköpfe sind, sei unbenommen, aber in dieser lakonischen Beiläufigkeit wird suggeriert, dies sei der quasi unvermeidliche Normalfall.

Die Frage des Danach, ob irgendetwas nach dem Tod kommen könnte, auf den man hier unaufhaltsam zusteuert, wird konsequent ausgespart. Die Möglichkeit der Unsterblichkeit der Seele geistert als vage Möglichkeit in der Gestalt einer grauen Taube, die sich zweimal in die Wohnung verirrt hat, unausgesprochen durch den Film. So ist unsere Zeit: der Zeitgeist kennt in dieser Frage kein Pardon. Das kommt nicht auf den Tisch.

Im Zeitalter von YouTube konnte ich bei der Nachbereitung dieses Films eine eigentümlich beklemmende Erfahrung machen: ich sah ein Interview mit der Hauptdarstellerin Emmanuelle Riva aus dem Jahr 1959, nachdem der Film Hiroshima mon amour von Alain Resnais, der sie zum Star machte, herausgekommen war. Eine junge Frau, die mit ihrem natürlichen, mädchenhaften Charme den Atem raubt, und gerade eben hat man dieselbe Frau als Greisin gesehen. Der Film ermöglicht solche bestürzenden Erfahrungen, die man mit der Fotografie so nicht macht. Auch Fotos können den Alterungsprozess bewusst machen, aber hier kommen die Bewegungen, die Mimik, die Stimme hinzu, und das macht den Eindruck überwältigend. Und doch scheint, soweit ich sehe, Tarkowskij der einzige Filmkünstler zu sein, der über diesen Aspekt des Films in seinen Filmen reflektiert hat.

In Solaris (1972) zeigt zu Beginn der Solaris-Experte Berton einen Dokumentarfilm, der einige Zeit zuvor bei einem Kongress zur Solaristik gedreht worden ist. Berton, der mittlerweile eine sehr hohe Stirn hat, trug damals das volle Haar gescheitelt. Das Motiv verschiedener Zeitebenen wird noch dadurch variiert, das bei diesem Kongress damals große Transparente mit graphischen Darstellungen von bärtigen vergangenen Geistesgrößen zu sehen sind. Unversehens wird man so mit der Thematik unseres Kommens und Gehens konfrontiert. Das erste Bild des Filmes zeigt in Nahaufnahme ein herbstlich gefärbtes Blatt, das schnell auf einem Bach vorbeischwimmt.

Auf der Raumstation zeigt Kris seiner ehemaligen Geliebten Hari wiederum einen Dokumentarfilm, für den sich Tarkowskij die Mühe gemacht hat, einen vielleicht sechzehnjährigen Jungen ausfindig zu machen, der als der junge Kris glaubhaft ist.

In dem Film Spiegel (1974) scheint mir der Gedanke weiterentwickelt. Irgendwann wird auf den Anfang von Dantes Divina Commedia angespielt: die Freundin der Mutter zitiert ihn übermütig hüpfend in den Dreißiger Jahren in einer Moskauer Druckerei. Der Film endet damit, dass er in einen dunklen Wald zurückweicht. Die Bewahrung der Lebendigkeit aller Beteiligten im Film wird zu einer Metapher der jenseitigen Welt.

Una regia geniale. Ricordare Andrej Tarkovskij

Scrivere sulla genialità nell’arte di Andrei Tarkovskij comporta certamente l’imbarazzo della scelta. Ho scelto tre scene di tre film e questi esempi sono senz’altro molto diversi tra di loro. Una riguarda un intervento abbastanza improvvisato, la seconda è una scena preparata con molta cura, la terza è a dirittura un evento spettacolare in una piazza di fama mondiale.

I

La prima scena dura solo pochi secondi ed è parte del film sul pittore di icone Andrej Rublëv (1966). I mongoli hanno invaso la città di Vladimir coll’aiuto del principe secondogenito che volle vendicarsi di un torto subito dal fratello, il Gran Principe. Vediamo ad un certo punto dall’alto il saccheggio della cattedrale di Vladimir. Sulla piazza davanti alla chiesa si vede la massa del popolo, ripresa col rallentatore, nuvole di fumo che inondano l’inquadratura e poi, di colpo, due oche bianche scendono.

Gli studiosi americani Vida Johnson and Graham Petrie sono tra i pochi che hanno commentato questo particolare1.

L’operatore sul set, Vadim Yussov, ha raccontato che Tarkovskij in questo caso aveva tradito un loro principio: «Niente sorprese durante le riprese!» Da qualche parte aveva trovato due oche bianche, le aveva tenute nascoste e poi di colpo gettate davanti alla camera da presa al rallentatore. (Della seconda oca si vede solo la punta di un’ala.) Johnson e Petrie scrivono che questo particolare vuole sottolineare la «vulnerabilità» della gente di Vladimir2. Certamente la ripresa ha questo aspetto, ma a mio avviso in questa maniera si nega l’ambivalenza dell’immagine. Secondo Tarkovskij l’immagine poetica ha sempre la tendenza ad essere polisemica, a racchiudere in sé diversi aspetti, a volte contraddittori. In questo caso, la ripresa a volo d’uccello potrebbe significare “il modo di vedere di Dio”, allo stesso tempo Tarkovskij fa vedere il principe traditore in un movimento di salita, e quindi suggerisce nel suo stile ellittico il modo di vedere di uno scellerato.

Come si sà, esiste un “romanzo” scritto da Tarkovskij e dal collega Andron Končalovskij su cui il film doveva basarsi3, ma durante il lavoro si dovette cancellare capitoli interi. Per esempio c’era un capitolo intitolato La caccia che è sparito quasi completamente. La mia tesi è che questa scena di pochi secondi è quasi tutto quello che è rimasto di quel capitolo4. Raccontava della caccia del Gran Principe ai cigni. Probabilmente era ispirato dal famoso balletto Il lago dei cigni di Piotr Čaikovskij. Mi ricordo di aver letto questo capitolo leggermente allarmato perché la descrizione della coppia dei cigni mi destava il sospetto di “kitsch”. Nel film, poi, non è rimasto niente di tutto ciò5.

Nella scena con le oche volanti Tarkovskij è riuscito a creare prima di tutto un’immagine poetica per “esperienza” come tale – senza questa aggiunta la stessa scena non avrebbe questo significato. C’è una tale concentrazione di significati che ricorda un’affermazione di Tarkovskij nel suo libro sul cinema. Ha in mente un’immagine di estrema densità: “un mondo intero” che si rispecchia in una goccia d’acqua6. Da un lato l’immagine delle oche esprime l’estrema fugacità della vita, ma il rallentatore dà anche un tocco di maestosa solennità. (Certo, cigni sarebbero stati ancora più belli.) Poi accenna all’armonia del rapporto di coppia, distrutto dalla guerra come si vede nel film. Il brulicame del popolo in questa scena, minacciato dal saccheggio e dalla trucidazione come immagine del “mondo intero” può sembrare una visione tetra, ma, pensandoci bene, è molto vera. Tarkovskij ha realizzato un insieme inestricabile di sinistro e di luminoso7: la bellezza della creazione e il peccato terribile dell’uomo che sempre rischia di deturparla.

Per spiegare cosa lui intende per un’immagine poetica Tarkovskij ha citato ripetutamente dei haiku8 del famoso poeta giapponese Matsuo Bashō (1644-1694). Qui occorre piuttosto ricordare la poesia dei poeti più grandi della dinastia Tang Li Bai (701-762) e Du Fu (712 -770) per via della maggiore spaziosità. Nella loro poesia, molto ammirata da Bashō9, si trova il motivo del volo dei uccelli e delle nuvole; inoltre si incontra la stessa capacità di sintesi, più emotiva che intellettuale. È la capacità di cogliere in un’osservazione una profondità quasi inesauribile.10 Certamente non si devono nascondere anche le differenze: nell’immagine di Tarkovskij c’è la visione dall’alto che forse presuppone il rapporto con il cristianesimo (oltre ll’esperienza del volo con aerostato o aereo)11.- In ogni caso non vorrei far pensare che Tarkovskij sia stato influenzato dalla poesia Tang; piuttosto in questa maniera oserei indicare il livello di poesia sul quale è stato elevata in questa scena la sua “poesia del cinema”: per pura grazia (la grazia, a mio avviso, ha molto a che fare con la genialità).12

II

Il secondo esempio è molto differente dal primo per molti versi. Si tratta della scena all’inizio dello Specchio (1975) dopo il prologo e i titoli di testa. Il prologo fa vedere la guarigione ipnotica di un giovane balbuziente alla televisione: il ragazzo è improvvisamente in grado di parlare e presentarsi con brevi parole. Poi l’autore, Tarkovskij, incomincia a parlare ed a presentarsi in parole meno brevi, segue una fiumana più e meno lenta di immagini, ricordi, sogni e poesie13; ed il film termina con due urli inarticolati del giovane Tarkovskij all’ età di tre-quattro anni, forse per dire che tutto il dicible è stato detto. «Tutto il resto è silenzio.» (Amleto)

La scena in questione sulla vita della madre ha di per sé poca importanza, per il film invece sì. L’autore l’ha assistita sonnecchiando durante la siesta pomeridiana, rannicchiato insieme con la sorellina in un’amaca appesa tra gli abeti davanti ad una cascina. Nonostante l’apparente insignificanza la scena è stata preparata molto tempo prima e filmata con estrema cura. (A questo riguardo non è assolutamente paragonabile col primo esempio che era un guizzo violento, quasi fortuito e fortunato.) La preparazione remota riguardava non tanto questa scena, quanto il film nel suo insieme ed è in questo contesto tuttavia va raccontata. Per fare questo film il regista vide necessario ricostruire dalle fondamenta la casa di legno nelle vicinanze di Mosca dove negli anni trenta, prima della guerra, nella sua infanzia, la sua famiglia passava i mesi estivi. Voleva ricreare la penombra sotto gli alberi, tutta l’atmosfera di allora: vicino a questa casa doveva “risorgere” un campo di grano saraceno in fiore. Il regista e la sua squadra entrarono in conflitto con l’economia socialista di pianificazione, con i contadini del Kolchos locale, convinti che da decenni non c’era mai stato il grano saraceno in questo campo, anzi, che non si poteva crescere. L’insistenza tenace dei nostri alla fine ha vinto: il campo fiorì14. E perché tutto questo sforzo? Tarkovskij era strafelice quando ha visto l’effetto della casa e del suo ambiente sulla sua vecchia madre: dopo quarant’anni tutta l’esperienza di allora tornava vivissima. Ma non era solo la madre che lui voleva coinvolgere, voleva unire in un’unica “circolazione di sangue” tutti i collaboratori sullo set, come scriveva nelle pagine seguenti. Tutti erano rattristati quando il lavori per il film intorno alla casa finivano. Chi parla di questo regista come “solitario” oppure come “solipsista” 15 dovrebbe tenere presente questi fatti.

Lo splendore del grano saraceno in fiore, che il regista trovava tanto bello perché gli ricordava la neve, trasmette la sua luminosità a tutto il film (Il primo titolo del film allo stato di progettazione era, come si sà, Un bianco bianco giorno Belyj belyj den’16). Esso traspare, per così dire, dalle finestre, ma lo vediamo veramente, dulcis in fundo, nelle ultime immagini del film, alla sera poco prima dell’imbrunire.17

La scena all’inizio del film è preceduta, mentre scorrono i titoli di testa, da un brano musicale di Johann Sebastian Bach, il compositore preferito di Tarkovskij, il preludio sul organo del corale: «Das alte Jahr vergangen ist – Il vecchio anno è passato» (BWV 614). Il tono elegiaco della musica fa capire che ciò che segue è irrimediabilmente passato. In modo simile Tarkovskij aveva inserito nel suo film precedente Solaris (1972) un altro preludio corale di Bach dell’ Orgelbüchlein: «Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ – Ti invoco, Signore Gesù Cristo» (BWV 639) che funge anche da «’ideale riassunto’ della successiva narrazione» come dice giustamente Roberto Calabretto nel suo saggio sulla musica nei film di Tarkovskij18.

Subito dopo il regista mostra campi in parte verdi, in parte gialli, di frumento o di segale (ma non di grano turco). Essendo in Russia fa pensare che ci troviamo a fine giugno. Tra alberi con foglie mangiate (da maggiolini?) vediamo da dietro una donna graziosa, seduta su uno steccato, che fuma una sigaretta. Ha sistemato la capigliatura biondo miele in una specie di chignon19. Sopra un vestito d’estate, semplice ma non contadino, indossa una giacca di lana nera che le dona: si capisce che non è proprio caldo come in Italia in questo mese.

La voce del commentatore (Innokenty Smoktunovsky, allora il più famoso attore dell’Unione Sovietica) l’io del film, ci racconta con una certa precisione topografica che dietro al boschetto di quercie, più lontano dei campi, c’era un bivio: una via portava ad una cittadina vicina, l’altra invece portava alla loro casa estiva. Se qualcuno prendeva la viuzza verso la casa voleva dire che era uno della famiglia, magari il padre, da tempo aspettato, se invece no, voleva dire che non era lui, e che lui forse non sarebbe mai tornato.

Tarkovskij scrive nel suo libro quanto era importante per il film che l’attrice, che doveva recitare la parte della madre, non sapesse tutto del film, nemmeno del suo ruolo. Soprattutto non doveva sapere, se il padre alla fine ritornava alla famiglia o no. Tarkovskij era arrivato alla convinzione che nel cinema l’attore si trova in una situazione molto diversa dalla recita in un teatro. La cinepresa giunge così vicina che l’attore o l’attrice devono piuttosto essere che recitare, vivere loro stessi un dato stato d’animo20. L’attrice Margarita Terechova non era in grado di dare delle accentuazioni di speranza o di rassegnazione, semplicemente perché era al buio completo sul futuro sviluppo della sua storia. Queste intuizioni di Tarkovskij presuppongono certamente una sensibilità fuori dal comune. I suoi film erano agli antipodi del cinema “usa e getta” che non presume che qualcuno possa voler vedere questa merce due volte (Che spreco di celluloide però!). Tarkovskij sembra di aver lavorato sub specie eternitatis. Voleva fare sì che il film rimanesse fresco ad ogni visione, pieno di sfumature, non facilmente esauribile. Perché a differenza del dramma e della musica classica, per citare altre arti del tempo, non c’è interpretazione per far risorgere l’originale. Tutto deve essere concentrato nel momento della produzione: è tempo scolpito. È paragonabile alla letteratura che viene solamente risuscitata – o meno – dal lettore (se non è recitata). Il film ha in comune con le arti visive la concretezza sensoriale del suo essere nel mondo, per forza d’impatto le supera e con ciò ha la tendenza a sopraffare lo spettatore, il pubblico. Tarkovskij voleva rispettare il suo pubblico, salvare il mistero. Questo lo ha portato ad uno stile ellittico. Certe recitazioni nei suoi film successivi sono state giudicate poco espressive21 e di questo, a mio avviso, non sono tanto da incolpare gli attori o le attrici, ma la volontà dell’autore di stilizzare enigmaticamente. Questo ha portato a dei risultati molto sintetici, che sembrano a volte non realistici a differenza delle affermazioni verbali che nei suoi film sono qua e là troppo esplicite22.

Torniamo alla Terechova sullo steccato: vede nella lontananza un uomo che si avvicina. La donna dal viso delicato ed ora serio cela appena la tensione dell’attesa23.

L’uomo è completamente sconosciuto: si è perso, vuole andare a Tomcino, la cittadina vicina. Si rivela presto un tipo dai modi un po’ invadenti; forse è anche un tantino brillo. È Anatolij Solonizyn, l’attore preferito da Tarkovskij, perché di temperamento nervoso, facilmente influenzabile, secondo il regista l’attore ideale da cinema, preferito forse anche perché come tipo era un antieroe.24 Vuole sapere cosa fa lei da sola sullo steccato.- Porta una borsa da medico con tutti gli strumenti, ma ha dimenticato la chiave della borsa. Si avvicina molto: «Lei ha per caso un chiodo oppure un cacciavite?» A questo punto – soprattutto dopo Freud – bisogna stare all’erta. Lei non ne vuole sapere. «Ma perché è cosi nervosa?» Acchiappa la sua mano per sentire il polso: «Sono medico.» È un pretesto alquanto stupido. Lei gli fa: «E allora?» «Non disturbare, devo contare.» Adesso sembra che è lei l’importuna. Si vuole difendere: «Forse devo chiamare il mio marito?» E lui con il suo sorrisino: «Lei non ha marito, dov’è il suo anello? Ma oggigiorno solo i vecchi portano l’anello.» La cinepresa si concentra sulla grossa treccia arrotolata, secondo Natasha Synessios un’acconciatura tradizionale russa delle donne sposate quando dovevano aspettare il ritorno del marito25. Una tradizione evidentemente sconosciuta al medico. Ora si fa regalare una sigaretta. Per accendersi la sigaretta si piega molto profondamente su di lei. Lei gira la testa e guarda nella direzione dei bimbi nell’amaca. L’unico cenno che tradisce qualcosa della sua situazione difficile da giovane madre senza marito. Poi lui, con la domanda: «Ma perché è così triste?» vuole sedersi accanto a lei sulla staccionata e – patacrac! – si spezza il legno ed entrambi cadono sull’erba. Per lui è motivo di grande ilarità («È piacevole cadere con una donna bella!») ma lei non è divertita affatto. Di colpo lui si accorge della natura che lo circonda: sentiamo il ronzio degli insetti26. Lui si alza, cambia discorso, parla di una sua strana intuizione: che le piante hanno coscienza, possono sentire. “E noi diciamo cose banali.” Mentre quest’ultima affermazione senza dubbio riflette una convinzione di Tarkovskij, sarei meno sicuro se il discorso sulle piante semplicemente corrisponde alle sue convinzioni, ma siamo vicino a pensieri del regista. Troppo poco si ha finora badato al fatto che ha vissuto per due anni (!) nella taiga della Siberia quando da ventenne è stato mandato dalla madre su un’espedizione geologica: un’esperienza che ha senz’altro acuito la sua sensibilità da poeta per il “linguaggio” del fuoco, della pioggia e degli elementi in genere27.

Lo straniero dice poi che ci manca la fede nella natura, in noi stessi, siamo diffidenti, inquieti e non troviamo tempo per riflettere. Parla della presenza silenziosa degli alberi che stanno fermi, mentre noi uomini, inquieti, corriamo qua e là. Come conferma involontaria di quello che sta dicendo il suo sguardo va distrattamente e frettolosamente in tutte le direzioni, ma la cinepresa, e con lei la donna, lo osserva attentamente. Lei gli chiede: «Ma non è forse un po’…?» «Ma no, non c’è pericolo, sono un medico.» «E la corsia no.6?» «Ma ché, sono solo fantasie di Čechov!» Infatti con la sua cravatta a mezz’asta fa pensare alla noncuranza per la sua apparenza di uno dei due caratteri principali del famoso racconto di Čechov, il dottore Andrej Efimyc Ragin: anche lui un medico in una cittadina di provincia che è affascinato da un malato mentale in un reparto chiuso, appunto la corsia no. 6, perché a lui sembra l’unica persona con cui si può avere una conversazione intelligente in questa cittadina. Il medico nel racconto di Čechov arriva alla conclusione che tra dentro e fuori del manicomio non c’è differenza, e poi, alla fine, dopo qualche attacco di disperazione finisce lui stesso ad essere rinchiuso nella corsia no. 6. La donna ha apparentemente il sospetto che lo straniero abbia qualche problema di questo tipo28. L’uomo sconosciuto riparte invitandola a visitarlo a Tomcino perché nel suo ospedale c’è gente allegra. Lei gli fa notare che ha del sangue dietro l’orecchio. Si vede che era più attenta persino della cinepresa. È un’osservazione, come si dice, tipicamente femminile che sá un po’ di premura materna. Si è appena incamminato quando arriva una ventata improvvisa e violenta. L’uomo si gira e guarda in dietro, rimane un po’ indeciso, poi segue un’altra ventata. Tarkovskij ha commentato questa scena del vento, procurato coll’aiuto di un elicottero, dicendo che volevano continuare il filo invisibile che legava queste persone. Girarsi senza il vento e guardare “con espressività” avrebbe dato un tocco sbagliato29. Era una trovata felice e geniale perché queste ventate hanno la forza di sollevare tutto ciò che nella scena precedente sapeva di pesante e di trasformarla in qualcosa di poetico. In fondo era un’occasione mancata di un incontro tra due persone e faceva vedere che circostanze effimere – come il fatto che un uomo incontra una donna bella e sola o una donna un uomo non particolarmente simpatico – possono complicare la vita e ostacolare una vera comunicazione. Che l’uomo nella lontananza guarda ancora in dietro era da lungo previsto. Già in febbraio del ’73 ed in dicembre dello stesso anno, cioè molto prima che i lavori concreti per il film cominciassero, apparivono nei diari come possibili titoli del film Perché te ne stai lontano? e Perché resti in disparte? 30 Qui l’autore va contro tutte le regole di una drammaturgia convenzionale che avrebbe sollecitato simpatia per un personaggio che doveva fungere da legame col spettatore.

Così questo episodio assume il ruolo di un invito alla comunicazione: il film, e in modo particolare questo film, ci offre la possibilità di entrare nel mondo dell’autore senza gli ostacoli di circostanze diverse. Il regista voleva la comunicazione con chiunque: «Perché te ne stai lontano?»

Nell’introduzione all suo libro Tarkovskij ha citato varie lettere, che erano state scritte come reazioni a questo film: alcune riflettono incomprensione e anche indignazione, ma altre genuina felicità, come qualcuna che ha scritto di essersi sentita per la prima volta non sola. Ed erano persone semplici che potevano scrivere queste cose, come ad esempio una operaia. Senz’altro tra i film di Tarkovskij Lo Specchio è il più irrazionale che richiede soprattutto una risposta emotiva. C’è ad esempio un particolare nel film che persino il regista stesso non ha capito, come ha ammesso in una intervista del ’8531. Da un lato Tarkovskij voleva essere compreso, da un altro sembra che abbia detto che bisogna lasciare degli enigmi che nei millenni si tenta di decifrare32. Era nemico di quel razionalismo che ha portato al materialismo, all’appiattimento nella nostra percezione della realtà, voleva salvaguardare il mistero. Ed il vento, che in questa scena trasporta il silenzio, certamente è misterioso. Per tutto il mondo che conosce qualcosa della Bibbia il vento è del resto una forte allusione allo Spirito.

Il film prosegue con la recitazione di una poesia del padre, Arsenij Tarkovskij, che parla dei Primi Incontri tra lui e la madre, tutt’altro che banali, siamo quasi ai livelli del Cantico dei Cantici, vediamo immagini dei bambini al tavolo della colazione, uno di loro fa scendere con la mano come una clessidra dello zucchero sulla testa di un gattino, vediamo il volto mesto della madre, accarezzato da ciocche sottili di un biondo più chiaro; eppure finisce la poesia con un’immagine orribile del fato: “Quando il destino ci seguiva passo a passo/ come un pazzo con il rasoio nella mano.”33 Ci troviamo bruscamente confrontati col realismo duro dei due Tarkovskij, padre e figlio, che concede nulla al sentimentalismo. Dando la colpa al destino il padre forse evita di assumersi la responsabilità per la fine di quest’amore.

III

La terza scena è nel film Nostalghia (1983) e fa vedere un avvenimento spettacolare nella Piazza del Campidoglio a Roma: c’è un comizio di malati mentali e Domenico, il matematico pazzo, è salito sul monumento equestre di Marco Aurelio e dopo un discorso – come veniamo a sapere – pressoché interminabile34, si dà fuoco e muore per protesta. Per restauro il monumento era sormontato da impalcature e così si poteva salirci sopra. Dubiterei che ad esempio in Germania sarebbe stato concesso il permesso per queste riprese, a parte la considerazione se abbiamo piazze allo stesso livello artistico. Evidentemente esiste o esisteva in Italia un rispetto per il lavoro artistico che permetteva la cosa. (Il sindaco di Roma era all’epoca un comunista, se non sbaglio.) Si potrebbe chiedersi quanto realistico fosse un comizio di questo tipo per giornate intere in una piazza così importante. Ma se Tarkovskij ha ottenuto il permesso di filmare questa scena, forse anche Domenico e i suoi compagni avrebbero ottenuto il permesso per un comizio del genere.

Tarkovskij non ha fatto nulla per rendere visibile il lavoro geniale di Michelangelo in questa piazza – del resto, come sarebbe possibile?- ma se ne serve per dare risalto storico alla scena. Questa infatti è la piazza che con Marco Aurelio simboleggia l’autorità civile. Si aggiunga a questo che Roma è il simbolo del caput mundi, quindi Domenico si rivolge con il suo discorso e la sua azione a tutto il mondo35.

In uno dei molti lunghi intervalli forzati al lavoro che deprimevano il regista, Tarkovskij scrisse già nel settembre del 1970 nel suo diario una lunga lamentela angosciosa sullo stato dell’umanità giungendo alla conclusione: «La grandezza dell’Uomo contemporaneo sta nella protesta. Gloria a colui che si dà fuoco per protesta davanti alla folla ottusa e priva di occhi, a colui che protesta sulle piazze con cartelli e slogan, affrontando l’inevitabile repressione e a tutti coloro che dicono no ai approfittatori e ai senzadio.» (9.9.)36

Come fosse arrivato all’idea piuttosto estrema dell’autoimmolazione è incerto. È possibile che conoscesse già il famoso film di Ingmar Bergman Persona (1966): la scena in cui una delle due protagoniste del film (Liv Ullmann) guarda inorridita l’autoimmolazione di un monaco buddista in Vietnam alla televisione37. È anche possibile che attraverso il Samizdat abbia saputo dell’autoimmolazione del giovane studente ceco Jan Palach il 16 di gennaio 1969 sulla piazza San Venceslao a Praga.- Domenico esclama: «Quale antenato parla in me?» Potrebbe essere una domanda di Tarkovskij. Si era interessato dei “vecchi credenti” che nel tardo Seicento erano stati perseguitati in Russia e in parte si erano incendiati38. Forse anche la fine sul rogo del domenicano (quindi membro del Ordo Praedicatorum) Girolamo Savonarola ha occupato l’immaginazione del regista39.

Tarkovskij voleva, a quanto pare, che questa scena in piazza del Campidoglio avesse lo stesso impatto che della scena alla televisione in Persona. Il fatto nel film di Bergman è così orribile perché questo monaco veramente si stava bruciando, mentre nessuno sarebbe stato sorpreso di vedere Erland Josephson, l’attore che impersonava Domenico, in discreta salute durante una immaginaria conferenza stampa dopo l’uscita del film.

Il regista ha escogitato un’espediente davvero singolare. Quando Domenico con l’accendino in mano si accinge ad eseguire l’azione, la cinepresa si concentra su un folle ai piedi del monumento che imita le azioni di Domenico in pantomima. Non vediamo quindi tanto in diretta il prendere fuoco, il crollo ed gli spasmi di Domenico, ma nella pantomima di questo pazzo. In questa maniera rientra nell’inquadratura il fatto che prendiamo la scena non per reale ma come fittizia e viene così problematizzato. In questa maniera, per un attimo, viene messa in discussione questa nostra convinzione.

Geniale in questa scena è anche l’uso della musica. Già durante la visita di Gorčacov nella fabbrica abbandonata abitata da Domenico, quest’ultimo ha fatto sentire un pezzo della Nona Sinfonia di Beethoven e in quest’occasione ha annunciato enigmaticamente che si stava preparando qualcosa di importante a Roma.

Alla fine del suo discorso dal monumento esclama: “E adesso la musica!” Tra la gente sulle scale nei intorni della piazza che ha finora assistito immobile all’avvenimento c’è un po di movimento. Qualcuno sale sull’impalcatura del monumento e porta una scatola metallica rettangolare che in un primo momento poteva sembrare un altoparlante, dal momento che si parlava di musica, ma poi si capisce che è un barattolo di benzina. La musica si fa aspettare. Domenico svuota il barattolo su di sé e tenta di accendere l’accendino. Qualche secondo tenta invano, poi, improvvisamente, vediamo le fiamme e in simultanea “divampa” la musica: non è un inizio liscio e piano, ma un prorompere espressivo. Tarkovskij ha accostato fuoco e musica in modo da realizzare una sinestesia. Sentiamo il coro della Nona Sinfonia di Beethoven. Ma proprio quando l’inno alla gioia di Friedrich Schiller arriva alle parole: «Alle Menschen werden Brüder – tutti gli uomini diventano fratelli» la musica muore e sentiamo solo l’urlo inarticolato di Domenico.40

Sorprende l’audacia con cui Tarkovskij si comporta di fronte a due altri geni. Claudio Abbado, che nell’83 ha realizzato insieme con il russo il Boris Godunov di Modest Mussorgskij a Londra, ha sottolineato l’estremo rispetto per la musica che secondo lui contraddistingueva il regista41. Qui tratta Beethoven e Schiller in modo quasi temerario42, ma in questo modo mette in luce un piccolo particolare che i due autori nella foga del loro entusiasmo illuministico avevano trascurato o semplicemente ignorato: che la fratellanza universale ha un prezzo. Gesù Cristo, che ha pregato per l’unità tra tutti gli uomini, ha pagato per ciò con il suo grido di abbandono in croce e la suo morte; un nesso che è stato messo in luce da Chiara Lubich in un libretto dell’8443, Tarkovskij – con la sua intuizione artistica – ha toccato questo mistero. (Nel suo discorso Domenico ha anche parlato d’unità 44, già nella conversazione con Gorčacov nella sua fabbrica aveva usato l’esempio di due gocce d’olio che formano una goccia più grande.)

Dopo il suo grido sembra che Domenico muoia. C’è un taglio e vediamo Gorčacov a Bagno Vignoni che si prepara ad attraversare il antico bagno termale ora senz’acqua45, per rimanere fedele alla promessa data a Domenico. Poco prima nel film, nei ruderi di una chiesetta invasa dalla palude, viene recitata in traduzione italiana una poesia di Arsenij Tarkovskij che crea un nesso tra l’azione di Domenico e quella di Gorčacov:

«…E non più quando è notte/ alle mie spalle splendono due ali./ Nella festa candela mi sono consumato./ All’alba raccogliete la mia disciolta cera/ e lì leggete che piangere è di cosa andare superbi./ Come donando l’ultima porzione di letizia/ morire in levità e al riparo di un tetto di fortuna./ Accendersi postumi come una parola.»

C’è difatti un attimo in cui le fiamme dietro Domenico sembrano delle ali, e il monumento equestre si trasforma in Pegaso, un monumento alla poesia, mentre Gorčacov si consuma come candela46. L’ultima parola della poesia è particolarmente felice e la auguriamo sia al padre poeta che al figlio regista: «accendersi postumi come una parola.»

A differenza dell’azione di Domenico l’azione del russo non è per niente spettacolare, si svolge in presenza di due o tre testimoni, ma non meno assurda. Ci accorgiamo che la salute di Gorčacov è pessima: si appoggia spossato sul bordo della vasca e pesca con la mano la medicina dalla borsa del suo vecchio cappotto. Gorčacov avanza lentamente proteggendo la fiamma della candela con estrema cautela. A metà strada si spegne la candela, lui ritorna al punto di partenza, riaccende la candela, tocca il muro – come in un gioco da bambini – e riparte. Stavolta la fiamma resta accesa più a lungo, ma poi di nuovo si spegne. Quasi non ce la fa a ritornare Gorčacov, ma ritorna comunque e riparte una terza volta. Questa volta riesce ad arrivare all’altro lato del bacino, riesce ancora a fissare la candela accesa sul muro e muore sfinito. L’attore Oleg Jankovskij ha raccontato anni dopo come Tarkovskij gli aveva chiesto di rappresentare in questa scena tutta la vita di un uomo47. Nel suo diario subito dopo il passo citato sopra Tarkovskij aveva scritto: «Elevarsi al di sopra della semplice attitudine a vivere, prendere coscienza praticamente della corruttibilità della nostra carne in nome del futuro, in nome dell’immortalità…»48 Il gesto escogitato da Domenico è da vedere in contrasto con il vivere tranquillo e sonnolento nell’annebbiamento del bagno termale che avevamo visto molto prima nel film e che Domenico, guardando queste persone per bene immerse fino al collo nell’acqua tiepida, aveva commentato: «Vogliono vivere eternamente!» La candela accesa è un’immagine per la vita interiore, la fede che bisogna custodire, mantenere. L’esistenza è vista così come una prova per un tempo limitato49.

La pazzia che ha portato al suicidio Domenico ha anche l’aspetto di una protesta contro una società satura, spiritualmente atrofizzata. L’immobilità surreale delle persone radunate nella piazza del Campidoglio, il loro concentrarsi su se stesse, evidenziato per esempio nella donna tutta concentrata sul piccolo specchio rotondo da make-up o in un uomo che è in posa come per un monumento della propria importanza, è da vedere come un parallelismo con il sogno del musicista russo Sosnofskij che viveva in Italia qualche secolo fa. La lettera che racconta il sogno viene letta nell’albergo a Bagno Vignoni: Aveva sognato che doveva preparare una grande opera lirica nel parco del suo padrone, il conte. Nel primo atto doveva come tanti altri rappresentare una statua nuda, dipinta di bianco. Non dovevano muoversi assolutamente perché il conte, che li osservava personalmente, minacciava gravi punizioni in questo caso. Sosnofskij sentì salire il freddo e le forze gli vennero a mancare quando si svegliò tutto angosciato perché si era accorto che non era un sogno, ma la sua realtà50. È la realtà dell’occidente come era sperimentato da un russo un po’ di tempo fa. Probabilmente molti di noi esiterebbero a riconoscersi in questo specchio, eppure bisogna ammettere che il sogno del musicista russo ha qualcosa di molto convincente. Forse dobbiamo vivere con questa provocazione51.

Tarkovskij colpisce lo stesso chiodo con un’altra scena: quando Gorčiacov vuole parlare con Domenico va, accompagnato da Eugenia, alla vecchia fabbrica. Davanti alla porta il pazzo sta pedalando una vecchia bicicletta stazionaria e non smette neanche quando Eugenia si avvicina per parlare con lui. Perché sta pedalando? Essendo lui pazzo non c’è da meravigliarsi tanto. Forse era una canzone del noto cantautore russo Vladimir Vysockij a ispirare a Tarkovskij quest’idea. Vysockij, che dopo «una vita spericolata» morì nel ’80 a solo 42 anni, nel ’68 aveva preso di mira nella canzone sarcastica Ginnastica coloro che, appunto, «vogliono vivere eternamente».

L’uomo sulla bicicletta statica evoca l’immagine del criceto nella ruota e così nell’immaginazione si aumenta la velocità del movimento: tanta agitazione che non va da nessuna parte. Il culto della frenesia del fare, nel cinema e nella vita vissuta, è oggi forse più forte che nei giorni di Tarkovskij. Tutti vogliono essere uomini di azione, muovere qualcosa. La “vis polemica” del russo non ha perso di attualità, anzi! Anche questo mostra la forza profetica della sua arte.

Rimarrà un mistero se Domenico è veramente pazzo o piuttosto un pazzo finto52, un jurodivyi, un “folle in Cristo” nella tradizione della vecchia Russia che provoca la mentalità vigente con le sue azioni strane. Ma chi sta provocando Domenico? Solo Eugenia e Gorčacov lo vedono. E tutti quanti che vedono il film. Tarkovskij anche in altri suoi film si è rivolto direttamente al suo pubblico e ciò è contro il “bon ton” del cinema, certo. Il vero jurodivyj in azione è quindi il regista stesso53. Un’altra provocazione: Gorčacov che, sfinito, con passo titubante procede nel bacino vuoto (e ci ruba alcuni minuti lunghissimi del nostro tempo prezioso) sembra essere uno dei pochi che compiono un’azione in questo film.

Tatjana Goritcheva vede i filosofi kinici dell’antica Grecia come precursore dei jurodivyi russi54 e il più noto tra loro era Diogene. Le scene a Bagno Vignoni ed in piazza del Campidoglio sono in contemporanea. Si può immaginare una sovraimposizione delle due scene: Gorčiacov che con la candela accesa va in piazza del Campidoglio in cerca di «un uomo», come Diogene sul mercato di Atene55.

In piazza del Campidoglio il film finisce con un cenno conciliatorio: quando Domenico muore sdraiato si vede nella lontananza Eugenia arrivare di corsa sugli scalini della piazza, la mano alzata al volto in terrore. Eugenia, l’interprete, che si era prima manifestata inesorabilmente “occidentale”, fa ora vedere una reazione umana. Così il regista, che in genere non amava le mezze misure, finisce questa scena con uno spiraglio di speranza56.

1 Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky A Visual Fugue, Indiana University Press 1994, p.303, nota 14: “According to the cameraman Vadim Yussov, Tarkovsky broke his own rule of ‘no surprises during shooting’ by throwing the geese in front of the camera without warning.”

2 “panic-stricken townspeople milling confusedly in slow motion, their vulnerability accentuated by geese that enter the frame from above, flapping clumsily and awkwardly downwards.” op. cit. p. 95

3 Tarkovskij, A., Končalovskij, A., Andrej Rublëv. Sceneggiatura del film, Maggioli Editore Santarcangelo di Romagna, 1983

4 C’è un particolare nel film (nel terzo episodio) dov’è rimasta un’altra traccia minima del capitolo sulla caccia dei cigni: Quando Rublëv nella foresta incontra il grande pittore di icone Teofane il Greco, il suo aiuto, Foma, trova il cadavere mezzo decomposto di un cigno e mostra, estendendola, la meraviglia di una sua ala. Tipico per Tarkovskij mi sembra che scopre il bello nell’apparente bruttura. Qui si deve ricordare che Tarkovskij per tutta la vita era affascinato da Leonardo da Vinci: anche i disegni di Leonardo dedicati al sogno del volare, per la costruzione delle ali avranno contribuito a questo fascino. Tarkovskij ha parlato della sua ammirazione per Leonardo nell’ultima sua intervista, concessa a Le Figaro in ottobre del ’86. C’è una traduzione in italiano a cura di Donata De Bartolomeo e si trova su questo sito: http://www.fralenuvol.it/albero/arte/tarkovskij

5 Nel film Solaris (1972) la caccia appare come simbolo dello smarrimento dell’uomo. Il quadro di Pieter Bruegel Il ritorno dei cacciatori (Kunsthistorisches Museum, Vienna, 1565) indica che l’uomo ha perso il posto giusto nella creazione. L’allusione al famoso quadro di Rembrandt del Ritorno del figlio prodigo (Eremitage, San Pietroburgo, 1668) alla fine di Solaris,che mostra la visione del ritorno nella casa paterna, è da vedere insieme con il quadro di Bruegel. (Allusioni alla caccia sono in Solaris sia nella scena sognata del ritorno alla madre, sia nella casa del padre corni da caccia appesi alla parete.) Anche l’aspetto dell’invidia come motivo inconscio della caccia è sparito. All’ interno del Rublëv poteva avere un suo significato, perché nel “prologo” del film viene mostrato il volo come un sogno dell’umanità che porta però ad un fallimento brutale.

6 A. Tarkovskij, Scolpire il tempo, Ubulibri Milano 1995, p. 63

7 «L’orribile è sempre racchiuso nello stupendo, così come lo stupendo è racchiuso nell’orribile… La vita è compenetrata dal lievito di questa contraddizione grandiosa fino all assurdo che nell’arte si presenta in una unità contemporaneamente armonica e drammatica.»

«Perciò l’immagine artistica non può essere unilaterale, per potersi dire veridica deve riunire in se stessa la contradditorietà dialettica dei fenomeni.» Andrej Tarkovskij, Scolpire il tempo, op.cit. p.38 s.) Sull’ Internet si trovano diversi siti di cui gli autori si sono ispirati a queste parole. Come era da temere ivi si trova tanto di orribile e poco di stupendo.

8 Poesie giapponesi di diciasette sillabe; A. Tarkovskij, Scolpire il tempo, p. 98

9 Vedi l’articolo in italiano su Du Fu in Wikipedia; Reinhard Emmerich. Östliche Han bis Tang. in: Reinhard Emmerich (Hg.): Chinesische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, pp. 88–186

10 Scolpire il tempo, p. 98

11 Anche nell’episodio della festa pagana del Rublëv nella foresta ad un certo punto volano su uccelli bianchi. In questo caso il fatto contribuisce alla “magia” della scena, ma non ha la stessa densità di significato come nella scena qui analizzata.

12 Paragoni di questo tipo sono evidentemente ammissibili solo in grosso modo: la poesia classica cinese ha la fama di essere di un rigore formale e di una ricchezza “musicale” che – almeno in genere – non conosciamo.-

Del fatto che il genio abbia a che fare con la grazia Tarkovskij era cosciente. Per illustrarlo basta citare un’episodio che racconta nei diari, Martirologio. Diari 1970 -1986, Firenze 2002, il 6 aprile 1973: «Chissà perché ho ripensato a quando avevo perduto il manoscritto della sceneggiatura del Rublëv (di cui non possedevo neanche la minuta). L’avevo lasciato in un taxi all’angolo di via Gorkij (di fronte all’albergo Nazionale). Il taxi se n’era andato e io per la disperazione mi sono preso una sbronza. Dopo un’ora sono uscito dal Nazionale e sono andato al VTO. Due ore dopo, mentre scendevo per via Gorkij, all’altezza di quello stesso angolo della strada dove avevo perso il manoscritto, vedo un taxi che (andando contromano) mi ha raggiunto, frena e l’autista dal finestrino mi tende il mio manoscritto. Se non è un miracolo questo…» Al Meeting di Rimini dell’83 ha raccontato la storia delle «due bottiglie di cognac» a circa 18000 partecipanti di CL (cf. Andrej Tarkovskij, Diari, op.cit., 27 agosto 1983) Tarkovskij aveva iniziato i lavori per il Rublëv con la consapevolezza di questo miracolo.

13 Nei diari si vede che nella mente di Tarkovskij il titolo Il ruscello pazzo per il film ha avuto una breve fortuna ( Diari, 23 dicembre 1972: «Sembra che mi diano il via per Un bianco giorno che ho reintitolato Il ruscello pazzo. Non passerà, probabilmente, peccato!»)

14 «Non so cosa ne sarebbe stato del film se il campo di grano saraceno non fosse fiorito…» A.Tarkovskij, Scolpire il tempo, op.cit., p. 124

15 Schmatloch, Marius: Andrej Tarkowskijs Filme in philosophischer Betrachtung, Remscheid 2003; l’autore vede Tarkovskij come solipsista.

16 Simonetta Salvestroni ha tradotto la fine di una poesia di questo titolo del padre Arsenij Tarkovskij: «[…] mio padre sta sulla soglia/ luminoso, luminoso giorno […] Non sono mai stato / Felice come allora. / Tornare là non è possibile / Né è possibile raccontare/ come era pieno di beatitudine questo paradiso.» Simonetta Salvestroni, La tradizione culturale e spirituale russa nel cinema di Andrej Tarkovskij («Rublëv» e «Lo specchio») AAM TAC 1, Arts and Artifacts in Movie – Technology, Aesthetics, Communication Nr.,1Giovanni Morelli (direttore) Istituti editoriali e poligrafici internazionali Pisa-Roma, 2004, pp. 13- 40, p. 28

17 Un fatto che sottolinea la veracità del regista, il suo senso acuto della fugacità della bellezza, della vita. Questo motivo della fugacità ritorna altre volte nei film di Tarkovskij nonostante la loro esasperata lentezza. Per esempio nello Specchio una tazza di the levata da un tavolo lascia una macchia di umidità che lentamente svanisce. Un fatto banale, quotidiano, però drammatizzato dal suono di un synthesizer con un volume gradualamente aumentato. Poco prima una signora misteriosa seduta a questo tavolo aveva chiesto al ragazzo Ignat di leggere in un libro un passo della corrispondenza tra Puškin e Čaadaev, ma lo ammoniva di non perdere tempo; proprio sfogliando i libri si perde facilmente e volentieri tempo. –

Tarkovskij ha posto al centro del film una poesia del padre Vita, vita che coniuga, in palese contraddizione, la convinzione dell’immortalità e questa fugacità: “...Non esiste la morte./ Immortali siam tutti e tutto è immortale./Non si deve temere la morte né a diciasette/ Né a settant’anni./Esistono solo realtà e luce … le tenebre …e la morte non vi sono. ” ma la poesia si conclude così: “Per un angolo sicuro di tepore/ darei la vita di mia volontà/ qualora la sua cruna alata/ non mi svolgesse più,/ come un filo,/per le strade del mondo.”

18 Roberto Calabretto, La musica nel cinema di Andrej Tarkovskij, pp.13-33 in : L’aurora immortale, Le arti e il cinema, a cura di Neil Novello, Bologna 2004; qui p. 22 s.

19 Ad ispirare quest’immagine era probabilmente una fotografia luminosissima della madre giovane, seduta su una balustrata di legno con un vestito bianco e i capelli anche in un chignon; dietro a lei betulle giovani, snelle, primaverili. Forse questa foto ha contribuito anche all’idea del titolo Un bianco, bianco giorno. La foto si trova nei Diari, op. cit., p. 126

20 Tarkovskij ha spiegato questo ed altro nel capitoletto Sull’attore del cinema, in Scolpire il tempo, op.cit. pp. 134 -145, sulla scena in questione, p. 132

Diari, 14. 4. 73: «Leggo le lettere di Bernard Shaw: ‘Non è sorprendente che il peccato che meno si perdona a un attore sia di essere davvero quello che impersona, invece di limitarsi a impersonarlo?’»

21 Vedi l’articolo in italiano su Wikipedia (http://it.wikipedia.org/wiki/Andrej_Tarkovskij), dedicato a Tarkovskij che giudica l’attrice nel ruolo dell’interprete Eugenia «inespressiva». Domiziana Giordano, che in certe scene del film sembra una marionetta, coll’andare del tempo verrà rispettata, così mi pare, per la sua personalità poliedrica e anche per il suo contributo a questo film. –

22 Siamo arrivati, un’po prima del previsto, alle contraddizioni. Nostalghia doveva essere un grido d’allarme ed una poesia monumentale (quasi) ermetica allo stesso tempo. Le due cose si escludono mutualmente, si direbbe. Invece a me sembra che “la quadratura del cerchio” sia riuscita.- Tarkovskij cita nel suo libro Dostoevskij per dire che l’arte non deve imitare la vita. Essa stessa crea una vita per certi versi superiore alla vita stessa: «l’arte, dicono, deve rispecchiare la vita eccetera. Sono tutte sciocchezze: lo scrittore (il poeta) crea lui stesso la vita, e una vita tale, per di più, che prima di lui neppure esisteva in tutta la sua pienezza.» (A. Tarkovskij, Scolpire il tempo, p.171) In genere si accettano nei film le cose più inverosimili. L’accusa di mancante realismo spesso viene fatta quando un film per qualche altro motivo non va a genio.

23 Aver trovato l’attrice Margarita Terechova per Tarkovskij era provvidenziale. Lui dice di lei che provoca nello spettatore reazioni contrastanti di attrazione e ripugnanza allo stesso tempo. Il regista ha inserito nel film un quadro di Leonardo da Vinci, il ritratto di Ginevra de’Benci (c. 1474, Olio su legno, 38.1 cm × 37 cm, National Gallery, Washington, D.C.) perché anche questo ha l’effetto di provocare reazioni contrastanti. La pagina su questo quadro è tra le più misteriose del libro. (A. Tarkovskij , Scolpire il tempo, op.cit. p. 100) L’attrice impersona nel film sia la madre Masha che la prima moglie (divorziata) Natalja. Bisogna ammettere che il regista fa vedere nel ruolo della madre di piú i tratti attraenti, nel ruolo della moglie piú i ripugnanti.

24 Per l’antieroicità dei caratteri preferiti da Tarkovskij cf. Fabrizio Borin, L’arte allo specchio, Il cinema di Andrej Tarkovskij, Roma 2004, p. 60 s.

25 Natasha Synessios, Mirror, London 2001, p.21

26 Fa pensare al discorso slegato eppure memorabile del scienziato “impazzito” Domenico sulla piazza del Campidoglio a Roma in Nostalghia (1983): «…bisogna che nei cervelli occupati dalle lunghe tubature delle fogne e dai muri delle scuole, dagli asfalti e dalle pratiche assistenziali, entri il ronzio degli insetti. Bisogna riempire gli orecchi e gli occhi di tutti noi di cose che siano all’inizio di un grande sogno.»

27 In questo senso si esprime anche Simonetta Salvestroni con i suoi commenti molto attinenti, op.cit., p.27: «Nel momento in cui percepisce l’affinità fra la sua esistenza e quella del mondo vegetale, l’unità dell’universo percorso da un unico flusso vitale, il personaggio coglie qualcosa di essenziale per il protagonista e per l’autore di Zerkalo. Non credere nella natura – ovvero essere indifferenti alla sua presenza nella nostra vita – è una perdita grave: significa smarrire il significato del nostro essere al mondo, dei legami che ci uniscono a tutto ciò che vive.»

Il slavista americano Robert Bird ha ordinato un suo libro su Tarkovskij secondo i quattro elementi: fuoco, acqua, terra e aria. (Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema, London 2007). Un altra eccezione è: Sean Martin, Live in the House and the House Will Stand: The Role of Autobiography and Lived Experience in Tarkovsky’s Films and Aesthetic, p.6 – 39 in Through the Mirror: Reflections on the Films of Andrei Tarkovsky, edited by Gunnlaugur A. Jónsson and Thorkell Á. Óttarsson, Cambridge 2006, p. 9: “He walked many hundreds of miles along the river Kureika, where he spent a lot of time drawing and thinking… his year in the Siberian taiga would serve as a dramatic base line for nearly all his subsequent work: nature is ever present in his films – often celebrated, always mysterious – as is the lone protagonist, struggling to make sense of his own destiny and, in the later work, that of humanity as a whole.“- Sullo sfondo dell’esperienza nella taiga diventa anche comprensibile il discorso ricorrente della banalità dei nostri discorsi e l’attrattiva del silenzio: Andrej Rublëv fa una specie di voto di tacere che abbandona alla fine del film. In questo caso il silenzio è interpretato in chiave negativa. Ma nello Specchio dice l’io, Alexej, alla madre che per alcuni giorni non ha parlato per via di un’angina e parla della “debolezza” delle parole. In Offret il figlio di Alexander ha avuto un’operazione alla gola e ricomincia solo alla fine del film a parlare. Il medico Victor ricorda che Gandhi soleva tacere un giorno alla settimana.

28 Mentre il doppiaggio italiano e i sottotitoli inglesi menzionano il nome di Čechov, il doppiaggio tedesco riporta solo la domanda di lei: «E la corsia No. 6?» Risponde il medico: «Ah, lui l’ha solo immaginato.» Suppongo che è la versione più fedele all’originale. È, quindi, un’allusione che facilmente si sorvola. Certo, Čechov era un scrittore dell’Ottocento, non contemporaneo, ma se si tiene in mente che all’epoca del film in Unione Sovietica si mandavano i dissidenti nei riparti chiusi degli ospedali psichiatrici, bisogna dire che Tarkovskij qui giocava con il fuoco. Ha continuato a giocare anche in Stalker ed in Nostalghia, non per giocare, ma perché per lui l’arte doveva essere verace. Scrive anche in questo senso Alessio Scarlato, La Zona del Sacro

L’estetica cinematografica di Andrej Tarkovskij, Palermo 2005, p.16: «Marija ironizza al discorso del dottore, paragonandolo al medico di Čechov ne La corsia n.6. Questa era un reparto di un ospedale per malattie mentali, dove la“pazzia” del protagonista, il dottor Ragin, veniva certificata dal suo dedicarsi a conversazioni sui “massimi sistemi” con un internato. ‘Quella è solo l’immaginazione di Čechov’, afferma il passante, sottolineando implicitamente al contrario l’attualità in epoca staliniana della carcerazione per malattia mentale per chi si occupasse di “massimi sistemi”.» In epoca staliniana si aveva metodi più radicali: o la morte o la Siberia. Era negli anni settanta che ospedali psichiatrici per dissidenti erano di moda.

29 A. Tarkowskij, Scolpire il tempo…, op.cit. p. 117, verso la fine del capitolo sull’immagine filmica.

30 Cf. A. Tarkovskij, Diari, 4 febbraio 1973, 12 dicembre 1973

31 Jerzy Illg e Leonard Neuger, I’m interested in the problem of inner freedom in traduzione inglese sul sito Nostalghia.com; l’versione in polacco: Z Andriejem Tarkowskim rozmawiają Jerzy Illg, Leonard Neuger, in Res Publica (1), Warsaw 1987, pp. 137–160. «There is one episode in the film in which the boy, Ignat, is sitting… not Ignat… what was his name? — the author’s son, he is sitting in his father’s empty room, in the present, in our times. This is the narrator’s son although the boy plays both the author’s son and the author himself when he was a boy. And as he is sitting there we hear the doorbell, he opens the door and a woman enters and she says: ‘Oh, I think I’ve got the wrong place’ – she was at the wrong door. This is my mother. And she is the grandmother of this boy who opens the door for her. But why doesn’t she recognise him, why doesn’t the grandson recognise her? – one has completely no idea. That is – firstly, this wasn’t explained by the plot, in the screenplay, and secondly – even for me this was unclear.- (C’è un episodio che Ignat, il figlio dell’autore, è seduto nell’appartamento del padre nel presente, nei nostri tempi. … Sentiamo il campanello della porta, lui apre, c’è una donna e lei dice:’O, mi sembra che sono al posto sbagliato’ era alla porta sbagliata. È la mia madre. Ed è la nonna del ragazzo che apre la porta per lei. Ma perché non lo riconosce, perché il nipote non riconosce lei?- non si ha minima idea di questo. Non era spiegato nella sceneggiatura – anche per me non era chiaro.)» Il fatto che la nonna non riconosce il proprio nipote e viceversa è qualcosa di molto doloroso, ha qualcosa di un incubo. Il film è organizzato con la logica dei sogni che possono essere più o meno belli.

32 Daniela Fanelli e Vittorio della Torre, Andrej Tarkovskij, poeta dell’immagine, Città Nuova, 25 gennaio 1987, pp. 26-29, qui p.29: «L’uomo, ha detto, deve aspirare alla grandezza spirituale, costruire piramidi, lasciarsi dietro qualcosa che obblighi chi lo seguirà a decifrare per millenni gli enigmi…». In verità, nell’intervista con Charles H. de Brantes (l’attuale direttore dell’ Institut Andreï Tarkovski di Parigi), aveva parlato di milioni di anni, propenso all’esagerazione come era; cf. John Gianvito, Andrei Tarkovsky Interviews, 2006, Mississippi University Press, p. 182

33 Pervye svidanija, in A. A. Tarkovskij, Poesie scelte, traduzione di Gario Zappi, Milano 1989; la traduzione italiana della poesia si trova sull’Internet almeno una dozzina di volte. Molto bello il commento di Simonetta Salvestroni, op.cit. p. 29: «Mentre lo spettatore ascolta questi versi, ricordati dalla madre dopo l’incontro con lo

sconosciuto, che ha risvegliato la sua femminilità, la macchina da presa segue la donna nel suo rientro in casa e si sofferma a inquadrare gli angoli di questo interno, le sue luci e le sue ombre, il tavolo, le “cose semplici” trasfigurate nella poesia perché legate all’intimità dei rituali di un amore vissuto come un’epifania (bogojavlenie).»

34 Eugenia, l’interprete, dice al telefono a Andrej Gorčacov che Domenico sta predicando a Roma ore e ore «come Fidel Castro».

35 Facilmente si associa qui il Capitol a Washington, quindi un centro di potere nel mondo attuale.

36 Andrej Tarkovskij, Diari,op.cit.

37 In una conversazione con il critico cinematografico Leonid Kozlov nel 1972 Tarkovskij ha elencato i dieci film che più ammirava, tra essi anche Persona; Tom Lasica, Sight and Sound, marzo 1993, volume 3, issue 3

38 In una intervista aveva detto di voler fare un film sull’arciprete Avvakum Petrov, il capo dei vecchi credenti; intervista con Aleksandr Lipkov il 1 febbraio 1967; traduzione in inglese di Robert Bird su Nostalghia.com.- Poco prima della comparsa dell’arciprete Petrov c’erano tendenze di vedere nell’autoimmolazione e nel digiuno fino alla morte le uniche strade alla salvezza. Un certo Vasilij Volosatyj propagava queste idee (Gerhard Hildebrand, Protopop Avvakum und das Phänomen der Selbstverbrennung, pp.531 ss. in: Slawistische Studien zum V. Internationalen Slawistenkongress in Sofia 1963, Göttingen 1964)

L’interprete Eugenia racconta a Gorčacov di aver letto in un giornale che una domestica proveniente dal sud dell’Italia aveva „per nostalgia“ messo fuoco alla casa del suo padrone al nord. In interviste Tarkovskij aveva già detto che la nostalghia russa non è un sentimento che può essere anche piacevole, ma un fuoco divoratore. Tarkovskij ha definito la nostalghia russa uno “struggimento che divora”, p. 22 in: Enzo Natta, Andrej Tarkovskij –scolpire il tempo, pp. 20 – 23, in Città Nuova, 10 luglio 1983. Da tutto ciò risulta che l’autoimmolazione di Domenico non è soltanto un atto di protesta come nel caso di Jan Palach ed altri, ma in qualche modo espressione di una “nostalgia spirituale”.

39 Il 21 di febbraio 1972 si trova la breve nota nel diario: “Trovare delle informazioni su Savonarola e sui suoi rapporti con Botticelli.”

40 Qualcuno vuole aver capito che urla il nome del suo cane Zoé, l’unico essere vivente sulla piazza che mostra qualche reazione all’avvenimento, ma non posso confermarlo.

41 Nel documentario di Ebbo Demant, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Andrej Tarkowskijs Exil und Tod, 1987; si può trovare l’intero documentario su youtube nell’ internet. Abbado parlava tedesco.

42 D’altronde sarebbe stato difficile di inserire questo musica conosciutissima in modo non violento nel film. Dal libro Scolpire il tempo risulta che Tarkovskij ha riflettuto attentamente sull’uso della musica nei film. Il regista ha relativamente tardi deciso di usare la musica di Beethoven; sembra che abbia originalmente pensato al Tannhäuser di Richard Wagner.

43 Chiara Lubich, L’unità e Gesù abbandonato, Roma 1984, 9 edizione 2005

44 «Il nostro cuore è coperto d’ombra, bisogna ascoltare le voci che sembrano inutili. […]
Bisogna alimentare il desiderio, dobbiamo tirare l’anima da tutte le parti come se fosse un lenzuolo dilatabile all’infinito.
Se volete che il mondo vada avanti, dobbiamo tenerci per mano, ci dobbiamo mescolare, i cosiddetti sani e i cosiddetti ammalati.
Ehi, voi sani!
Cosa significa la vostra salute? […]
Dove sono, quando non sono nella realtà e neanche nella mia immaginazione? Faccio un nuovo patto con il mondo, che ci sia il sole di notte e nevichi d’agosto.
Le cose grandi, finiscono!
Sono quelle piccole che durano!
La società deve tornare unita e non così frammentata; basterebbe osservare la natura per capire che la vita è semplice e che bisogna tornare al punto di prima, in quel punto, dove voi avete imboccato la strada sbagliata.
Bisogna tornare alle basi iniziali della vita, senza sporcare l’acqua.»

45 Anche il fatto che il bacino termale ora è svuotato lasciando solo del fango malsano parla della transitorietà dell’esistenza.

46 28./29. 4. 80: «lavorato bene con Tonino Guerra “la candela”». C’è una poesia di Tonino Guerra di questo titolo.

47 Oleg Jankovskij, How we shot the ‘Inextinguishable Candle’ episode for Nostalghia, su: Nostalghia.com

48 A. Tarkovskij, Diari, 9 settembre 1970

49 Nel film si sente ripetutamente nella lontananza il suono monotono di una sega circolare (soprattutto nella fabbrica di Domenico). Nell’immaginazione evoca pezzi rettangolari di legno, come è rettangolare il bacino del bagno termale. Il suono della sega diventa così un’allusione che parla della finitezza, della morte.

50 Il testo della lettera si trova in: Fabrizio Borin, L’arte allo specchio, op.cit. il capitolo su Nostalghia, pp. 211 – 227, p. 225 s., nota 22; la lettera è stata inventato da Tarkovskij insieme con Tonino Guerra, il 16. 6. 1980: “Abbiamo costruito la lettera…”

51 Tarkovskij si era sempre più convinto che la civiltà occidentale era in declino. Il 25 di aprile 1980 scrive nel suo diario: «Ieri ho chiesto a Franco Terilli di trovarmi una traduzione russa de Il tramonto dell’Occidente di Spengler.»

52 Così anche nella scena in piazza del Campidoglio non si capisce chi è matto e chi non lo è. Forse il regista vuole dire che una distinzione netta non è possibile e che bisogna «tenersi per mano (…) i cosidetti sani e i cosidetti ammalati..»; cf.: Stefano Redaelli, Il senso della vita (e della follia) in Alda Merini in: Nuova Umanità, Roma, novembre – dicembre 2010, p.196

53 Nel ’76 Tarkovskij ha notato nel suo diario purtroppo senza indicazioni bibliografiche: «Scriveva Tolstoj:

– Se io fossi solo, sarei un folle di Dio, cioè non considerei niente di veramente prezioso in questa vita.

– Anche scrivendo bisogna essere dei folli di Dio.» (20 aprile 1976) Gìà lo Specchio era un po’ un «ruscello pazzo», dallo Stalker in poi Tarkovskij ha intrapreso la strada del jurodivyj con sempre più decisione.

Tatjana Goritcheva ha descritto come negli anni sessanta tra gli intellettuali in Unione Sovietica era molto prestigioso essere considerati dei “schizofrenici”, Tatjana Goritcheva, Die Kraft christlicher Torheit, Freiburg 1985, p.54 s.

54 Tatjana Goritcheva, Cinismo, follia in Cristo e santità, in Nuova Umanità, novembre – dicembre 1989, pp. 47 – 62, p.58

55 Tarkovskij ha parlato di «Diogene con la lampada» nell’ intervista con Jerzy Illg e Leonard Neuger, cf. Nota 30 e quindi si capisce che era una figura familiare nel suo mondo interiore.

56 Tarkovskij era comunque nella sua arte più equilibrato che nelle interviste o anche nel suo libro.

Andrei Tarkovsky a Prophet? Sacrifice and 9/11

Second and Third Thoughts

You don’t read Tarkovsky’s films; they read you.” (Harlan Kennedyi)

By Peter Seifert

Abstract:

Kennedy’s remark is not just witticism. In Sacrifice, Tarkovsky created a film we can use like a submarine to explore our interiors, both individual and collective. In his previous films, namely Mirror, this had antecedents, but none is, like Sacrifice, up to two thirds a dreamscape to be explored. The reference to 9/11, which one can find more or less convincing, is taken as a starting point to investigate the Christian roots of our civilization and the challenges to which they are exposed by nihilism. Unlike other films, Sacrifice is not so much entertainment, but asks us to make decisions.

[1] Andrei Tarkovsky’s last film Offret (Sacrifice, Жертвоприношение 1986) was completely realised in Sweden. He died of cancer in December 1986, not long after finishing his last film. Can the film of a director, who died so long ago, be related to 9/11? Tarkovsky experienced himself as a prophet of sorts. Circumstances surrounding his last two films Nostalghia (1983) and Sacrifice convinced him that he became increasingly an instrument of some divine force acting and speaking through him. Mostly, this was by no means a pleasant experience. In Nostalghia (1983), for instance, he described the sufferings of a Russian bereft of his country. Very soon, it became Tarkovsky’s own fate. Towards the end of his book Sculpting in Time, he quoted Alexander Pushkin, one of his heroes in Russian literature, with the poem The Prophetii. The poet is commanded by God: “See and hear, be filled with My Will and go forth over lands and seas setting fire to people’s hearts with The Word.”

[2] In Sweden’s press there was much ado about the fact that at the very site in Stockholm, where Tarkovsky had filmed a disaster scenario, only a few months later Sweden’s premier Olof Palme was shot deadiii. It is this precise scenario which I take as a starting point because Tarkovsky showed from above a site in the centre of Stockholm littered with debris, an overturned car and a demolished wooden chair. Much later in the film, the horror vision returns: a panicking crowd, visibly shaken and partly undressed, spilling down on a place in the inner city. What are they escaping from? It can hardly be the murder attack on a politician. People running away, after a nuclear attack, much feared at the time, aren’t a likely scenario either. Instead it looks very much like the dust-covered people rushing down the streets in Manhattan on September 11iv.

A Beacon and its Message

[3] To say that the film starts almost on a bright note would be a gross exaggeration, but at least there is the birthday party of Alexander, the main character. Alexander has been a famous stage actor and is still an accomplished writer. The same applies also to Erland Josephson who impersonates Alexanderv. Odd congratulations come in, more enigmatic than funny. But our concern is more the relationship to his son, who is strangely, and consistently, referred to as “Little Man”.

[4] The boy is in the first quarter of the film the object of Alexander’s prolonged doom sayings which were, in their “maudlin” verbosity simply annoying for some reviewersvi and are referred to by Victor, a friend and very practical medical doctor, as “his monologues”. Even if we want to be indulgent because it’s Alexander’s birthday, they are hard to endure.

These monologues, which could more precisely be described as extremely asymmetrical communication situations, have a long tradition in Tarkovsky’s films. In Andrei Rublëv the protagonist is quoting the Apostle Paul’s famous praise of love (1 Corinthians 13) when he speaks in a playful manner to the little princess. Certainly she does not understand much of it. In Nostalghia, the drunken Gorčakov tells the little girl Angela a joke in Russian, apparently not even hoping she could understand him. In Sacrifice, the asymmetry between Alexander and his son is emphasized by the fact that the boy can’t speak because of recent throat surgery. As an allegory for the relationship between the auteur and his audience it would denote a rather preposterous presumption. And yet, revisiting Tarkovsky’s films from time to time, after thirty, forty years, I start to understand something more. Tarkovsky was a man full of contradictions: claiming some superior insights, he saw himself at the same time lost in Dante’s wood until the endvii.

[5] Alexander is bashing our Western, formerly Christian civilization we take so much pride in. As he puts it bluntly, “We use the microscope like a cudgel”. Tarkovsky gestures here rather offhand in the direction of an awe-inspiring film: Stanley Kubrick’s 2001: A Space Odyssey (1968). In the end of the opening segment Dawn of Mankind an ape man throws a bone cudgel triumphantly into the air after discovering it as an apt instrument for killing. (He was inspired by a mysterious and sinister black monolith.) In one of the most famous cuts in the history of film a satellite of similar shape and – because of the distance- similar size appears in the darkness of space. The cut implies that the driving force behind this enormous flash-forward was and always has been – rather primitive. Kubrick has great thinkers in favour of his vision, not only Friedrich Nietzsche, who is introduced by the famous use of Richard Strauss’ Thus Spoke Zarathustra in the beginning of the film, but also the ancient Greek philosopher Heraclitus of Ephesus (535 – c. 475 BC) made the well-known statement: “War is the father of all things”.

[6] Tarkovsky took issue with that understanding of progress. For progress in the material sense it might be true. But this is precisely the point – in his later statements Tarkovsky deplored the growing chasm between material and spiritual progress of mankind, in wordiness equal to Alexander’s. Making reference to the microscope, the visionary somehow anticipated the “biological turn” we witnessed only some years ago in the war against terrorismviii.

[7] “Some intelligent person must have said that all possessions not strictly necessary are sin. Then our whole civilization from beginning to end is based on sin.” Alexander here attacks the sacrosanct, religiously revered tenet of private property. Tarkovsky, maybe, followed here Leo Tolstoyix. The Russian director was always torn between Dostoevsky and Tolstoy, the two towering Russian writers from the second half of the nineteenth century. In his last years, however, he was increasingly fascinated by Tolstoy, the tougher of the two, who had no qualms to take on the entire establishment of his country, church and statex.

Already on April 20, 1976, Tarkovsky noted in his diaryxi Tolstoy’s intention to live and even write like a “holy fool”, a yurodviryi. Tarkovsky followed this program in his last three films Stalker, Nostalghia and Sacrifice with ever-growing determination. In old Russia, the “holy fools” were provoking the devotees of common sense by their behaviour; they could even attack the tsar or the authorities.

[8] Under the threat of a nuclear war, Alexander promises to God to sacrifice his summer house and all that is dear to him if everything turns to normal. In the morning, the threat of war has vanished like a nightmare. Alexander is setting doggedly his much beloved house on fire. He is being chased across a primordial landscape of huge water puddles and mud by the employees of a mental institution and finally driven away in an ambulance, calling to mind the hilarious oldie: They are coming to take me away ha-ha!xii

[9] When a blaze engulfs the house and a menacingly growing black cloud is rising into an otherwise cloudless sky, it uncannily resembles the sky over New York on 9/11/2001.

After those devilish attacks some commentators felt sickened by the fact that similar explosions were such familiar sights in your average action movie. Tarkovsky was not known for being very much into special effects or pyrotechnics (even though he developed, in his own way, a liking for real fire). In fact, when they filmed the burning house everything seemed to turn out nicely, but then, halfway through, the camera jammed. A strange irony of fate: while filming the deflagration real disaster struck. Everybody on the set was devastated. It took the joint effort of the whole crew to rebuild the house within two weeks only to put it to flames once again, but this time to everlasting effect.

[10] Alexander is growing increasingly impatient with his own endless talking and finally wants to do something. His annoying verbosity mirrors the certainly not less annoying fact that in the Western world people keep talking for at least half a century that it is our duty to help those nations which are in need. But what is the point in destroying your house? Could he not have convinced his family to sell it, making a donation to some charity? Viewers and reviewers given to empathy wondered: what is so charitable about depriving your family of their belongings?xiii And yet, already Rublëv (1966) in the segment referred to as the Russian Calvary, accused Christ of cruelty because he abandoned his friends and family. As he showed in Sacrifice, Tarkovsky not really disapproved of Christ’s “cruelty”xiv. Perhaps Tarkovsky made his point as a yurodviryi in the Tolstoian mould. Perhaps he wanted to question the still present order of things, our lifestyles, in a more radical manner. All almsgiving in the present situation, he might have argued, is mere social cosmetics.

In a way, he was not just preaching but talking from personal experience. In order to maintain his artistic integrity he left behind his Russian motherland and, like Alexander, gave up a house in the countryside, which he and his wife could buy as early as 1970, and his beloved son. (Only on his deathbed he saw him again.)

The Boy’s Pantomime

[11] Tarkovsky once quoted in his diaries (July 26, 1981) Henry David Thoreau (1817 -1862) from the end of Walden; or, Life in the Woods (1854)xv: “ ‘They pretend,’ as I hear, ‘that the verses of Kabir have four different senses; illusion, spirit, intellect, and the exoteric doctrine of the Vedas’; but in this part of the world it is considered a ground for complaint if a man’s writings admit of more than one interpretation.”

[12] Alexander, or rather the actor Josephson, was at the time of the shoot 62-years-old. So the age difference with “Little Man” of at most eight years was relatively big. This could by itself already be an allusion to Abraham, the father of nations, who got his son Isaac in his old age. The archaic notion of sacrifice displayed in the film hints in the same directionxvi.

[13] In the first part of the film, “Little Man” is wearing a too big, white textile beach hat, which covers most of his face. It makes him a mystery man. Tarkovsky used the boy for all kinds of allusions. Precisely because he cannot speak we should pay close attention to his pantomime. First the boy is strolling behind Alexander, who reminds him to bring along his “lasso”. We see therefore an underage cowboy, a familiar sight in many parts of the world, and at the same time it’s a casual hint to an American myth. (The Marlboro men were still around in those days.)

[14] But there is heavier stuff to come: some reference to Nietzsche. As a German, and all the more for having roots in the small town of Naumburg, where Nietzsche lived in his early youth, I should perhaps feel flattered by the attention my compatriot, the philosopher, has garnered over the last decades. I don’t.

[15] Already some time ago the allusion to Nietzsche’s dwarf in Thus Spoke Zarathustra, to whom Alexander and the outlandish postman Otto refer in their conversation, was followed up by Gino Moliternoxvii. Otto mentions that “hunchback who sent Zarathustra into a fainting fit”. When Otto, driving in circles on his bicycle, is explaining Nietzsche’s thought about the eternal return of the same, “Little Man” binds the bicycle secretly with his lasso to one of the few shrubs around, causing a sudden jolt to the philosophizing postman on his bike. Tarkovsky, who was attracted to Zen Buddhism (Diaries, April 2, 1972), uses this gentle practical joke as a surprise, as a point on an experiential level against the thought of the eternal return of the same. Zen masters can use sometimes not so gentle surprises, like sudden blows with a stick, to bring their pupils closer to enlightenmentxviii.

[16] Alexander carries then the boy on his shoulders in a clear allusion to Zarathustra’s heavy dwarf. After some small talk with Victor and his wife Adelaide, who went out of her way to welcome the doctor, Alexander continues to talk to the boy. He sits down in the grass against a tree in the mentioned sparse grove and holds “Little Man” in his lap which again is an allusion to the patriarch Abraham, but in a cameo in the New Testament. Jesus indicated the pure bliss of the poor Lazarus after death “in the bosom” of Abraham (Luke 16: 19-31). The rich man, who would not have cared in eternity for the poor Lazarus lying in front of his palace, finds himself after death in a not so comfortable place. In vain he tries to negotiate with Abraham for something better. Apparently, however, “Little Man” doesn’t feel that cozy either. He sneaks away and out of the frame while the old man keeps talking.

[17] On a deeper level, in very Tarkovskian fashion, we have here the abridged narrative about the history of Mankind. Paradise, the original harmony, lost, man finds himself in utter, animal-like primitivism. In the beginning of his ruminations, Alexander cautions his son that for an expedition to Africa one needs to be well prepared. It’s totally out of context. Again, Tarkovsky was taking on Kubricks Dawn of Mankind, which, as we know, took place in Africa. “Little Man” is stalking on all fours through the high grass. Then, all of a sudden, he attacks Alexander from behind, jumps on him. So to say, he sides with the more irritated members of the audience and causes the elderly gentleman to stop his ramblings. It follows the announced fainting fit.

[18] Before, we see for the first time the boy’s blond hair because he has lost his hat in the attack. The prowling and the blond hair call “the splendid blond beast” to mind, one of Nietzsche’s more reckless fantasies, which had, to put it mildly, an embarrassing aftermath in Nazi Germanyxix. Therefore, the toying of French and American philosophers (and the British director Kubrick) with Nietzschean concepts strikes us Germans as somewhat frivolousxx.

[19] Tarkovsky’s viewpoint is belittling in the twofold meaning of the word: it seems to belittle evil, and this is very supportive of Nietzsche’s position. The prowling boy can be related to the second and third metamorphoses of the spirit in Zarathustra (also mentioned by Moliterno): the lion and the child. Nietzsche saw already in the lion, which fights for its rights, the aspect of innocence: you cannot blame the beast of prey to be a predator. In the child, according to Nietzsche, this aspect becomes all the more obvious. Nietzsche wanted to convey a sense of narcissistic complacency.

[20] Belittling is Tarkovsky however also in assuming an ironic and almost motherly perspective. He tries to curb the infamous demonic glow of Nietzsche’s style. Think of Béla Tarr’s latest (and probably last) motion picture The Turin Horse (2011) starting with the account of an episode which is in its peculiar way embarrassing too: “In Turin on 3rd January, 1889, Friedrich Nietzsche steps out of the doorway of number six, Via Carlo Albert. Not far from him, the driver of a hansom cab is having trouble with a stubborn horse. Despite all his urging, the horse refuses to move, whereupon the driver loses his patience and takes his whip to it. Nietzsche comes up to the throng and puts an end to the brutal scene, throwing his arms around the horse’s neck, sobbing. His landlord takes him home; he lies motionless and silent for two days on a divan until he mutters the obligatory last words, and lives for another ten years, silent and demented, cared for by his mother and sisters. We do not know what happened to the horse.“ As it turns out, the film is not about Turin, but routine. Nietzsche, too, is never mentioned again. We see the daily exercise of caring for the old, stubborn horse again and again. Thus, the film makes an indirect statement about Nietzsche’s last decade of an apparently meaningless life.

[21] Nietzsche, who thought of himself as a half Slav and loved to fable in one of his few harmless daydreams about his “aristocratic Polish ancestry”xxi, is for the Eastern-European Tarr to some degree an understandable character. Tarr sees through his histrionics, his posturing as merciless predator. And so did Tarkovsky. The Eastern-European nations, especially the Russians, have suffered more than most other nations under the German madness of the 20th Century, the master race nonsense. (Don’t forget that our German parents and grandparents were beguiled by the heroic antics of a man who practiced his speeches in front of a mirrorxxii.)

[22] Back to “Little Man”: his nose is bleeding. As Mark Le Fanu remarked rightly, he looks like a “wounded demonic goblin”xxiii. We should note that his wound is self-inflicted. It’s a metaphor for the utmost mankind can get in its rebellion against God. A bloody nose, however, is an understatement in the best Anglo-Saxon tradition.

Thinkers as diverse as Marx and Nietzsche shared a fascination with the rebellion of the Titan Prometheus against “Zeus”, who is, thinly veiled, the Christian God. Goethe created the ode Prometheus, crackling with “demonic glow”, in 1773, as a young gun of 24xxiv. In 1841, Marx, 23-years-old, wrote as conclusion of the preface of his doctoral thesis: “Prometheus is the most eminent saint and martyr in the philosophical calendar.” xxv Nietzsche, at the age of 28, put a vignette of the unbound Prometheus on the cover of his debut Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der MusikThe Birth of Tragedy Out of the Spirit of Music (1872).To him Goethe’s poem was “essentially a hymn celebrating impiety”.xxvi

[23] If we consider that Tarkovsky readily provided the biblical antidote to Nietzsche’s dangerous image of the “blond beast”, by simply putting some meadow flowers between the teeth of the prowling boy then it is about time to ask why this continuous oscillation of meaningsxxvii.

“Ambiguity as a System”?

[24] In his book Sculpting in Time, Tarkovsky referred to a portrait by some scholars ascribed to Leonardo da Vinci Ginevra Benci (1474-1478, National Gallery, Washington D.C.) and commented: “There is something inexpressibly beautiful about her and at the same time repulsive, fiendish …. A true artistic image gives the beholder a simultaneous experience of the most complex, contradictory, sometimes even mutually exclusive feelings… We cannot comprehend the totality of the universe, but the poetic image is able to express that totality.”xxviii He then explained that he had introduced this painting in the film Mirror to represent “eternity”. In fact, in the film the face of the woman appears together with a flashing light and we hear a recitative from Johann-Sebastian Bach’s Passion according to Matthew: “Und siehe, der Vorhang des Tempels riss entzwei – And behold, the veil of the sanctuary was torn in two from top to bottom.” (Mt 27, 51) Nigel Savio D’Sa quoted the above statement without elaborating on its deeper meaningxxix, but I must confess to me these are the most disturbing words by Tarkovsky I have come across.

[25] One possible cue could be Tarkovsky’s documented fondness of Thomas Mann’s epic tetralogy Joseph and His Brothers in the early seventies; he even planned to make a film about the novel (Diaries, September 18 and October 8, 1970; January 1, 1971). Thomas Mann, who cetainly was no theologian but did very extensive reading in preparation of his novels, wrote repeatedly about God’s ambiguity (“Zweideutigkeit”) in different parts of that work. Moreover, “Zweideutigkeit” is a key concept in Thomas Mann’s artistic credoxxx. He developed it in antagonism to his elder brother, Heinrich, who was a writer of leftist tendency. This is a parallel to Tarkovsky, who developed his concept of the poetic image, which expresses totality, as antithesis to the partiality, the partisan tendency required by the doctrine of Socialist Realism. Already early on in his book (which developed over several years) he quoted from the diaries of Tolstoy: “The political excludes the artistic, because the political must be one-sided to accomplish something. (March 21, 1885)”

[26] “Ambiguity as a system”, to use Thomas Mann’s expression, can be found not only in the boy’s pantomime but also in other aspects of the film: the postman Otto is a thoroughly ambiguous figure – buffoon and mystagogue at the same time. Remember the eerie siren voice. Only in the end it dawns on us that these are shepherd calls, bordering on the psychic anyway. Or as evening falls, Victor and the women (Adelaide, Martha and the servant Julia) gather for a solemn supper. Nobody seems too bothered that the celebrated doesn’t show up. Their faces are lit by the mild light of a simple standing lamp with a spherical lamp shade. The scene is somehow conflating the last supper and the pericope about the bridegroom and the prudent virgins (Mt 25: 1 – 13). For Tarkovsky, who was a lifelong admirer of Bach, it calls to mind the famous cantata Wake up, the voice calls us. (BWV140, Chorale Cantata for the 27th Sunday after Trinity) Alexander, however, steals away into the darkness just like Judas Iscariot. The film, on the other hand, hints obliquely at the fact that Victor is having an affair with both, Adelaide and her daughter Martha. I must admit that this kind of obfuscation is not what fascinates me most in Tarkovsky’s art. Moreover, the twilight of Thomas Mann’s prose can not eliminate my doubts regarding Tarkovsky’s theology. Not being a theologian either (I am art historian by trade) I simply pose a question.

[27] The gospel of John is the only one mentioned in the film (with the first sentence of the prologue). Could it be that the above mentioned scene in Mirror, the extremely ambivalent face of the woman in combination with the Bach recitative of the veil torn in two in the temple, is an allusion to the last judgement, but interpreted in light of John 12: 47 – 49? (“And if anyone hears my words and does not observe them, I do not condemn him, for I did not come to condemn the world but to save the world. Whoever rejects me and does not accept my words has something to judge him: the word that I spoke, it will condemn him on the last day, because I did not speak on my own, but the Father who sent me commanded me what to say and speak.“) That is, we will not be judged by Christ, but we judge ourselves according to our innermost spiritual leanings. In Sacrifice the director explicitly offered different, mutually exclusive readings of the film. That’s not the preachiness he was accused of. If we wish we can keep riding with Nietzsche and his (hopefully tiny) bunch into a never-ending sunset.

[28] Alexander was famous as a stage actor for his interpretations of Prince Myshkin, the saintly Idiot created by Dostoevsky, and Shakespeare’s Richard III, the former an example of incredible goodness, the latter the epitome of abject ruthlessness. Small wonder he found his acting profession highly questionable. So far, most commentators could not make much sense of these detailsxxxi. It’s an aspect of Nietzsche’s analysis of Western society that mutually exclusive value systems more or less peacefully coexist. In one cinema you relish the devilish, next door you can admire the “profound humanity” of a film, deeply moved by your better self. (Or you can have it all much more easily as channel-hopping couch potato.) Nietzsche wanted to urge his contemporaries to make up their minds and so did Tarkovsky. However they did so, it seems to me, from opposite sides of the divide.

[29] I think starting with Solaris (1972) we can see Tarkovsky engrossed in a kind of spiritual kung-fu. Making the watchdogs of Soviet censorship drowsy was only his first move. (That also ordinary members of the audience got sleepy in the process he took as collateral damage in his stride.) His opponent took in his earlier films the guise of “Marx”, in his Western Sacrifice it became “Nietzsche”.

In the Darkness of the Night

[30] In the protection of the night, Tarkovsky moves into our dream zone, turning things upside down. (He once stated that the artist enters the soul of the spectator like in a Trojan horse.) Thomas Redwood pointed out that the director placed a signal in different scenes of the film which in any realistic reading simply could not be there. Something that Redwood calls a “red herring”xxxii. Adelaide has a fringed shawl of ivory colour which she uses to playfully distract her husband when he tries to inspect Otto’s birthday gift, the old map of Europe. Alexander is wearing this shawl around his shoulders when Otto is visiting him in his upper room. The same shawl becomes conspicuous during the following scene of the TV-broadcast with the stuttering announcement of nuclear war by the prime minister. When Alexander ventures on Otto’s bicycle in the middle of the night to the maid Maria, he passes by Victor’s BMW. A large piece of the shawl sticks out from the closed side-door, betraying an amorous hideaway. I would content that all these incidents are dreamt. Then there seem to be dreams within a dream like the disaster-scenario in Stockholm. After all, “Tarkovsky’s nightmare”, the nickname the film was given by the crew, was not far off the markxxxiii.

[31] After the news of the outbreak of nuclear war Alexander sits on the floor of the upper room, the never-abandoned glass of cognac at hand. When in the beginning asked by Otto what kind of relationship he had with God he wearily quipped: “None at all, I am afraid”. Now he tries to remember the words of the Our Father and continues with a desperate prayer. Here we have a magnificent synergy of Tarkovsky’s and Bergman’s genius’, in the sense that the co-operation with Bergman’s famous cameraman Sven Nykvist, which initially proved to be difficult, reaped riveting, searing imagesxxxiv. The expressive, but not exaggerated, lighting in the close-up of Alexander’s face, his tremendous terror, when he stammers about his animal-like fear, brings about a facial expression of exactly this kindxxxv. Much can be said for the lightness of art, but this ultimate seriousness is one of its possibilities I don’t want to miss.

[32] It’s also a major feat for Erland Josephson, the actor and old friend of Bergman and Nykvist. Tarkovsky, who had encounters with other admired luminaries of world cinema like Kurosawa, Fellini and Bresson, never met personally with Bergman. They went out of their way to avoid this encounterxxxvi. The site of this encounter would have been Christianity: they saw each other, so to say, in the revolving door – Tarkovsky on the way in, Bergman on the way outxxxvii.

[33] What’s at the centre of Alexander’s prayer? What’s the condition of his sacrifice? That “tomorrow will be like today”. That’s, in other words, almost what Nietzsche’s thought of eternal return is about. But instead of locking the door to transcendence (as presumably was Nietzsche’s intention with this thought) it is pushed open for a man who has lived in almost peaceful indifference towards God.

[34] Commentators were generally puzzled by the fact that Alexander in addition, lured by the whispering Otto, goes to visit the “witch” Maria. Few, however, have noticed that Otto’s promise is the exact contrary of Alexander’s prayer intention – he promises: “that all this ends.” Tarkovsky offered here, as he had already to some extent in the Pagan Holiday segment of Andrei Rublev, a meditation on sex, a very rare sight indeed. He reflected on what Nietzsche called the “Dionysian”, the ecstasy which makes you forget everything and which makes sex the most powerful natural escape. But Tarkovsky’s film remains meditative in its approach all the way through. It never gets provocative or suggestive, on the contrary, while sex is on the man’s part always also an affirmation of what Nietzsche called “will to power”, on the climax, when the gently rotating couple is elevated in rapturexxxviii, we hear Alexander whimper: “I, I can’t.“ The scene is followed by the image of the panicking crowd in Stockholm which creates a correspondencexxxix with the flock of panicking sheep running around Maria’s house, providing a hint to the etymological root of the word panic: it refers to the Greek god Pan who terrified herds by his sudden, noisy appearance. Another dream image is also referencing the image of animal-like fear: the naked Martha chases a bunch of white chicken out of a wood floored corridor. Sex appears here not as glorious self-affirmation, as “will to power”, but as escapism, expression of panicking, of animal-like fear.

In the prayer scene and in the bed scene Tarkovsky’s film is turning things upside down.

Transitions

[35] Tarkovsky once wrote: “The aim of art is to prepare a person for death, to plough and harrow his soul, rendering it capable of turning to good.”xl The scenes here described might have a cathartic impact. Another scene seems to be harrowing especially for women: Adelaide’s hysterical fit after the news broadcast of disaster. Victor gives her an injection, a strong sedative. He does the same with Martha. Accommodated by the doctor on a couch, after calming down, Adelaide is in a reflective mood. She thinks to herself: “It is like awakening from a dream. There is always a voice telling me: Don’t give yourself up! Otherwise you will die. How badly mistaken we are.”

[36] This is in a way just the flipside of the coin which is presented in the fact that when Alexander stops talking, Little Man finds his voice again. Alexander has promised to stop talking and being secluded in a madhouse nobody will ever again listen to him anyway.

In the final scene Little Man, lying under the planted dead tree says: “In the beginning was the word. Why, father?” In an allegorical wayxli, it is an allusion to the Pauline antinomy of the “old man” and the “new man”, or, in modern translation, the old self and the renewed self, in the letter to the Colossians, chapter 3, especially 3:9-10: “Stop lying to one another, since you have taken off the old self with its practices and have put on the new self, which is being renewed, for knowledge, in the image of its creator.” Of course, only in allegory it is possible to silence our mega-egos once and for all so neatly. Adelaide’s situation reflects much more realistically the nitty-gritty everyday battle of overcoming the old self.

[37] There is another transition taking place in this film, this one for the director. Even more than in other films of Tarkovsky, dream sequences became important in Sacrifice. It has been elucidated that it is sometimes unclear who is actually dreaming the dream? For instance in this case: Is it Alexander or Little Man?xlii During most of the film the boy keeps sleeping in an upper room of the house. During the second nightmare of the mentioned disaster scene (towards the end of Alexander’s dream) the boy inexplicably appears sleeping or dreaming above the street where people are precipitating. After the second or third viewing it dawned on me: Is the boy possibly an allusion to America (young compared to “Old Europe”) and so we witness a foreshadowing of the American dream turning into a nightmare?

[38] Be it as it may. In Sacrifice, Tarkovsky had finally arrived in our contemporary world.

Nostalghia is basically still Eurocentric in its outlook: the final image of the Russian izba within the ruins of the Italian San Galgano Abbey stands for a desired union of Russian spiritual vitality and the time-honoured traditions of Italian, European forms. But the times they are changing in Offret. For a while, I could not make much sense of Otto’s birthday gift for Alexander, the French map of Europe from the late 17th century. Then I understood: It had to be sacrificed in the “Bonfire of Vanities”! Already on February 21, 1972, Tarkovsky wrote in his diary that he had to gather information about Savonarola. The example of the Dominican and his “Bonfire of Vanities” in Florence, in the late 15th century the centre of the Renaissancexliii, was always in the back of his mind. Alexander comments on the precious old map:”This Europe here is like the planet Mars. That means it has nothing to do with truth.” It’s a clear invitation to leave the Eurocentric mentality behind. It becomes practical for Victor, who has decided to immigrate to Australiaxliv. What’s the big deal in this transition at the end of the 20th century? Tarkovsky was “gefühlskonservativ”, to use a coinage by Thomas Mann, “emotionally conservative”, and there are many of us in Europe. Seen from that angle, the incineration of the map denoted an important step.

[39] After resurfacing from the trip of soul-searching, what can be said looking back to the point of departure: 9/11? The divide between good and evil is not so much between “us and them”, but goes right through our own self. It’s an old and simple truth (Romans 7:19), but in the heat of the battle it is easily forgotten.

[40] Setting your summer house on fire is most probably a once in a lifetime activity, therefore is the watering of the dead tree complementary: it’s a day after day effort of unrelenting perseverance and an image of indomitable “hope against hope”. The apostle Paul speaks about it with regard to Abraham’s faith (Romans 4:18). Chances that anybody will change life in answer to this film are as great as the likelihood that the dead tree will flourish.

[41] In most of the film twilight is reigning, sometimes an even very dark twilight, but in the end the light wins unequivocally: the camera dollies up the barren tree and shows the silhouette of the branches against the sea, shimmering in the sunlight. Out of focus, the reflections resemble for all people “of good will” blossomsxlv. Tarkovsky dedicated the film to his son, who is now a 41-years-old, “with hope and confidence”. By extension, one could say it is dedicated to the young generations and the nations of the New World.

i Harlan Kennedy, Andrei Tarkovsky – A Thought in Nine Parts, http://www.americancinemapapers.com/files/tarkovsky.htm ; a refreshing and inspiring read.

ii

Andrei Tarkovsky, Sculpting in Time. The Great Russian Filmmaker Discusses His Art, London Faber and Faber 1989, pp.221-222; see also the comments of Vida T. Johnson and Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Bloomington: Indiana University Press 1994, p. 33. Johnson and Petrie point out the rather violent imagery in Pushkin’s poem where a six-winged seraph opens eyes and ears of the poet with a sword.- Earlier in his book Tarkovsky quoted Paul Valéry with a sarcastic comment about the bad habit of poets to think of oneself as a prophet.

iii Valuable information can be found on the Tarkovsky Website Nostalghia: http://people.ucalgary.ca/~tstronds/nostalghia.com/TheTopics/Offret/Offret_Sketches.html; on the same site: Layla Alexander Garrett, Andrey Tarkovsky — Enigma and Mystery: “But how is the following fact to be explained? When filming the apocalyptic scene of The Sacrifice, the camera was standing but a few meters from the place where the Swedish Prime Minister, Olof Palme, was later murdered, six months afterwards.”

iv In the documentary Directed by Andrei Tarkovsky (1988), on the shooting of Sacrifice, by Tarkovsky’s editor Michal Leszczylowski we can see how the extras for this scene were painted with soot or something similar.

(Second disc of the Artificial Eye edition of Sacrifice)

v Josephson became well known as a film actor in eight films of Ingmar Bergman, realized between 1958 and 1982.

vi Gino Moliterno, Zarathustra’s gift in Tarkovsky’s The sacrifice, in: Screening the Past, an international refereed electronic journal of screen history, La Trobe University, Australia, Issue 12, March 2001

vii In Mirror (1975) Lisaweta, the friend of Alexei’s mother, is filmed in a long shot as she starts skipping on one of the corridors in the printing-house, exclaiming the beginning stanza of Dante’s Commedia Divina. In the end of the film, the camera is zooming out from a dark wood. In Sacrifice, Alexander is lost in the sparse grove on Gotland. Again it is an allusion to Dante’s wood. According to his wife Tarkovsky’s last words before dying were: ”It is time for a new direction…” http://en.wikiquote.org/wiki/Last_words

viii Melinda Cooper, Pre-empting Emergence. The Biological Turn in the War on Terror, in Theory, Culture &Society 23(4), July 2006, Nottingham Trent University, UK , pp.113-135, http://www.16beavergroup.org/drift/readings/pre-empting-emergence.pdf

ix Leo Tolstoy, The Slavery of Our Times, published in New York by Edwin C. Walker, chapter X, Laws Concerning Taxes, Land and Property www.cooperativeindividualism.org/tolstoy-leo_

x Jerzy Illg and Leonard Neuger, “I’m interested in the problem of inner freedom…”

http://people.ucalgary.ca/~tstronds/nostalghia.com/TheTopics/interview.html

Towards the end of this interview, Tarkovsky makes a remarkable statement in favour of Tolstoy and against Dostoevsky.

xi Regarding the diaries, I follow Robert Bird’s pragmatic approach who decided to “provide only the date of the relevant notation” (Robert Bird, Andrei Tarkovsky, Elements of Cinema, Reaktion Books London 2008, p. 23). I have at my disposition the Italian edition of the diaries which has the reputation of being the most complete (1999). The English edition is: Andrei Tarkovsky, Time Within Time, The Diaries 1970 – 1986, Faber and Faber, London 1994

xii One could find this scene literally “mired” in cliché. Bringing into play a comic commonplace, Tarkovsky can let it develop its own dynamics. Despite the repeatedly denounced preachiness of this film, the director offers his audience a way out, the possibility of an alternative viewing. Humour was never a major concern for this director. But some bits and pieces, falling off his table, have comic potential. Alexander Gordon, brother-in-law and a colleague, reminisced from an early collaboration: “Tarkovsky was serious about his work, but jolly at the same time.” Nostalghia.com http://people.ucalgary.ca/~tstronds/nostalghia.com/TheTopics/Gordon_On.html See also: Johnson, Vida T. Laughter beyond the mirror: humor and satire in the cinema of Andrei Tarkovsky, in: Horton Andrew (ed.) Inside Soviet film satire: laughter with a lash, Cambridge; New York: Cambridge University Press 1993, pp. 98 -104, p.102

xiii Philip Strick, „Offret (The sacrifice)“, Monthly Film Bulletin, vol. 54, no. 636 (January 1987), 7-8: “Why, in any case, deprive his family, when he is the one offering atonement? Setting aside the extraordinary arrogance of his supposition that one man’s silence and self-deprivation would persuade God to change history – and moreover to fulfil His side of the bargain first – why should the pagan rite of setting a torch to his belongings be any kind of suitable (other than, perhaps, Zoroastrian) exchange?”

xiv Robert Bird sees the segment of the Russian Calvary as an imagination of Rublëv’s pupil Foma. I cannot follow this interpretation (Elements of Cinema, p. 82)

xv online PDF-file of Pennsylvania State University, p.254

xvi This understanding of sacrifice was criticized for not being really Christian. Maybe the atavistic aspect of it contributes to the fact that the appeal of Tarkovsky’s films is wider than Christian. The Iranian, non-Christian director Abbas Kiarostami said once in an interview: “Tarkovsky’s works separate me completely from physical life, and are the most spiritual films I have seen–…” in Taste of Kiarostami, Interview by David Sterritt, in Senses of Cinema, Australian Online Quarterly, 12 September 2000

xvii Gino Moliterno, Zarathustra’s gift in Tarkovsky’s The sacrifice, in: Screening the Past, an international refereed electronic journal of screen history, La Trobe University, Australia, Issue 12, March 2001

xviii See the German director Doris Dörrie’s tongue-in-cheek Erleuchtung garantiert (2000), English version: Enlightenment Guaranteed

xix Friedrich Nietzsche, On the Genealogy of Morals. A Polemical Tract, 1. Essay, chapter 11 http://records.viu.ca/~johnstoi/nietzsche/genealogy1.htm

xx The most prominent German intellectual who addressed this issue is Jürgen Habermas in Philosophical Discourse of Modernity (Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, English translation, Cambridge,Mass. 1987 Konrad Ott is a lone German defender of Habermas on American (and Nietzschean) ground in his almost rude review of: Babette E. Babich (ed.), Habermas, Nietzsche, and Critical Theory, New York (Humanity Books) 2004, (published online by Fordham University, New York) http://www.fordham.edu/gsas/phil/babich/Review%20of%20Habermas%20Nietzsche%20and%20Critical%20Theory.pdf

The upcoming book by Jennifer Ratner-Rosenhagen American Nietzsche, History of an Icon and His Ideas, University of Chicago Press 2011 seems to confirm that my apprehensions are topical.

xxi David Farrell Krell, Cosultations with the Paternal Shasow. Gasché, Derrida and Klossowski on Ecce Homo, pp. 80 – 96, p. 85 in Exceedingly Nietzsche: Aspects of Contemporary Nietzsche-Interpretation edited by David Farrell Krell and David Wood, 1988 Routledge London & New York

xxii Bert Brecht saw Hitler as early as 1922 by chance in Munich’s Hofgarten Café, a Beer garden, at the next table. He was told that the strange politician took lessons from an elderly stage actor, specialized in heroic roles. Bert Brecht Ein fähiger Schauspieler. Begegnung mit Adolf Hitler in the German news magazine Der Spiegel, 50 1996, 9.12. 1996

xxiii Mark Le Fanu, The Cinema of Andrei Tarkovsky, London: British Film Institute 1987, p.127

xxiv Goethe distanced himself very soon from the boundlessly rebellious spirit of the poem already in 1780, seven years later. See Hartmut Reinhardt’s even-handed and scholarly thorough treatment of Prometheus und die Folgen. Hartmut Reinhardt: Prometheus und die Folgen (21.02.2004).

In: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/prometheus_reinhardt.pdf

p. 26

xxv Reinhardt, p. 7

xxvi Reinhardt, p. 12; Nietzsche, The Birth of Tragedy (e-text) http://records.viu.ca/~johnstoi/nietzsche/tragedy_all.htm

xxvii See Isaiah 11, 6-9; 65, 25

xxviii Sculpting in Time, p. 89

xxix Nigel Savio D’Sa , Andrei Rublev: Religious Epiphany in Art, Online Journal of Religion and Film, Vol. 3, No. 2 October 1999, Department of Philosophy and Religion University of Nebraska at Omaha, paragraph 6

xxx Hans-Peter Haack, Zweideutigkeit als System, Archiv Dr. Haack , Leipzig 2010

http://de.wikibooks.org/wiki/Zweideutigkeit_als_System_-_Thomas_Manns_Forderung_an_die_Kunst

xxxi Vida T. Johnson and Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, op.cit., 14 A Dialogue With Art, note 5, 311: “Though we are not told which part he played in Richard III, the obvious assumption is that if was the – surely inappropriate – title role (unless Alexander’s renunciation of the stage is meant to derive from his having to adopt an alien identity of this kind). Perhaps Richard II might have been a better, more Myshkin-like choice.” David C. Gillespie wrote: “Alexander is a former actor who played Dostoevskii’s Prince Myshkin (…) as well as Shakespeare’s Richard III. Both of these characters are tragic heroes, doomed and unable to escape their historical destiny.” David C. Gillespie, Russian Cinema, Pearson Education, Essex 2003, p.181

xxxii Thomas Redwood, Andrei Tarkovsky’s Poetics of Cinema, London: Cambridge Scholars 2010, p. 108

xxxiii Nostalghia com. In the news section, July 7, 2011 a reviewby Vera Liber is posted of Layla Alexander-Garret, Andrei Tarkovski: Sobiratel snov Published by: Izdatelstvo AST, Astrel, Moscow 2009 , in East-West Book Review, 2010 p. 29-30, p. 30

xxxiv Sven Nykvist, On the Shooting of Sacrifice in Nostalghia. Com, originally: „Vördnad för ljuset“ (In Reverence of Light), by Sven Nykvist and Bengt Forslund. Albert Bonniers Publishing Company, pp. 181 -188

xxxv At my first viewing, I felt reminded of Titian’s second Martyrdom of St. Lawrence in the Escorial, painted in the last decade of the master’s long life: quite irrationally, a white horse rolls its eyes, “trembling” with primordial fear; or take Picasso’s last self-portrait, famous and terrifying, in the Fuji-Gallery, Tokyo. I see T. in that league.

xxxvi They quite literally did. Michal Leszczylowski, Tarkovsky’s editor at the time, tells the story of this incident in September 1985 in the article A Year with Andrei for Sight and Sound, Autumn 1987, pp. 282–284, p. 284; http://people.ucalgary.ca/~tstronds/nostalghia.com/TheBibliography/Articles/michal1.JPG

xxxvii See The Religious Affiliation of the Director Ingmar Bergman, http://www.adherents.com/people/pb/Ingmar_Bergman.html

xxxviii As a confirmation of a long-time suspicion that many creative people from all lines of business helped themselves generously with inspiration from Tarkovsky’s films, I noticed that quite soon after this film was shown, a German pop song came out, describing love in terms of rotating elevation.

xxxix The Book of Concordances was the title Tarkovsky had first in mind for his book (see Olga Surkova, Tarkovsky vs. Tarkovsky http://people.ucalgary.ca/~tstronds/nostalghia.com/TheTopics/Surkova1.html)

Concordances correspond with Correspondances, the title of a famous poem by Charles Baudelaire. To a degree, such poetic correspondences are more important than plot in Tarkovsky’s films.

xl Ouoted from Harlan Kennedy, Andrei Tarkovsky – A Thought in Nine Parts, see note 1

xli The director was not fond of allegory, but, exceptionally, he was ready to use it. In his diaries he wrote on February 22, 1976 that he wanted to make a film about Jesus Christ “allegorically”.

xlii Peter Green, Apocalypse&Sacrifice, in: Sight and Sound, vol. 56, no. 2, Spring 1987, pp. 111-118, p.118

xliii Leonardo’s Adoration of the Magi (1482) is overshadowed by the crisis which culminated ten years later with Savonarola’s rule in Florence. That is one reason why Otto finds Leonardo so much less reassuring than Piero.

xliv Robert Bird thinks approximately along these lines: “Just as the consumption of the house by flames frees the son [Little Man] to fashion his own future… so the consumption of the film detaches the spectator from its own specific configuration and returns him to the world renewed and empowered.” Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema, Reaktion Books, London 2008, p.212

xlv In the documentary (see note 4) it becomes clear that Tarkovsky was earnestly looking all over Sweden for a tree in blossom. Fortunately, the season had passed…

Humor, Ironie und Satire im Werk Andrej Tarkowskijs. Ein zweiter Versuch

Vida T. Johnson hat das Verdienst schon 1993 den tollkühnen Versuch unternommen zu haben, über Humor und Satire bei Tarkowskij zu schreiben.1 Bei der Gelegenheit wurde der köstliche Kommentar Susan Fleetwoods angeführt, der als Einführung und Ermutigung zur Themenwahl sehr geeignet ist. Susan Fleetwood, anerkannte Theaterschauspielerin und Schwester des englischen Popmusikers Mick Fleetwood, hatte bei Tarkowskijs letztem Film Offret (1985) die weibliche Hauptrolle. Hören wir sie selbst: „Wenn ich Leute in feierlichem Ton sagen höre: ‚Oh, Sie haben mit Andrej Tarkowskij gearbeitet’, dann kommt mir dieses freche, kleine Kerlchen in den Sinn, das die unerhörtesten Dinge machte, Gesichter schnitt und herumsprang.“2 Tarkowskij, der es offenbar in seinen Filmen ablehnte unterhaltsam zu sein, zeigte als Privatperson schon fast zwanghafte Züge eines Alleinunterhalters.

Schwer vorstellbar, dass das ganz spurlos an seinem Werk vorbeigegangen sein sollte. Jedenfalls bin ich zuversichtlich, dass eine genaue Untersuchung des Humoristischen im Werk Tarkowskijs mehr Funde zutage fördern kann als das Johnson in seinem Aufsatz gelungen ist.

In seinem ersten großen Werk, Andrej Rubljow (1966), wird einem Narren, einem „Skomorokh“ der ostslawischen, mittelalterlichen Tradition, immerhin ein eigenes Kapitel gewidmet. Drei Mönche sind bei einem Regenschauer in eine große Dorfhütte eingekehrt und werden Zeugen der derb-drastischen Darbietung des Narren. Tarkowskij zollt seinem Tun insofern Respekt, als dass er anerkennt, dass das Geschäft der David Lettermans dieser Welt harte Arbeit ist. Der Komiker ist am Ende seiner Darbietung sichtlich erschöpft. Auch zeigt T. dass es nicht genügt ein Narr zu sein, um die Lacher zu gewinnen: ein Dorfdepp macht den lahmen Versuch den Komiker zu imitieren ohne den geringsten Erfolg. Freilich weist T. in dieser Szene auch auf eine Grenze der Unterhaltungskunst hin: sie hat keine bleibende Wirkung. Eben noch hatten die versammelten Dorfbewohner ausgelassen gelacht, da versinken sie auch schon wieder in Stumpfheit und Melancholie. Der plötzliche Stimmungswechsel kann allerdings auch durch das Auftreten der Mönche verursacht worden sein. Auch für den Betrachter des Films ist die Episode kaum Gelegenheit für ausgiebige Heiterkeit. Der Skomorokh ist von Kyrill, einem der drei Mönche, der dessen Gesang als Teufelswerk sieht, bei vorbeiziehenden Schergen denunziert worden, die den Komiker mit solcher Härte behandeln, dass uns jedes Lachen vergeht. Johnsons Hinweis auf Bakhtins Begriff des Karnevalesken, des subversiven Gelächters, das von der despotischen Obrigkeit schonungslos geahndet wird, ist sicher zutreffend.3

Im gleichen Zusammenhang werden wir sozusagen en passant Zeugen einer Szene, die auch einen komischen Aspekt hat: in Morast und strömenden Regen streiten sich zwei volltrunkene Bauern. Der eine der beiden versucht sogar den anderen mit einem Baumstamm mittlerer Größe zu erschlagen. Das Straucheln und Fluchen der beiden Kontrahenten kann man erheiternd finden, aber das Ganze hat in für T. charakteristischer Weise einen erschreckenden Aspekt. Hier mag man an T.s große Bewunderung für die Kunst Charlie Chaplins erinnern. Interessant wie er benennt, was ihn bei Chaplin fasziniert: die Kunst der Übertreibung. Chaplin könne eine offensichtliche Übertreibung völlig organisch in seine Kunst integrieren.4 Etwas Ähnliches hat T. hier geleistet. Nur wer vom Alkohol benebelt ist kann auf die irrwitzige Idee kommen, einen anderen mit einem Baumstamm erschlagen zu wollen. Es ist so eine Art Groteske entstanden, die in konzentrierter Form ein wichtiges Thema des Films ein erstes Mal einführt: Streit und Hass unter Russen. Weil der Großfürst von Wladimir seinen jüngeren Bruder beim Versöhnungskuss vor dem Metropoliten gedemütigt hat, indem er ihm gleichzeitig mit Nachdruck auf den Fuß trat, verrät dieser die Stadt Wladimir an die Mongolen, und die damit einhergehenden Gräueltaten werden von T. schonungslos geschildert. Um die Sache auf die Spitze zu treiben ließ T. die beiden Brüder von demselben Schauspieler darstellen.

Halten wir noch kurz Ausschau: Wo wird im Andrej Rubljow noch gelacht? Das lässt sich sicher an einer Hand abzählen. In dem Kapitel, das von Rubljows lang anhaltender kreativer Blockade handelt, als er sich weigert die Schrecken des Jüngsten Gerichtes zu malen, sind zwei Gelächter Rubljows enthalten. Das erste hat mehr mit Zärtlichkeit als mit Humor zu tun. Wir sehen Rubljow im neckischen Spiel mit der pausbäckigen, blonden Tochter des Großfürsten. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, in denen der in seiner Kunst oft eher herbe Tarkowskij sich etwas von der sprichwörtlichen „slawischen Süße“ durchgehen ließ. Die aufgedrehte kleine Prinzessin bespritzt den lachenden Rubljow mit Milch. (Es ist die Zeit der Pappelblüte und die Luft ist voller Samenflusen.) Rubljow zitiert das berühmte hohe Lied der Liebe des Paulus (1 Kor 13), von dem die Kleine sicher nicht viel versteht.5 Das alles ist recht niedlich, aber man kann dessen nicht froh werden, weil sich in unmittelbarer Nachbarschaft im Film Szenen äußerster Grausamkeit abspielen.

Eine Gruppe tüchtiger Kunsthandwerker hat die Steine am Hof des Großfürsten geschmückt, aber diese Handwerker bekennen arglos, dass sie weiterziehen wollen nach Swenigorod zum jüngeren Bruder des Großfürsten, der ihnen ein lukrativeres Angebot gemacht habe. Zuvor hatte Stepan, der Hauptmann der Leibgarde des Großfürsten, gewissermaßen seine rechte Hand, einen halbwegs lächerlichen Auftritt. Ein finsterer, bärbeißiger Mann, hat er die Handwerker drohend angeschnaubt, für den Großfürsten müssten sie schon etwas Besonderes leisten. Lächerlich ist, dass er dabei einen der Prinzen, einen Rangen von vielleicht vier oder fünf Jahren, auf dem Arm trägt und dieser ihn hemmungslos ohrfeigt. Der Untergebene, dem die besondere Ehre zuteil wurde, dass er sich um den hochwohlgeborenen Nachwuchs kümmern darf, lässt das stoisch über sich ergehen, was im eklatanten Gegensatz zu seinem herrischen Auftreten gegenüber den Handwerkern steht. Nachdem die Handwerker offenbar abgezogen sind, sehen wir den Hauptmann mit einer Handvoll Soldaten vorbeigaloppieren. Anscheinend in vorauseilendem Gehorsam sind sie der Gruppe gefolgt, stellen sie im Wald bei lauschigem Vogelgesang und stechen ihnen allen die Augen aus, der eine oder andere wird sogar vollends umgebracht, einzig ein kleiner Junge bleibt verschont. Das alles wird mit schwer erträglicher Drastik vorgeführt. Es folgt ein Beispiel von Humor, das auch härtesten Männern kaum ein Lachen entlocken dürfte. Inmitten der wimmernden, am Boden kriechenden Opfer vermisst der Hauptmann seine Peitsche, eine böse Pointe. Man versteht – ein Mann in seiner Position ist ohne Knute nur eine halbe Portion: „Hat irgendwer meine Peitsche gesehen?“ Die am Boden kriechenden Männer sicher nicht…6

Das andere Lachen Rubljows in diesem Kapitel ist von eher rätselhafter Art. Andrej Rubljow, Daniel Tschornij und ihre Gehilfen sind weiterhin untätig in der eingerüsteten Kirche. Einer der Jungen wird aufgefordert aus der Bibel zu lesen. Er beginnt aus einem Paulus-Brief (1 Kor 11, 1-16) zu lesen, wo es um die Unterordnung der Frau unter den Mann geht, darum dass der Mann sein Haupt im Gottesdienst unbedeckt haben soll, die Frau aber ihr Haupt bedeckt. Dass es eine Schande sei, wenn der Mann sein Haupthaar lang wachsen lässt. Der Frau hingegen diene das lange Haar als Schleier. Kurzum, Paulus äußerte archaische Auffassungen, die man jetzt wenigstens in den großen Kirchen des Westens überwiegend wohl als zeitbedingt wertet. Nach allem, was man über Tarkowskij als Privatperson weiß, mag er allerdings mit diesen Auffassungen sympathisiert haben. Freilich lässt er sich das in diesem Film nicht anmerken. Mitten hinein in diese Lesung kommt eine junge Frau von draußen aus dem Regen in die Kirche geirrt. Sie ist offensichtlich geisteskrank und taubstumm: sie drückt eine Handvoll Stroh an sich als sei es ihr liebster Besitz, vielleicht sogar ihr Kind. Gegen Ende ihres in anderer Hinsicht wichtigen Auftritts7 kniet sie zusammengesunken in der Mitte der Maler, was Rubljow erheitert: Ohne das klar zu benennen, fühlt er sich an die Szene im Neuen Testament mit der Ehebrecherin erinnert (Joh 8,2-11). Tarkowskij durfte sicher nicht darauf hoffen, dass sein wenig bibelfestes Publikum in der damaligen Sowjetunion diese Anspielung verstehen würde. Rubljow nimmt lachend Abstand von den Vorschriften des Paulus, es sei heute ein Fest, und was redet ihr immer nur von Sünde? Das sei ja eine sonderbare Sünderin, die sie da hätten. Er geht hinaus in das regenüberglänzte Land. Sein Freund Daniil Tschornij meint geheimnisvoll, man solle Andrej in Ruhe lassen, er müsse mit seiner Sünde fertig werden.8

Es sei noch en passant eine interpretatorische Bemerkung angefügt: Die Bibel, aus der der Junge liest, ist ein gewaltiger Foliant, den er so aufgeschlagen hält, dass er die Schräge eines Balkens der Einrüstung fortsetzt. Der Regisseur hat somit eine Beziehung zwischen dem Buch und der Einrüstung hergestellt. So wie die Einrüstung etwas Vorläufiges ist, so sind die Vorschriften des Paulus etwas Vorläufiges, was nach Vollendung der Ausschmückung der Kirche, sprich: nach Anbruch des Himmelreiches, keine Bedeutung mehr haben wird. In der ihm eigenen Konzentration ist Tarkowskij ein Plädoyer für die Freiheit des Geistes und gegen die Sklaverei des Buchstabens gelungen.

Im restlichen Film Andrej Rubljow haben vor allem die Mongolen gut lachen. Über die abgründige Ironie des mongolischen Heerführers habe ich an anderer Stelle das Nötige gesagt.9 Im vorletzten Kapitel des Schwarzweißfilms, das über die Zeit von Rubljows Schweigegelöbnis berichtet, als er zu seiner bewusst gewählten Demütigung immer noch die schwachsinnige, taubstumme Frau mit sich führt, taucht mitten im bittersten Winter ein kleiner Trupp mongolischer Reiter in dem Weiler auf, wo Rubljow und die Frau sich aufhalten. Die Mongolen vergnügen sich damit, kleine Fleischstückchen unter eine Meute halbverhungerter Hunde zu werfen, die wie rasend übereinander herfallen. Der Symbolismus scheint wieder einmal dick aufgetragen und doch muss man zugeben, dass der Einfall eminent filmisch ist: es geht um Bewegung, animalische Raserei und das hat expressive Kraft.- Der Anführer des Trupps beginnt einen „Flirt“ mit der schwachsinnigen Frau, der ihn grenzenlos erheitert. Sein sonores Lachen klingt einem noch lange in den Ohren. Er bietet ihr an, eine weitere seiner Frauen zu werden. Sie ist fasziniert von seiner glänzenden Rüstung, spiegelt sich darin, darf sich seinen Helm aufsetzen, bekommt einen Umhang, springt albern und würdelos umher. Als der verbissen schweigende Rubljow versucht sie wegzuzerren, widersetzt sie sich ihm und spuckt ihn an. Die Mongolen sprengen lachend und johlend mit ihr davon.10

In diesem Kapitel taucht auch der Narr vom Beginn des Films noch einmal auf. Das Leben hat ihm übel mitgespielt. Er kann nur noch nuscheln, weil man ihm im Gefängnis die Zunge abgeschnitten hat. Er gerät außer sich vor Zorn als er in Andrej einen der Mönche erkennt, von denen er annimmt, dass sie ihn damals an die Obrigkeit verraten haben. Wegen seines sich selbst verordneten Schweigens kann Andrej sich nicht verteidigen. In seinem Zorn bemerkt der Narr nicht, dass ihm seine Hosen zu Boden gerutscht sind, was bei den zusammengekommenen Schaulustigen großes Gelächter auslöst, ein Beispiel unfreiwilliger Komik. Der kleine Mann zieht sich die Hosen hoch und imitiert das Hohnlachen seiner Zuschauer, resignativ aber auch irgendwie verständnisvoll. Man staunt über die Leidensfähigkeit dieses Menschen, der nach allem, was er mitgemacht hat, noch über sich lachen kann.

Ich kann mich nicht erinnern, dass in Solaris (1972) der Protagonist des Films, Kris Kelvin, jemals lächelt oder gar lacht. Und doch ist es dieser Film gewesen, der mich zum ersten Mal darauf gebracht hat, etwas über den Humor bei Tarkowskij zu schreiben. Ich hatte den Film aufs Geratewohl irgendwo „aufgeschlagen“, ohne die Absicht den ganzen Film zu sehen und war bei einer Aussage Snauts hängen geblieben, die plötzlich auf mich unwiderstehlich komisch wirkte. Einer seiner Kollegen habe Papierstreifen an die Ventilation der Klimaanlage gehängt. Das erinnerte sie an das Rauschen von Baumblättern auf der Erde. „Eine einfache Idee, wie alles, was wirklich genial ist.“ Das kommt so trocken, dass es mich zum Lachen reizte. Dabei spiegelt es wahrscheinlich eine wirkliche Überzeugung Tarkowskijs. Snauts Äußerungen haben überhaupt komisches Potential. Mehr als die des einfach nur zynischen Sartorius, der von Tarkowskijs bevorzugtem Schauspieler Anatolij Solonizijn gespielt wird. Mag sein, dass dieses komische Potential erst mit den Jahren mehr zu funkeln beginnt11.

Im nächsten Film Der Spiegel (1974) wird wieder gelacht, sogar gelegentlich recht ausgiebig.

An einem Punkt geht der Witz auf Kosten des Filmpublikums: In einer Rückblende sehen wir in den 30er Jahren, also mitten im Stalinismus, die Mutter, die Korrekturleserin war, durch die Räume und Gänge ihrer Druckerei hasten, weil sie fürchtet, dass ihr ein höchst peinlicher Druckfehler durchgegangen sei. Als sich diese Befürchtung als unbegründet erweist, ist die Erleichterung groß. Die Mutter lacht und flüstert das ominöse Wort ins Ohr ihrer Kollegin, die amüsiert mit den Augen rollt. Aber wir werden nie erfahren, was da so kompromittierend lustig war. Diese Pointe ist nicht so harmlos neckisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Schließlich hieß die wichtigste Zeitung der Sowjetunion „Prawda-Wahrheit“, und wenn ein winziger Druckfehler so gefährlich werden konnte dass er auch mehr als dreißig Jahre später nicht verraten werden darf, dann zeigt das, auf wie wackeligen Füßen die Wahrheitsliebe stand.12

Kurz darauf möchte die Mutter duschen, denn sie war auf dem Weg zur Druckerei von strömendem Regen völlig durchnässt worden. Doch die Dusche beginnt sehr bald kläglich zu ächzen und versagt ihren Dienst. Das ist ein Grund für die Frau in Lachen auszubrechen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich in einer solchen Situation eher versucht wäre, mehr oder minder leise vor mich hin zu fluchen, habe ich dieses Lachen viele Jahre lang nicht verstanden. (So viel zum Thema lange Leitung.) Erst jetzt kann ich mir einen Reim darauf machen: das Gebäude war umgeben von einem Überangebot an Wasser – es goss wie aus Kübeln. Aber offenbar war das System so funktionsuntüchtig, so undurchdringlich, dass von dem kostbaren Nass kaum etwas durchkommen konnte. Eine gewissermaßen triefende Ironie, die vielleicht eine fast religiöse Dimension hat. Gerade auch in diesem Film wird das Wasser als Lebenselement, als Element der Reinigung mystifiziert, etwa in der mysteriösen Traumszene, als die Protagonistin sich die Haare wäscht, Regen in den Raum strömt und große Stücke Putz zu Boden fallen lässt; oder kurz zuvor, als beim Anblick des brennenden Schobers auch schon Regen fällt. Wenn dieses Lebenselement fehlt, fehlt etwas Wesentliches. Nun darf man allerdings als jemand aus dem Westen sich nicht zu früh darüber freuen wie hier der Sowjetunion heimgeleuchtet wird. Einige Jahre später hat Tarkowskij in seinem ersten im Westen gedrehten Film Nostalghia (1983) in einer bekannten Einstellung, die das Zimmer des Russen Gortschakow im Hotel zeigt, gleichfalls einen Gegensatz von strömendem Wasser einerseits und Stagnation andererseits realisiert: Links vom Bettgestell ein Fenster, das auf einen tristen Hof hinausgeht, man sieht nur auf eine fensterlose Mauer. Das Fenster wird von Gortschakow mit seinen Läden geschlossen. Dahinter hebt bald nach der Ankunft Gortschakows das einschläfernde Rauschen strömenden Regens an: der Auftakt einer ersten geheimnisvollen Traumsequenz. Rechts vom Bett blicken wir in ein hell erleuchtetes Bad, mit einem modernen, weißen, runden Spiegel, der wohl eine Plastikfassung hat. Gortschakow füllt sich beim Hereinkommen ein Glas, um seine Medizin einzunehmen und wir hören vom Waschbecken das gluckernde Geräusch der Stagnation. Hier steht die Stagnation für den Westen und das rauschende Wasser eher für Russland. (Später in Nostalghia wird eine Tirade der italienischen Übersetzerin Eugenia von diesem Gluckern, dem Geräusch der Stagnation begleitet.)

Im Spiegel kommt es noch einmal zu Gelächter: Tarkowskijs erste Frau amüsiert sich über einen Spanier, der von einem berühmten Stierkämpfer erzählt, nein, ihn vorführt, wobei ein Stuhl die Rolle des zu tötenden Stieres bekommt. Die ganze Episode, die sich mit der Anwesenheit spanischer Emigranten in Russland befasst, mit ihrer Flucht am Ende des Bürgerkrieges nach dem Sieg Francos, ist sehr komplex komponiert und hat eine starke emotionale Gewalt: die Abschiedsszenen, ein eindrucksvolles Stück Dokumentarfilm, und der leidenschaftliche Gesang, der das untermalt. Wenn Tarkowskij den Eindruck erweckt, sich zu belustigen, so ist das sicher irreführend. In seiner Kunst kann er keine direkten Komplimente machen, während er als Schriftsteller seine Bewunderung für die spanische Kultur unverhohlen bekennt.13

Auch das Porträt, das er in Nostalghia von Italien zeichnet, war für Italiener sicher sehr gewöhnungsbedürftig. Die zunächst reservierte Aufnahme des Films in Italien hatte sicher damit zu tun, dass viele Italiener ihr „bel paese“ darin nicht wieder erkannten. Dabei war es ganz klar, dass Italien das westeuropäische Land war, in dem Tarkowskij sich am ehesten zu Hause fühlen konnte. Tarkowskij ist stark von der spanischen Leidenschaftlichkeit angesprochen, aber die Rückhaltlosigkeit, mit der sie sich ausdrückte, war ihm etwas fremd. In seinem Tagebuch schrieb er einmal bei Erwähnung einer Beerdigung, dass es ihn immer konsterniere, wenn Menschen offen ihre Gefühle zeigten.14

Die von Johnson noch genannten Beispiele für Ironie im Spiegel kommen aus den bösen Wortwechseln zwischen Tarkowskij und seiner ersten Frau, mit der die Beziehung bereits völlig zerrüttet ist, und sind beißender Spott. Als sie sagt, ihr neuer Partner sei Schriftsteller, fragt er ätzend: Heißt er vielleicht Dostoyewskij? Auch die abfällige Bemerkung über ihren Sohn, dem bestimmt kein Engel im Feuer erschienen sei, gehört zu dieser Art kaustischer Kommentare. Viel zu lachen gibt es da nicht.

Johnson erwähnt dann Einzelheiten aus den Dialogen im Stalker (1979), die nihilistischen Reden des Schriftstellers, wenn er etwa die Schriftstellerei mit dem Auspressen von Hämorrhoiden vergleicht und ähnliches mehr. Es geht wohl hauptsächlich darum die Bedenken des Publikums zu zerstreuen, das bei Tarkowskij argwöhnte, er ziele ins Weihevolle, Elitäre. Zum anderen war da wohl auch die im Film vom Stalker geäußerte Überzeugung, dass die „Zone“ besonders für die Hoffnungslosesten der richtige Ort sei.

Der Schriftsteller ist mit einer glamourösen Schönen und ihrem Sportwagen zum Ort der Verabredung erschienen und wir hören wenige Worte ihrs small talks über das Bermudadreieck. Als der Stalker dieser Frau ohne Umschweife und nicht eben gentlemanlike bedeutet, sie solle verschwinden, zischt sie den Schriftsteller an: „Kretin!“ und prescht mit dem Sportwagen davon. Der auf dem Auto abgelegte Hut des Schriftstellers wird von dem Wagen davongetragen. Dieser Hut ist wie eine Pointe, der wir für immer nachjagen, die wir aber nie erreichen…

In Nostalghia gibt es eine Szene, die ganz von Ironie durchtränkt ist, ohne dass es in einer Pointe explizit wird. Tarkowskij schrieb einmal von der besonderen Stimmigkeit des absurden Theaters15 und die Salongespräche dreier Herren und einer Dame im mittelalterlichen Thermalbad von Bagno Vignoni haben etwas von absurder Komik. Von Nebelschwaden umgeben, das warme Wasser bis zum Hals, haben sie sich offenbar für einen längeren Aufenthalt eingerichtet. Die Frau trägt einen Turban und scheint im Übrigen bekleidet, einer der Herren trägt einen Hut. Auf einem Brettchen hält man ein Feuerzeug trocken. Es werden inmitten der dichten Nebelschwaden Zigarren geraucht. Ihrem Gespräch entnehmen wir, dass ein gewisser Domenico offenbar verrückt geworden sei, weil er in der Erwartung des Weltendes seine Familie sieben Jahre eingeschlossen habe. Eine kleine Pointe, die an der italienischen Sprache hängt, liegt darin, dass ausgerechnet der glatzköpfige General sagt, man habe es mit dem nackten Auge, „a occhio nudo“, sehen können, dass dieser Domenico irre ist. Domenico geht am Rand des Beckens mit seinem Schäferhund entlang und unterhält sich mit ihm: „Sie wollen ewig leben.“ ist sein Kommentar zu den Menschen im warmen Becken. Er ist bekümmert über ihr Gerede, meint dann aber, man solle dennoch gut zuhören, denn man könne immer etwas lernen.

Der Russe drängt die Dolmetscherin mit dem angeblich verrückten Domenico Kontakt aufzunehmen. Der wohnt in einem verlassenen Fabrikgebäude. Davor sehen wir den Italiener auf einem stillstehenden Fahrrad radeln – so wie auf einem Hometrainer. Eugenia spricht ihn an, aber er radelt unbeirrt weiter. Mag sein, dass ein Lied des russischen Liedermachers Wladimir Wyssotskij den Regisseur hier inspiriert hat. Wyssotskij hat 1968 in Russland ein sehr bekannt gewordenes Lied „Morgen-Sport“ veröffentlicht, das in verschiedene auch westeuropäische Sprachen übersetzt worden ist. Darin spottet der im Alter von nur 42 Jahren aufgrund von unmäßigem Alkohol- und Drogenkonsum frühzeitig verstorbene Barde über die Leute, die, auf der Stelle tretend, Freiübungen machen, weil sie eben „ewig leben“ wollen. Tarkowskij verleiht hier dem von Domenico über die Badegäste Gesagten polemischen Nachdruck. Wie der Hamster im Drehrad ist der Mann, der auf dem stehenden Rad in die Pedale tritt, ein Bild für aktionistischen Leerlauf.

Dem Schriftsteller Gortschakow wird in seinem Hotelzimmer von der Dolmetscherin eine fürchterliche Szene gemacht. Eine ältere Dame, die mit ihrem Hund im Treppenhaus vorbeikommt, sieht den Russen aus dem Zimmer flüchten und die Frau, die ihm nachschreit. In diesem Moment hört man von oben die monotonen Gesänge der chinesischen Musik des Generals. Die Dame ruft entrüstet aus, sie werde es trotz allem länger in diesem Haus aushalten, als die anderen. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik und scheint auf Kosten der chinesischen Musik zu gehen. In der Tat wirkt sie im italienischen Kontext so fremd und so exotisch, dass sie die Atmosphäre des Absurden, die die Szene im Thermalbad bestimmte, wieder aufgreift. Diese Musik bildet den Hintergrund für den Brief des russischen Komponisten Sosnofskij, auf dessen Spuren Gortschakow reist. Der Brief wird nun aus dem Off verlesen, während wir die zur Abreise bereite Übersetzerin Eugenia bei seiner Lektüre sehen. In eindringlichen Worten wird die Erfahrung völliger Fremdheit des Russen in Italien beschrieben. Die Fremdheit der chinesischen Musik untermalt das. In Hinblick auf die chinesische Musik gilt ähnliches wie wir bereits bei Tarkowskijs Verhältnis zur spanischen Kultur festgestellt haben: die offenkundige Ironie soll eine wirkliche Faszination verbergen. Am Ende seines wiederholt zitierten Buches bekennt Tarkowskij rückhaltlose Bewunderung für alte chinesische Musik in Worten, die durchaus an die Äußerungen des Generals im Thermalbad erinnern.16

In einer versumpften Kirchenruine hat der angetrunkene Gortschakow ein Gespräch mit der kleinen Angela, was ein Beispiel asymmetrischer Kommunikation ist. Er macht dabei eine Aussage, die sich vielleicht auf den Humor oder die Ironie übertragen lässt. „Die Gefühle, die man nicht ausspricht, vergisst man nicht.“ Das gilt etwa für die Szene im Thermalbad. Wenn man die unterschwellige Ironie dabei wahrgenommen hat, hinterlässt das einen bleibenden Eindruck. Das andere Extrem lässt sich in gewissen Artikeln des angelsächsischen Journalismus sehen, wo es quasi de rigueur ist, witzig zu sein und man bei der Lektüre die ganze Zeit vergnügt vor sich hin kichert, aber am Ende des Artikels oft schon nicht mehr weiß, was da so lustig war. In dem Gespräch mit Angela erzählt Gortschakow sogar einen russischen Witz, wobei er aber so wenig Hoffnung zu haben scheint, verstanden zu werden, dass er ihn gleich auf Russisch erzählt. Ein Mann liegt am Rand eines Sumpftümpels. Ein anderer kommt, um ihn unter Aufbietung all seiner Kraft aus dieser misslichen Situation zu befreien. Der „Gerettete“ schreit dann den schwer keuchenden „Retter“ an: „Warum machst du das? Ich lebe da!“ Der stark angeheiterte Gortschakow fügt als Erklärung grinsend hinzu: „Er war sehr gekränkt.“ Hier wird an ein russisches Inferioritätsgefühl hinsichtlich ihrer Zivilisation gerührt, das man sonst diskret verschweigt.

Johnson sieht in der Szene am Ende des Films, in der Domenico sich vor einer fühllosen und tatenlosen Menge auf der Piazza del Campidoglio in Rom den Flammentod gibt, slapstickhafte Elemente.17 Ich habe von dieser eher dramatischen Szene eine insgesamt andere Interpretation, wie ich noch Gelegenheit haben werde auszuführen. Allerdings kommt auch hier in minimalen Details der Schalk des Regisseurs zum Vorschein. Eugenia sagt Gortschakow am Telefon, Domenico halte in Rom endlose Reden „wie Fidel Castro!“ Ein amüsanter Hinweis für alle, die nicht wussten, dass Fidel Castro in seinen besten Zeiten bis zu zwölf Stunden lang reden konnte.- Es handelt sich auf dem Kapitolsplatz um eine Demonstration von Geisteskranken. Spruchbänder und Plakate sind zu sehen. Auf einem steht: Domattina è la fine del mondo – Morgen früh ist das Ende der Welt! Das ‚o‘ vom letzten Wort ‚mondo‘ geht, in die Enge getrieben, am Rand des Plakats hoch – im Italienischen gibt es den schönen stehenden Ausdruck für jemanden, der wenig überzeugende Argumentationen anführt: „si arrampica sui vetri“ „Er versucht an den Fensterscheiben hochzuklettern.“

In Tarkowskijs letztem Film Opfer ist Humor wiederum karg gesät. Jungchen spielt dem etwas bajazzohaften Briefträger Otto einen Streich, der in gespielter Wut in die Luft springt, aber das alles ist auch mehr tiefgründig als komisch. Otto macht nebenbei einen drastischen Kommentar, warum er nicht raucht: er habe mal die Lunge eines Rauchers im Leichenschauhaus gesehen. (Übrigens lässt sich Domenico in Nostalghia einmal eine Zigarette geben, „weil er nicht raucht.“) Doch abgesehen von dieser Randbemerkung zu Tarkowskijs altem Laster gibt es wenig Lustiges zu berichten. (War er nicht ein Kettenraucher von russischen Zigaretten, die kein Pardon gaben?) Als Otto dem Protagonisten Alexander in der Nacht unendlich umständlich und geheimnisvoll zuflüstert, er solle mit der Dienerin Maria schlafen, muss der über dieses Ansinnen lachen. Sonst lacht er kaum. Wenn ein Glückwunschtelegramm zu Alexanders Geburtstag unterschrieben ist mit: „Deine Richardianer und Idiotisten“, so ist das mehr rätselhaft als lustig.

Freilich entbehrt die lange Szene vor dem niederbrennenden Haus nicht komischer Elemente. Da ist Johnson zuzustimmen.18 Wir sehen das kopflose hin und her Rennen von Alexander und seinen Lieben aus der Ferne. Sie wollen ihn einfangen, um ihn in den flugs eingetroffenen Krankenwagen zu packen. Einerseits kann man bemäkeln, dass der Krankenwagen so schnell zur Stelle ist, andererseits wird damit ein Topos des Komischen aufgerufen: „They are coming to take me away, ha ha!“ hieß ein immer noch populärer Songtitel aus den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Während das Haus schon brennt, hört man drinnen lange das Telefon klingeln; vielleicht sollte das als Erklärung dienen. Vielleicht war das nächstliegende Hospital schon lange alarmiert, weil man wusste, dass Tarkowskij auf Gotland einen Film drehte…

1 Johnson, Vida T. Laughter beyond the mirror: humor and satire in the cinema of Andrei Tarkovsky, in: Horton Andrew (ed.) Inside Soviet film satire: laughter with a lash, Cambridge; New York: Cambridge University Press 1993, pp.98-104

2 Johnson, Vida T. Laughter beyond the mirror, p.98: “When I hear people say in solemn tones, ‘ Oh, you worked with Andrei Tarkovsky’, I remember this cheeky little chappie who was doing the most outrageous things, pulling faces and gamboling around” (interview 1988)

3 ibidem. p. 101

4 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, p. 160 s.

5 Hier ist ein erstes Mal eine asymmetrische Kommunikationssituation dargestellt, die auch in späteren Filmen wiederkehrt. In Nostalghia spricht Gortschakow mit der kleinen Angela und vor allem in Offret Alexander mit „Jungchen“. In einem Interview sagte Tarkowskijs Sohn, Andrej jr., einmal, dass er sich an viele solche Situationen erinnerte, in denen der Vater ihm Vorträge hielt, von denen er wenig verstanden hat.

6 Tarkowskijs Tendenz zur Synthese, zum Konzentrieren führt dazu, dass er für den Geschmack einiger Leute etwas zu dick aufträgt: Muss der Hauptmann ausgerechnet seine Knute verlieren? – Eine psychologisierende Erklärung für die Drastik dieser Szene wäre auch möglich. Für stark visuell begabte Menschen ist die Furcht zu erblinden eine quälende Urangst. Tarkowskij hat hier diese Angst bei den Hörnern gepackt.- Man denke an das furchtbare Bild Rembrandts, das der dreißigjährige Maler von der Blendung Simsons gemalt hat (Rembrandt van Rijn, Blendung Simsons, 1636, Öl auf Leinwand, 205×272 cm, Städel, Frankfurt a.M.)

7 In meinem Aufsatz über Tarkowskij und die Kunst des Westens habe ich das ausführlich interpretiert.

8 Im früheren Kapitel über das heidnische Fest in der Sommernacht war es streng genommen offen geblieben, ob Rubljow sich von der nackten Frau hat verführen lassen, oder ob er der Versuchung widerstanden hat. Jedenfalls hat er erst in den Morgenstunden zu seiner Gruppe zurückgefunden.

9 In meinem Aufsatz Tarkowskij und die Kunst der Ikonen, p.

10 Diese Mongolen lässt T. ihre Muttersprache sprechen, so wie die Gesandten aus Venedig in dem Kapitel über den Glockenguss miteinander Italienisch sprechen. Robert Bird hat sich die Mühe gemacht, die Turksprache zu übersetzen: aus den Rufen der Mongolen geht hervor, dass sie die Frau auf der Straße vor dem Weiler zurücklassen wollen.

11 Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Aufsatzes war das eine „prophetische“ Ahnung. Bei der späteren Arbeit zu Tarkowskij und die Deutschen bin ich tatsächlich noch fündig geworden, eine hier begrabene, von Snaut erwähnte allbekannte Luther-Legende entpuppte sich fast als Jahrtausendwitz.

12 Auch Johnson und Petrie deuten diese Szene im gleichen Sinne. Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky A Visual Fugue, Indiana University Press 1994 „The fact that even in the seventies, the verbal slip could not be openly identified is part of the meaning of the scene.“ S. 131

13 Andrej Tarkovskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S.55

14 Andrej Tarkowskij, Tagebücher, 14. September 1972

15 Andrej Tarkowskij schreibt davon am 4. Februar 1974

16 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, op. cit. p. 241. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Autor mit der Ironie seine wahren Gefühle verschleiert. Während die Bewunderung für die japanische Kultur schon lange feststand (die Haikus des Basho, die Filme Mizoguchis und Kurosawas) musste er im Fall der chinesischen Kultur eine tief sitzende Furcht überwinden, wie sie in dem Film Der Spiegel noch deutlich zu spüren ist.

17 Johnson, Vida T. a.a.O., S. 102

18 ebenda

Tarkowskij und die Gretchenfrage

Man könnte meinen diese Frage sei überflüssig, da Tarkowskijs notorische Religiosität vielleicht der Hauptgrund ist, weshalb der Regisseur in gewissen Kreisen immer noch als „uncool“ gilt. Er hat von sich selbst allerdings wiederholt als Agnostiker gesprochen und das nicht nur in Interviews, sondern auch im Tagebuch, bei dem der Verdacht taktischer Erwägungen wegfällt (13. August 1981). Dann war er freilich ein Agnostiker ganz besonderer Art, meilenweit entfernt von der mehr oder minder gutmütigen Gleichgültigkeit in der Gottesfrage, die man gemeinhin mit dieser Haltung verbindet. Religiöse Fragen faszinierten ihn nachdrücklicher als Günter Grass alias Oskar Matzerath die katholische Konfession, die der bekanntlich mit einem rothaarigen Mädchen verglich.

In Iwans Kindheit (1962) kommt am Rande Religiöses ins Bild etwa die Reste eines Freskos von Maria und dem Kind in der Art der Ikonenmalerei im wild flackernden Schein eines brennenden Holzscheits oder ein schräg ins Bild ragendes Metallkreuz, das zunächst bei Detonationen von spritzender Erde und Rauchschwaden verhüllt, dann aber vor das milde Licht der wieder aufscheinenden Sonne projiziert wird. Tarkowskij selbst hat diese Bezüge in einem Interview als klischeehaft klein geredet1. Bei Interviews zeigte Tarkowskij eine eigentümliche Mischung aus Ehrlichkeit und List. Im Laufe der Jahre hat m. E. die Ehrlichkeit die Oberhand gewonnen.

Im Andrej Rubljow (1966) ist die religiöse Thematik vom Sujet vorgegeben. Tarkowskij versäumte nicht schon 1962 während der Vorbereitungen zu diesem Film darauf hinzuweisen, dass kein Geringerer als Lenin die Wichtigkeit der künstlerischen Beschäftigung mit dem berühmtesten Ikonenmaler hervorgehoben hatte. Der Regisseur hatte also Gelegenheit sich gewissermaßen offiziell mit den christlichen Wurzeln der Kultur seines Landes zu befassen, musste freilich auch dem offiziellen Atheismus der Sowjetunion Rechnung tragen. Schon im Vorfeld zur Entstehung des Films bekannte die am Drehbuch arbeitende Editorin N. V. Beliaeva: „Für mich ist hier ein kaum zu fassender Geist am Werk, mit dem zu kämpfen sehr schwer ist.“2 Das erinnert auf unheimliche Weise an eine Aussage des Apostels Paulus: „Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister der Bosheit in der Himmelswelt.“ (Eph 6, 12) Man kann davon als gesichert ausgehen, dass der Regisseur am Ende seiner Arbeit für diesen Film ein vertieftes Verständnis sowohl der Kunst der Ikonen als auch der christlichen Traditionen seines Landes erworben hatte. Es hat sich schon im Aufsatz über die Ikonen die Gelegenheit ergeben, aufzuzeigen, dass in Tarkowskijs Kunst der Glaube lebendig wurde. Hier soll nur einiges zur Ergänzung nachgetragen werden, um ein ausgewogeneres Bild zu erhalten. In einer Tagebuchaufzeichnung aus dem September 1970, also einige Jahre nach Abschluss der Arbeiten am Rubljow, gab Tarkowskij zu erkennen, dass er – wie groß er auch die Bedeutung der Religion sah – der Kirche wenig zutraute (9. 9. 1970). Diese Skepsis wird auch schon in dem Film über das russische Mittelalter deutlich. Man denke an die Szene der missglückten Versöhnung der beiden Fürstenbrüder. Der jüngere Bruder ist früher eingetroffen und wartet im Schnee vor dem Eingang der Kirche, aus der die gewaltigen Gesänge der orthodoxen Liturgie zu hören sind. Dann kommt der ältere Bruder mit seinen Leuten, er wurde bekanntlich vom gleichen Schauspieler (Juri Nasarow) mit slawisch-undurchdringlichem Blick dargestellt. Der Metropolit tritt den beiden mit seinen Klerikern entgegen. Der Jüngere muss zum Zeichen seiner bußfertigen Unterwerfung ein Kruzifix küssen. Dann umarmen sich die beiden Brüder zum innigen Bruderkuss. Die Kamera gleitet hinab und wir sehen wie der Überlegene den Unterlegenen demütigt, indem er ihm auf den Fuß tritt. Der anbrandende Gesang hat offenbar nicht so weit Gewalt über die Herzen, dass er sie im Grunde umstimmen könnte. Oder ist vielleicht der ältere Bruder so überwältigt und verwirrt, dass er dem anderen aus Versehen auf den Fuß tritt? Aber der hat es offenbar nicht so empfunden; er hat sich, bzw. seinen Fuß, das kann man sehen, unter dem festen Tritt verzweifelt gewunden. Diese Demütigung hat ihn dann dazu bewogen, die ganze Stadt Wladimir den Mongolen auszuliefern. Es bleibt festzuhalten, dass hier der Tradition des sozialistischen Bruderkusses ein zweifelhaftes Denkmal gesetzt worden ist.

Selbst bin ich in früheren Versuchen über Tarkowskij der Versuchung erlegen, die extreme Langsamkeit der späteren Filme mit der orthodoxen Liturgie in Verbindung zu bringen, den Autor also gewissermaßen zu klerikalisieren. Wenn man allerdings darauf achtet, wie im letzten Segment vom Rubljow die Weihe der Glocke wiedergegeben wird, muss man feststellen, dass die Kleriker, die die Glocke umschreiten und die Weihezeremonie von allen vier Seiten wiederholen, als ausgemachte Langweiler daherkommen im unmittelbaren Kontrast zu einer der wenigen Szenen, in denen Tarkowskij wirkliche Spannung aufgebaut hat: wird die Glocke klingen oder nicht?

In Solaris (1972) kulminiert der Film in der Abschlussvision des auf der Raumstation fiebernden Kris Kelvin. Johann Sebastian Bachs Orgel-Präludium zum Choral „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 639), das im Film verschiedentlich angeklungen ist, nimmt gegen Ende des Films elektronisch wummernd überhand, bzw. wird zu einem allgemeinen Dröhnen. Wir sehen Kris zum Vaterhaus heimkehren, wie bei Homers heimkehrenden Odysseus erkennt ihn der Hund wieder und läuft ihm entgegen. Kris späht mit vorgehaltener Hand von außen durch das Fenster und erblickt den Vater in einer völlig irrationalen Verdichtung von Sonnenlicht und Regen, der durch die Zimmerdecke bricht und in der Sonne auf dessen Lederwams dampft. Die Kamera beginnt diskret zurückzuweichen. Der Vater kommt an die Haustür und Kris fällt vor ihm auf die Knie wie Rembrandts Verlorener Sohn in der Eremitage von dazumal Leningrad. Das gewaltigste Gemälde Rembrandts (1669, Öl auf Leinwand, 262x 206cm) bezieht seine emotionale Gewalt auch aus der monumentalen Einfachheit der Gebärden und etwas davon hat sich auf Tarkowskijs Filmbild übertragen. Dieses Bild war mein erster bleibender Eindruck von einem Tarkowskij-Film in den fernen 70er Jahren an einem altersschwachen Schwarzweißfernsehgerät. Ein Bild der Umkehr des nur noch an sich selbst glaubenden modernen Menschen mitten aus der Sowjetunion! Schon in der Bibliothek auf der Raumstation Solaris war Kris in Reue vor Hari auf die Knie gefallen, was der reizbare und zynische Sartorius gar nicht vertragen konnte. Tarkowskij hat es sich mit wörtlichen Zitaten nach Gemälden nicht leicht gemacht, sie widersprachen eigentlich seinen Überzeugungen. Er hat sich dieses Bild buchstäblich abgerungen, und es ist auch nicht einsinnig religiös, etwas von der fast schon asiatisch komplizierten Beziehung zum eigenen Vater ist darin eingegangen (siehe die Tagebuchaufzeichnung vom 14. 9. 1970). Deshalb das ohrenbetäubende Dröhnen des Synthesizers: es macht Worte überflüssig, und wie wichtig ist das! Der Autor hat sich hier einem neuralgischen Punkt des eigenen Seelenlebens angenähert. Die nach oben zurückweichende Kamera zeigt das Vaterhaus umgeben vom Ozean Solaris, und die Vision des barmherzigen Vaters wird so zu einer Selbstaussage Gottes. Es bleibt noch genügend Rätselhaftes: Was soll der Regen in der Wohnung zusammen mit dem Sonnenschein? Eine Anspielung auf den Ozean Solaris? Der Ozean heißt Solaris, was allerdings die Sonne ins Spiel bringt. Die Synthese von Feuer und Wasser als Bild des Unfasslichen?

In seinen Bemerkungen im Tagebuch zum Spiegel (1975) meinte der Autor, der Film sei antibürgerlich und religiös und deshalb auf Schwierigkeiten gestoßen (20. April 1976). Es muss allerdings festgestellt werden, dass der Film auch in dieser Hinsicht der rätselhafteste ist. Das Religiöse ist wieder höchst persönlich und scheint nicht so sehr konfessionell gebunden. An anderer Stelle, in den Aufsätzen über „Tarkowskij und die Kunst des Westens“ und über „Die Kunst der Schlüsse“ hatte ich Gelegenheit, dieser Frage ausführlich nachzugehen, weshalb ich mich hier kurz fassen werde. Zu erwähnen sind die Dokumentaraufnahmen über den endlosen Marsch der roten Armee durch den Siwasch-See. Für Tarkowskij waren diese Aufnahmen nach seinen eigenen Worten gewissermaßen das Rückgrat des Films. In seinem Buch beschreibt er die unbändige Begeisterung, als er nach einer gleichfalls fast endlosen Sichtung von Wochenschau-Dokumentationen auf einmal dieses Material entdeckte3. Man sieht zahllose Menschen, Männer, zum Teil schwer beladen, einer ungewissen Zukunft entgegen wanken. Der Horizont verschmilzt mit der hellen, endlosen Wasserwüste. Der Tod ist in diesen Bildern allgegenwärtig. Denn auch wenn das Wasser zum Teil nur knietief war, genügte es, entkräftet hinzusinken, um mit Sicherheit zu sterben. „Es war unmöglich, auch nur für eine Sekunde an die Sinnlosigkeit dieser Leiden zu glauben. Dieses Material sprach uns von der Unsterblichkeit, und das Gedicht Arsenij Tarkowskijs verlieh dieser Episode einen Rahmen, vollendete sie sozusagen.“4 Im dialektischen Widerspruch zur offensichtlichen Endlichkeit des Lebens kommt es zu einem antimaterialistischen (und einigermaßen irrationalen) Credo an die Unsterblichkeit. Im gleichen Zusammenhang erscheint die Episode bei der paramilitärischen Ausbildung mit Asafiew, dem hässlichen kleinen Vollwaisen und Überlebenden der Leningrader Blockade als ein Hinweis auf die allgegenwärtige Vorsehung oder wie es Tarkowskij formulierte: „Mehr oder minder handeln alle meine Filme davon, dass die Menschen nicht einsam und verlassen in einem leeren Weltbau hausen, dass sie vielmehr mit unzähligen Fäden der Vergangenheit und Zukunft verbunden sind…“ (A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.210)

Es folgt die wahrscheinlich auf einer Erinnerung basierende Episode mit dem von der Front heimgekehrten Vater. Man sieht die junge Mutter hockend mit einem Messer Holz spalten. Mit einem Mal die tonlose Stimme des Mannes: „Mariuscha, wo sind die Kinder?“ Ihrem Blick ist klar zu entnehmen, dass alle Gefühle zwischen den beiden erkaltet sind. Im verwahrlosten Garten, spätherbstlich trüb, sehen wir die Geschwister, vielleicht schon neun bzw. acht Jahre alt, neben einem Kunstbuch mit Leonardoreproduktionen. Marina droht ihrem älteren Bruder, sie werde allen sagen, dass er das Buch gestohlen hat. Es wird viel gezankt und gestritten in diesem Film, gewissermaßen von klein auf. Die Seite mit dem Selbstbildnis Leonardos ist aufgeschlagen, die bekannte Vaterfigur mit Wallebart. Dann hört man von weitem die Stimme des Vaters rufen: „Marina!“ Die beiden rennen durch das schmutzige, nasse Laub. Alexei läuft schneller, wie schon am Ende von Iwans Kindheit beim Wettlauf der Geschwister der Junge schneller lief. Aber dann stürzt Alexei und so scheint die Schwester als erste in die Arme des geliebten Vaters zu gelangen. Der Vater in Uniform birgt die Geschwister an seiner Brust. Offenbar sollen wir die dort prangenden Tapferkeitsauszeichnungen sehen. Die Kinder scheinen vor irgendetwas geflohen zu sein. Das Mädchen versteckt ihr Gesicht völlig, und der Junge äugt verschreckt zur Seite. Oleg Jankowskij, der Darsteller des Vaters, hat nicht übermäßig viel zu tun in diesem Film. Er verdankte die Rolle vermutlich der Tatsache, dass er einen ähnlich edel geformten Schädel wie der Vater hatte, mit schön sich wölbender Stirn. Die Mutter beobachtet das Ganze mit kaltem Vorbehalt. Dazu erklingt das Evangelisten-Rezitativ nach dem Tod Jesu vom Ende der Matthäuspassion des Johann-Sebastian Bach: „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebete und die Felsen zerrissen, und die Gräber täten sich auf und stunden auf viel Leiber der Heiligen…“ Wie zur Erläuterung wird das Bildnis der Ginevra de’ Benci (c.1474/1478, Öl auf Holz, 38,1 cm x 37 cm, National Gallery of Art, Washington D.C.) eingeblendet, zunächst buchstäblich mit gleißendem Licht, dann wird uns das Bild zur ruhigen Betrachtung dargeboten. Es muss nicht im Einzelnen die Diskussion des Leonardo zugeschriebenen Frauenporträts wiederholt werden. Tarkowskijs Hinweis, man habe damit „die Dimension des Ewigen“ einführen wollen, ist nur bedingt geeignet unserer Ratlosigkeit abzuhelfen. Sein Kommentar zu diesem Bildnis ist ungewöhnlich ausführlich, es sei einfach „jenseits von Gut und Böse“. (Versiegelte Zeit, S. 114 f.) Soll das das Antlitz Gottes sein? Tarkowskijs Kommentar zusammen mit der Tatsache, dass vom Zerreißen des Vorhangs im Tempel die Rede ist, legen das nahe5. Das Selbstbildnis des greisen Leonardo mit Rauschebart entspricht sehr viel mehr der traditionellen Vorstellung. Die Unauflösbarkeit des Bildes der jungen Frau deutet auf etwas Absolutes hin. Außerdem lässt es uns den Titel des Films tiefer verstehen: wir werden die Ambivalenz des Bildes auflösen, indem es unsere eigene innere Wahrheit widerspiegelt. Im Sinne von Johannes 12, 47 f. ist es nicht Christus, der uns richtet, sondern wir selbst sind es. Dies jedenfalls ist mein Deutungsversuch.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als werde alles von dem bleibenden Zerwürfnis der Eltern überlagert. Tarkowskij hat auf die Parallele zwischen dem Leonardo-Bildnis und Margarita Terechowa, der Darstellerin der Mutter Mariuscha und der Frau Natalja hingewiesen. Im Bildnis wie in der Mutter erscheint das Weibliche kalt und abweisend. Umgekehrt wird dem zurückgekehrten Vater eine fast mütterlich bergende Rolle zugesprochen. Wie gesagt, schienen die Kinder vor irgendetwas auf der Flucht zu sein. Sind sie am Ende gar vor der Mutter geflohen, wird sie geradezu dämonisiert? Mit Fragen dieser Art lässt uns der Film allein.

Abschließend können wir nicht ignorieren, dass der Film am Ende in ein monumentales Gebet einmündet. Alexej, das Ich des Films, siecht dahin, was der sachlich kommentierende Arzt mit den Schuldgefühlen des Mannes erklärt. Wie Tolstojs frühzeitig sterbender Iwan Iljitsch bittet der Mann darum in Ruhe gelassen zu werden und meint, er habe nur glücklich sein wollen. Tolstojs Text hat Tarkowskij nachweislich beschäftigt6. Tarkowskij ergreift mit leichter Hand ein auf der grünen Steppdecke wie siech hockendes Vögelchen, vielleicht eine Lerche, und wirft es in die Höhe. Es ist so etwas wie das Jubilieren von Lerchen zu hören. Wir sind mit einem Mal im blühenden Buchweizenfeld. Den Buchweizen, der im Vorfeld für den Film so wichtig war7, sehen wir endlich in seiner Blüte, aber schon bricht die Abenddämmerung an. Wir sehen die Eltern als junges, glückliches Paar in einer Wiese liegen: sie stützt sich auf seiner Brust auf, den schweren, honigblonden Zopf fast gelöst. Er fragt sie: „Hättest du lieber einen Jungen oder ein Mädchen?“ Eine für Tarkowskij alles andere als gleichgültige Frage. Aber sie gibt keine Antwort, schaut sinnend auf, es arbeitet in ihr, sie beißt sich auf die Lippe, lächelt unter Tränen und erblickt sich selbst in der Ferne wie sie als gealterte, verhärmte Frau durch das Buchweizenfeld eilt, begleitet von den Kindern, wundersamerweise wieder so klein wie in der Eingangszene des Films.

Die große Unruhe der Instrumentalmusik vom Beginn der Johannespassion Johann Sebastian Bachs beginnt in wunderbarer Übereinstimmung mit der Eile der alten Frau und dann setzt mit dem Aufschrei: „Herr, unser Herrscher…“ die Springflut des Chorals ein.

Die Entscheidung über die vom Mann gestellte Frage wird Gott überlassen. Die Kamera wandert über keineswegs nur idyllisches Gelände: wir sehen auf morschem Holz krabbelnde Borkenkäfer, aber auch in einer Grube dunkel schimmernden Zivilisationsmüll, der sich nicht in den Kreislauf des Verfalls fügt. Der kleine Junge bleibt einige Schritte hinter Tarkowskijs alter Mutter zurück und nachdem der Bachchoral verebbt ist, stößt er zwei laute Schreie aus, was uns daran erinnert, dass der kleine Andrej es schon immer dem großen Johann Sebastian Bach gleich tun wollte8. Das Buchweizenfeld verschwindet schließlich hinter den dunklen Baumstämmen eines Waldes und so wird der Beginn von Dantes Göttlicher Komödie ins Spiel gebracht, der am Ende der Szene in der Druckerei zur Stalinära von Lisa Pawlowna, der Kollegin der Mutter, übermütig hüpfend zitiert worden war. Dantes grandiose Vision begann mit einer Verirrung „auf halbem Weg im Dunkel eines Waldes“ und in diese Situation entlässt uns der Film. Schmerzlich schöne Bilder der Vergänglichkeit und ihrer Aufhebung in der Sehnsucht nach Unsterblichkeit sind an uns vorüber gezogen; zugleich aber auch Bilder eines kalten, abstoßenden Alltags und des erschreckenden Weltgeschehens. In seiner Irrationalität und letzten Ehrlichkeit ist das Ganze durchaus mit einem Schrei zu vergleichen, oder ist doch zumindest die Vorbereitung auf den Gebetsschrei, der die Johannespassion eröffnet.

In Stalker (1979) läuft alles auf die nicht „vollzogene“ Dreifaltigkeit vor der magischen Kammer hinaus, wie ich im Aufsatz über Tarkowskij und die Kunst der Ikonen gezeigt habe. Man könnte darauf hinweisen, dass bei Jean-Paul Sartre in seinem Stück Huis Clos (Geschlossene Gesellschaft) von 1944 auch die Dreizahl als Anspielung auf die Dreifaltigkeit eine Rolle spielt, doch ist sie dort, in der Hölle, im Grunde genommen nur noch ein Fluch. Ganz anders bei Tarkowskij: die Dreifaltigkeit als Modell für zwischenmenschliche Beziehungen leuchtet als Möglichkeit in unverhoffter Schönheit inmitten der Unwirtlichkeit der Zone und der Erbärmlichkeit und Niedertracht der Mitspieler auf.

In Nostalghia (1983) spielt die Handlung in einem katholischen Land, was in einem kurzen Aperçu zur katholischen Kirche seinen Niederschlag fand. Ursprünglich war Das Ende der Welt auch als ein möglicher Titel des Films in Betracht gekommen. In meinem Beitrag über Tarkowskijs humoristische Seite habe ich darauf hingewiesen, dass im Film ein ironischer Schlenker in Richtung dieser Endzeitaufgeregtheit enthalten ist. Domenico, der verrückte Mathematiker hatte bekanntlich seine Familie sieben Jahre eingesperrt. Die Badenden im Thermalbad unterhalten sich darüber. Dann wird eine Erinnerungsszene von der Befreiung von Domenicos Familie eingeblendet. Die Polizei hat diese Befreiung bewerkstelligt. Gleich zu Beginn hat Tarkowskij eines seiner widersprüchlichen Bilder komponiert, das ich in meinem Aufsatz über Tarkowskij und die Kunst der Ikonen kommentiert habe. Dann sehen wir in Zeitlupe den kleinen Sohn Domenicos gefolgt von seinem Vater schräg über die vielstufige Eingangstreppe einer Kirche erst hinauf und dann hinuntergehen. Die Szene ist im markanten Gegensatz zu der Beschreibung durch die Badenden charakterisiert: nicht jagt der Vater seinen Sohn wie eine Maus, so dass alle angeblich um das Leben des Kleinen fürchten mussten, sondern er folgt ihm zwar im Lauf, aber seine Schritte werden zögerlich, als sie in die Tiefe hinabsteigen. Domenico trägt einen Koffer mittlerer Größe und einen kleinen, außerdem sonderbare, helle Sandalen. Oben auf der Treppe vor der Eingangstür der Kirche steht ein Priester in Soutane, der Domenico aufzuhalten sucht: „Was wollen Sie?“ Doch der lässt sich nicht aufhalten, sondern stellt lediglich die beiden Koffer ab. Tarkowskijs in langen Jahren erworbene Methode, in sich widersprüchliche Bilder zu komponieren, bewährt sich einmal mehr. Diese winzige Episode ist bei weitem zu rätselhaft, als dass man sie als Polemik nehmen könnte, doch hat man zugleich das bestimmte Gefühl, dass sie sich auch zu triumphalistischen Zwecken wenig eignet. In seiner Position fast zentral vor der Kirchentür hoch oben auf der Treppe wirkt der katholische Geistliche dienstfertig und selbstherrlich zugleich. Ich bin in der glücklichen Lage, viele Priester zu kennen, die den Aspekt der Dienstfertigkeit sehr überzeugend leben, aber es kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass es immer noch genügend Priester gibt, die nie davon ablassen werden, einander Weihrauch zu spenden, von nun an bis in Ewigkeit, um es mal ein wenig zu übertreiben. Insofern ist dieses immer noch aktuelle Porträt nicht einseitig oder ungerecht. Ist die Tatsache, dass der Priester vor die Tür der Kirche kommt eine Anspielung auf das so genannte „Aggiornamento“? Der ursprünglich sehr katholische, französische Regisseur Robert Bresson, den Tarkowskij bewunderte, soll angeblich von den Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht sehr überzeugt gewesen sein. Tarkowskij hat kaum selbst Erfahrungen mit der katholischen Kirche gemacht, nahm allerdings 1983 an einem Meeting von CL (Comunione e Liberazione) in Rimini teil und war sehr angetan davon. Er bewunderte sehr den Film von Luis Buñuel Nazarín (1959), bei dem ihm der antiklerikale Unterton nicht entgangen sein dürfte. Freilich trägt das zum Verständnis dieser gefilmten Episode nichts bei. Was hat das Abstellen der beiden Koffer zu bedeuten? Vielleicht stehen die beiden Koffer in unterschiedlicher Größe für Vater und Sohn. Steht das Gepäck, das sie zurücklassen, für ihre sterbliche Hülle? Das Sterben ist hier ein Thema. Im Hintergrund ist wiederholt das Geräusch einer Kreissäge zu hören, was in diesem Film als ein „memento mori“ fungiert. Also wird dem kirchlichen Ritual die sterbliche Hülle überlassen? Nach dem zögerlichen Gang in die Tiefe die Treppe hinunter wechselt der Film von Sepia zu Farbe. Jenseits einer dunklen Böschung oder Mauer sehen wir bläulich schimmernd den regennassen Asphalt eines kurzen Straßenstücks und jenseits davon auf unbestimmte Weise getrennt durch eine Schlucht ragt eine „Stadt auf dem Berge“ auf: alabastern und kompakt. Während der Dreharbeiten 1979 für den Reisedokumentarfilm Tempo di viaggio zeigte sich der Russe enerviert von de touristischen Schönheiten Italiens. In der Tat hat wenig davon in seinen Film Nostalghia Eingang gefunden. Freilich muss man ihm in Anbetracht dieser Einstellung lassen, dass ihm darin gelungen ist sehr viel von dem, was an der italienischen Landschaft einzigartig ist, zusammenzufassen. Die „Stadt auf dem Berge“, von der das Evangelium spricht, ist eine der faszinierendsten Eigenheiten dieser Landschaft und vom italienischen Künstler Ciro (Roberto Cippolone) wiederholt zum Gegenstand von Kunstwerken gemacht worden. Zufällig sah ich unlängst in der Neuen Pinakothek in München das wunderbare Bild von Hans Thoma „Erinnerung an Orte“ (1887). Es scheint sogar mit dem Filmbild den Straßenabschnitt vorne rechts gemeinsam zu haben. Freilich findet man kaum so malerische Abbildungen im Netz von Orte in der Provinz von Viterbo im Latium. Vielleicht bedarf es eines Künstlerauges. Es kann fast ausgeschlossen werden, dass Tarkowskij das Bild des deutschen Malers kannte. Er war nie in München. Bei Tarkowskij ist das Bild spektakulär und alltäglich zugleich. Während bei Thoma zwei Reiter hoch zu Ross sich sehr anmutig von links nach rechts bewegen, taucht bei Tarkowskij am rechten oberen Ende des gezeigten Straßenabschnitts ein Auto auf um dann unten zu verschwinden. Dann sehen wir Domenicos blonden Sohn, der auf der Treppe sitzt und mit der Frage: „Papa, ist das das Ende der Welt?“ sich zum Vater umwendet und mit großen, dunklen Augen zu ihm hinaufblickt. Gerade im Kontrast mit der endzeitlichen Aufgeregtheit der Befreiung der weggeschlossenen Familie entfaltet das Bild seine Pointe: das Auftauchen und Verschwinden des Autos ist ein Bild für die menschliche Existenz. Jeder individuelle Tod ist „das Ende der Welt“ für das betroffene Individuum. Die Stadt auf dem Berge im Hintergrund fungiert als möglicher Ursprungsort oder/und Zielpunkt der Reise.

Die Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens ist ein Leitmotiv des Films in Antwort auf die im Thermalbad verharrenden Kurgäste, die laut Domenico „ewig leben“ wollen. Die erste Begegnung früh morgens mit Domenico am mittelalterlichen Thermalbad in Bagno Vignoni ist zunächst grotesk: wir sehen drei Herren und eine Dame, einer mit Hut und sie mit Turban, bis zum Hals im dampfenden, schwefelhaltigen Wasser. Einem als General angesprochenen Herrn mit Glatze ist wiederholt die Zigarre ausgegangen. Er lässt sich das auf einem Brettchen trocken gehaltene Feuerzeug reichen. Domenico geht mit seinem Schäferhund am Becken entlang und unterhält sich mit ihm angelegentlich. Er ist bekümmert über das Gerede der im Becken versammelten Gesellschaft, hebt aber hervor, dass man trotzdem gut hinhören, sich nur nicht zu sehr damit aufhalten solle. Unter anderem reden sie auch über ihn, Domenico, und der General bescheidet apodiktisch, dass er schlicht verrückt sei. Dann wendet sich ihre Aufmerksamkeit dem geheimnisvollen russischen Schriftsteller zu, der am Beckenrand steht. Domenico, der sich in einiger Entfernung am Rand des Beckens gesetzt hat, hat nun seinen ersten großen Auftritt, der ihn als Seelenverwandten der Yurodiwy, der Gottesnarren im alten Russland ausweist, die wiederum manches mit den Kynikern der Antike wie Diogenes gemein hatten. Er bittet die vorbeikommende Übersetzerin Eugenia um eine Zigarette, weil er nicht rauche. Vielleicht will er dem paffenden General einen Spiegel vorhalten. Rauchend schreitet er am Becken entlang nach vorn in den Bildvordergrund. Der absurde Wortwechsel über das Nichtrauchen hat vielleicht den Sinn, das Rauchen zu problematisieren und die gleichfalls absurde aber auch polemische Vorstellung zu provozieren, dass der dichte Nebel, der das ganze Becken einhüllt und die Menschen darin einlullt, von ihnen selbst produziert sei, dass sie sich, allen voran der General, also gewissermaßen selbst benebeln. Der mittelalterliche Badeort ist dafür bekannt, dass die große italienische Heilige Caterina da Siena sich dort aufgehalten habe, weshalb sogar ein dort erbautes Kirchlein nach ihr benannt wurde. „Vergesst nie, was Er zu ihr gesagt hat!“ ruft Domenico aus. „Wer?“ fragt Eugenia hinter ihm her. Ohne sich umzudrehen oder zu zögern hebt er den Arm und weist zum Himmel hinauf. „Zu wem?“ fragt sie weiter. Beinahe theatralisch echauffiert dreht er sich um: „Santa Caterina!“ als sei das selbstverständlich. Bald sehen wir die nach links gewendete Silhouette Domenicos monumental im Vordergrund gegen den Nebel. Seine dunkle Strickmütze gibt ihm etwas Mönchisches, fast erinnert er an einen russischen Starez. Unten plätschern die Badegäste verschwommen im Wasser. „Gott sprach zu ihr: Du bist die, die nicht ist. Ich bin, der ich bin.“ Eine sehr mystische Aussage, von der seine Zuhörer im Becken nicht einmal die Hälfte verstehen die aber durch die dunkle Projektion der gewaltigen Gestalt vor das Nebulöse, Weiße etwas eigentümlich Einprägsames erhält. „Domenico spricht mit der heiligen Caterina. Bravo Domenico!“ lacht, johlt und klatscht einer der Zuhörer. Beim müden Gast aus Russland hat Domenico einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Was heißt ‚fede’?“ fragt er die Übersetzerin, ein Wort, das er wohl von der badenden Dame aufgeschnappt hat, deren Cocker Spaniel am Beckenrand wartet. Mit seinem Italienisch gehe es wohl eher bergab stichelt Eugenia maliziös. Fede heißt „viera“, Glauben. Damit ist ein für Tarkowskij wichtiges Stichwort in diesem Film genannt. „Domenico ist nicht verrückt, er hat Glauben!“ behauptet Andrej Gortschakow mit Nachdruck. Darin ähnelt er wohl dem Regisseur, dass er Glauben weniger hat, als dass er davon fasziniert ist.

Später im Film sehen wir den Russen quer durch das Gras der Abteiruine von San Galgano wandeln. Er geht nicht in der Richtung der Kirchenschiffe sondern ist orientierungslos im Wortsinn und ignoriert die Ostung der Kirche. In der ihm eigenen Konzentration hat Tarkowskij die Orientierungslosigkeit touristischer Kirchenbesucher, die seit Jahrzehnten das Bild in historischen Kirchen Europas bestimmen, wiedergegeben. Dazu hören wir eine leiernde Frauenstimme ein in Italien weit verbreitetes Morgengebet intonieren: übertrieben in die Länge gezogen, wie durchhängend und schleppend, vor dem Hintergrund wirrer Stimmen, mehrheitlich von Kindern. Dann werden wir Zeugen eines kurzen Gespräches zwischen einer Frauen- und einer Männerstimme. Sie: „Warum sprichst Du nicht zu ihm?“ „Wie würde er reagieren, wenn er meine Stimme hört?“ „Du musst ihn deine Gegenwart fühlen lassen.“ „Das tue ich ja. Es ist er, der sie nicht wahrnimmt.“ Ein ähnliches Gespräch hatte Tarkowskij am 18. Juni 1979 zu Beginn seiner Reise nach Italien im Tagebuch notiert: ‚Antworte ihm, sprich zu ihm. Siehst du nicht wie er leidet?“ „Und wie soll ich ihm antworten? Was wird er denken? Wird er glauben, dass ich Gott bin? Nein, nein, ich darf auf gar keinen Fall mein Interesse für ihn zeigen.“

Tarkowskij war nach Abschluss der Dreharbeiten fasziniert von der Tatsache wie dunkel der Film geraten war, es schien als habe sich sein innerer Zustand fast unwillkürlich auf das Material übertragen. Der russische Schauspieler Oleg Jankowskij musste sich vor Beginn der Dreharbeiten etliche Wochen in Italien aufhalten, bis ihm der Regisseur den inneren Zustand an der Nasenspitze ansah, in dem er ihn haben wollte. Heimweh muss für Russen ein schlimmer Zustand sein, Tarkowskij ist sich dazu in wortreichen Erklärungen ergangen. Gortschakow wirkt wie entkräftet von dieser verzehrenden Sehnsucht.

Ein heimeliges, flaches Holzhaus zwischen Obstbäumen taucht in der Erinnerung auf. (Tarkowskij hat es in Italien unweit von Rom gefilmt.) Auch erscheint seine liebevoll lächelnde Frau, zierlich mit dunklem hochgestecktem Haar und starken schwarzen Brauen. (Patrizia Terreno, die, wie das Internet lehrt, mittlerweile immer noch auf spiritueller Suche unterwegs ist.) Es gibt eine schwarzweiße Traumsequenz, gewissermaßen das Herzstück dieser Erinnerungen, die wie ein Gedicht komponiert ist. Maria, seine Frau richtet sich in ihrem Bett auf – jemand hat leise ihren Namen gerufen. Es ist eines jener altmodischen Messingbetten, die Tarkowskij seit dem Spiegel in seinen Filmen begleiten und die immer mehr zu einer Chiffre des Käfigs wurden, besonders das Bett „Jungchens“ in Opfer. Hier ist dieser Aspekt nicht vordringlich, sondern das Fußende des Bettes wunderbar geschwungen. Sie steht auf in ihrem Nachthemd, geht zum Fenster, zieht die Gardine zur Seite, um etwas Licht in den Raum zu lassen – sie blickt wie suchend zurück zum Bett. Auf dem Fenstersims, flügelschlagend eine Taube. Eine Seitentür nach draußen öffnet sich langsam eher wie von selbst, wie von Geisterhand. Es herrscht das Grau der ersten Morgendämmerung, langsam versammelt sich die ganze Familie der „Hinterbliebenen“ vor dem Haus, der kleine Sohn mit lichterloh blondem Haar steht da in schwarzem Umhang, den Schäferhund an seiner Seite. Ein junges Mädchen, eine ältere Frau treten hinaus und streifen sich Mäntel über das Nachthemd, wahrscheinlich ist es in dieser frühen Stunde empfindlich kühl. Das Personal entspricht ziemlich genau der Familiensituation des Regisseurs. Während er im Ausland arbeitete, warteten in der russischen Heimat seine Frau, ihre Mutter, seine Stieftochter, sein kleiner Sohn und der Schäferhund Dakus auf ihn. Sicherlich war seine Frau weder dunkel noch zierlich, auch war sein Sohn schon zwölf und ganz und gar nicht blond. Wichtig ist festzuhalten, dass Tarkowskij ein eminent lyrischer Künstler war, der nach Möglichkeit immer sehr nah an seiner persönlichsten Erfahrung bleiben musste. Das war für ihn die Garantie subjektiver Wahrhaftigkeit. Aber dann wurde noch etwas ganz anderes daraus. Die Frauen und der Junge stehen da und scheinen auf irgendetwas zu warten. Ihre malerische Aufstellung wird wiederholt gefilmt in irritierender, nicht realistischer Doppelung. Wie von ungefähr hat sich ein grasender Schimmel dazu gesellt. Ähnlich wie die Birken weckt das weiße Pferd in der melancholisch düstren Landschaft besondere Zärtlichkeit, es scheint irgendwie den Ausweg in eine lichtere Zukunft zu verheißen. Erst sehen wir aus der Perspektive des Hauses das Pferd in größter Entfernung nahe dem umdunsteten Fluss. Dann filmt Tarkowskij aus der Gegenrichtung und das Pferd grast hinter der Gruppe in der Nähe des Hauses. So führt uns der Regisseur in seiner Traumwelt an der Nase herum. Eine lebhafte Musik klingt von sehr weit herüber mit einem orientalisch klagenden Sänger. Das ist nicht russisch, sondern scheint von den Turkvölkern der ehemaligen Sowjetunion herüberzuwehen. Tarkowskijs dichtender Vater hat sich unter anderem einen Namen mit Übersetzungen der Dichtung jener Völker gemacht. Der Hund läuft unruhig am Boden spürend umher: in engster Übereinstimmung mit der Musik. Da ist wieder einmal Tarkowskijs geniale, eminent filmische Findigkeit auf das Prachtvollste am Werk.

Es gibt einen insgesamt sehr lesenswerten Artikel des tschechischen Dichters Petr Král über Tarkowskij9, der sich mit der Sensitivität des Poeten den Eingebungen seiner regsamen Phantasie überlässt. Über diese Szene, die ihn sehr beeindruckt hat, schreibt er aus der Erinnerung und geht dabei gänzlich in die Irre. Angeblich werde über den Lautsprecher der Ausbruch eines Krieges verkündet, was schlicht aus der Luft gegriffen ist. Das ist das Gefährliche an Tarkowskijs Filmen, dass sie eine so stark suggestive Komponente haben. Die Eindrücke gehen eine Symbiose mit unserem Innenleben ein und verändern sich erfahrungsgemäß in der Erinnerung völlig. Tarkowskij sprach bezeichnenderweise vom „Züchten“ der Bilder10, es sollte uns also nicht zu sehr verwundern, dass sie in uns weiter „wachsen“.

Der blechern scheppernde Klang des Lautsprechers erinnert an eher banale Lustbarkeiten der Kindheit, etwa Jahrmärkte, die mit ihrem Rummel und Gesängen aus der Ferne ungemein anziehend wirkten, dann aber mit den gebotenen schalen Vergnügungen meist enttäuschten. Wir sehen die Gesichter aus der Nähe, ihre unnennbare Wehmut. Man hört auf einmal das Nebelhorn eines Schiffes. Das Nebelhorn hörte man schon am Ende vom Stalker, und auch im Opfer lässt es sich wieder vernehmen, aber nie so majestätisch wie hier. (Tarkowskij hat als Kind in Yuryevets an der Wolga gelebt.) Dann kommt die Musik vermutlich von einem Passagierdampfer, auf dem man rüstig bis in die frühen Morgenstunden feiert.

Sogleich nach dem Signal des Nebelhorns geht hinter dem Haus die Sonne auf. Die Frauen die zuvor die unruhige Suchbewegung des Hundes verhalten variierten, als könnten sie die Herkunft der Klänge nicht verorten, wenden sich nun einmütig der Sonne zu.

Bereits am 15. September 1976 hatte Tarkowskij in seinem Tagebuch eine solche Szene mit dem aufgehenden Mond beschrieben, die er mit Frau, Schwiegermutter und Stieftochter erlebt hat. Bei den Dreharbeiten zu dieser Szene, die in einem italienischen Dokumentarfilm überliefert sind, redete Tarkowskij immerzu vom Mond und doch kann kein Zweifel daran sein, dass hier die Sonne aufgeht. So lässt uns der russische Geheimniskrämer wieder einmal im Regen stehen. Das Schiff in der Ferne, der Sänger, die aufgehende Sonne, das alles zusammen ist so etwas wie ein Adventsgedicht: „Es kommt ein Schiff geladen“. Das sind Anspielungen auf die Parusie, die Wiederkunft des Herrn: „ex oriente lux“. Zuvor ging der Blick der Versammelten nach Westen, der Richtung, in der der geliebte Mann verschwunden ist. Dann die Umkehr nach Osten. Und das antwortet auch auf die Orientierungslosigkeit Gortschakows in der Ruine von San Galgano.

Tarkowskij gelingen Bilder von großer poetischer Schönheit, die die spirituellen Tiefen seiner russischen Tradition ausloten. Zugleich ist sein Glaube immer von Anämie bedroht, eine unstet flackernde Flamme. Das Bild der Abtei ohne Dach, in die Flocken poetisch hineinrieseln, greift eine ähnliche Szene schon aus dem Rubljow auf. Rilkes Wort, der „kapellenlose Glaube“, trifft die Situation bei Tarkowskij nicht so ganz, aber doch kennzeichnete ihn eine eigentümliche kirchliche Obdachlosigkeit, die vielen Ureinwohnern der alten Welt, die oft an einer „Gottesvergiftung“ laborieren, verträglicher ist als der felsenfeste, „petrinische“ Glauben der katholischen Kirche, der leicht als Selbstgewissheit missverstanden werden kann, oder gar der „paulinische“ Missionierungszwang (1 Kor 9,16-19) in den Kirchen der Reformation.

Die unstet flackernde Flamme muss ein todkranker entkräfteter Gortschakow durch das wasserentleerte Thermalbad in Bagno Vignoni tragen. Wie Oleg Yankowskij später in einem Interview sagte, wurde ihm vom Regisseur aufgetragen, in dieser endlos langen Szene das „ganze Leben eines Menschen“ zusammenzufassen, vielleicht die Rolle seines Lebens. Während Tarkowskij in anderen Szenen oft in kürzester Zeit eine große bildliche Intensität komprimiert, wird hier dem Zuschauer wirkliche Askese zugemutet, er muss diesen mühsamen Gang mitleiden. Mehrmals erlöscht die Kerze durch einen plötzlichen Windstoß und Gortschakow kehrt an den Ausgangspunkt zurück und schlägt dort die Hand an: es ist wie ein Kinderspiel und das Bild der brennenden Kerze ist ausnahmsweise auch einmal kinderleicht zu verstehen; es steht für das innere Leben, das Leben des Glaubens. Als Domenico ihm dass Herzensanliegen anvertraut hatte, an seiner Stelle dieses Aktionskunstwerk durchzuführen und mit der Kerze das Thermalbad zu durchqueren, kommt er in sein Hotelzimmer zurück, wo Eugenia geduscht hat und mit einem Föhn ihre verführerische Haarpracht trocknet. Kerze und Föhn werden gegeneinander ausgespielt, Innerlichkeit gegen Äußerlichkeit. Äußerlich ist auch die wohlige Wärme des Thermalbads. Das Geräusch des Föhns echot von ferne das der Kreissäge, das memento mori. (Mal ganz abgesehen davon, dass ein Föhn im Badewasser angeblich ein sehr unsanftes Lebensende herbeiführen kann.) Im Film hat das leer gepumpte Becken eine frösteln machende Tristesse. Die knabenhafte, montenegrinisch-italienische Schauspielerin Milena Vukotic kommt mit einer einzigen Nahaufnahme ins Bild. Mit bekümmert-verstörtem Gesicht sammelt sie am Beckenrand im weißlichen Schlamm gefundene Gegenstände, weshalb ein prosaischer Kommentator sie als Reinigungsfrau angesprochen hat: verkleisterte Flaschen, eine altertümliche Baulampe und allerlei Krimskrams, nicht zu vergessen das gleichfalls verschmierte ramponierte Rad eines Fahrrads und eine zerborstene nackte Puppe. Diese Gegenstände hatten ihre Bedeutung zuvor im Film, genauer: im Leben Domenicos und werden für die Erinnerung gerettet, bewahrt, sind aber nachhaltig besudelt. Er hatte vor dem Eingang seiner Behausung ein Fahrrad als Heimtrainer benutzt. Als es regnete, standen unter schadhaften Stellen des Dachs im von Domenico bewohnten, verlotterten Fabrikgebäude munter klingende Flaschen im strömenden Licht. Domenico ließ einige Akkorde von Beethovens Neunter Symphonie erklingen, da erschien im Halbdunkel einer kleinen Wandnische eine nackte Puppe mit verschatteten, „toten“ Augen. (Ein mir befreundeter Anästhesist, der in der Abtreibungsdebatte engagiert war, meinte, als wir gemeinsam diesen Film sahen, jede Frau, die eine Abtreibung vorgenommen hat und dieses Bild sieht, müsse schockiert sein.) All diese Dinge sind vom krankenhausweißen und wohl dennoch ungesunden Schlamm des Beckens überzogen.

Dessen ungeachtet stolpert Gortschakow in kleinen Schritten unbeirrbar seines Wegs. Seine Hindernisse scheinen schwarzmagischer Herkunft zu sein: einmal erlischt die Kerze auf der Höhe eines im Hintergrund umgekehrt am Beckenrand lehnenden Reisigbesens, volkstümlich in ganz Europa als Hexengefährt bekannt. Rätselhaft und wie eine Beschwörung ist auch, dass Gortschakows linke Hand in Richtung Publikum erst zwei, dann drei Finger abspreizt. Hier sind wir, fürchte ich, mitten im uns exotisch anmutenden russischen Obskurantismus. Welche Erleichterung als der Russe mit letzter Kraft das andere Ende des Beckens erreicht, die brennende Kerze mit Wachs auf dem Stein befestigt und mit einem Ächzen zu den ergreifenden Klängen von Verdis Requiem niedersinkt. Er hat „den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet und den Glauben bewahrt“, wie der Apostel sagt (2 Tim 4,7), auch wenn uns Westeuropäern unterwegs manches sehr russisch-irrational vorkommen musste.

Während in Nostalghia ein kurzer Kommentar zur katholischen Kirche Italiens enthalten ist, gibt es in Offret einen noch kürzeren zur lutherischen Kirche Schwedens. Otto beschreibt bei seinem nächtlichen Besuch Alexander in dunklen Andeutungen, wo die Dienstmagd Maria wohnt: auf der anderen Seite des Sees, „gleich hinter der Kirche, die sie geschlossen haben“. Nach dem Traum von seiner Begegnung mit Maria, der Horrorvision der fliehenden jungen Leute in Stockholm, sehen wir Alexander am helllichten Tag mit niedrigem Augenpunkt in starker Verkürzung rücklings im Gras in einem Kiefernhain liegen, so als sei er siech oder liege im Sterben. Zu seinen Füßen sitzt sehr aufrecht und abgewandt Frau Adelaide. In der Ferne hinter ihr ragt ein fensterloser, verdorrter Betonturm auf, aber kein Kirchengebäude ist in seiner Nähe auszumachen. Wegen ihrer aufrechten Haltung identifiziert man sie mit dem einsam ragenden Kirchturm. Dann wendet sie sich langsam zu Alexander um und es stellt sich heraus, dass sie Maria ist – mit Adelaides Kleid und Frisur. Das macht schlagartig den Unterschied der beiden Gesichter deutlich: Adelaide, eine nicht mehr junge, aber immer noch hübsche Frau, deren lebhafte, braune Augen eine eher extrovertierte Sensibilität verraten. Wie ganz anders dagegen Maria, deren tief liegende, verschattete Augen den Eindruck eines Menschen erwecken, der „mit Krankheit vertraut“ ist. In früheren Bildern hat Tarkowskij Maria mit ihrem schwarzen Kopftuch, das eine sternförmige, weiße Silberdistel schmückt, in die Nähe der berühmtesten Ikone der schwarzen Madonna, der Wladimirskaja gerückt, deren Kopf er als Reproduktion immer auf seinem Schreibtisch mit sich führte. Ihr in Schwermut schwimmender Blick erweckt den Eindruck, als könne man in allen Bedrängnissen bei ihr Zuflucht und Verstehen finden. In seinem lakonischen Kommentar zur im Übrigen „geschlossenen“ Kirche Schwedens, bemerkt der visionäre Russe die Abwesenheit der Mutter Maria. Auch kommt hier noch einmal der Wunsch zum Ausdruck, dass seine Frau „anders“ sein sollte.-

Die religiösen Bezüge sind in Offret zahlreich, doch habe ich sie in anderem Zusammenhang behandelt. Vielleicht sollte das Gebet noch eigens erwähnt werden. Denn es kommt einem Mann auf die Lippen, der offenkundig des Betens entwöhnt war. Als der Briefträger Otto Alexander zu Beginn des Films fragte, welches Verhältnis er zu Gott habe, gab er zur Antwort: „Gar keins, fürchte ich.“ Nach der Hiobsbotschaft im Fernsehen sieht man ihn von hinten in seinem Zimmer mit einem Kognakglas in der Hand. Er setzt sich langsam auf den Boden und nach den Worten suchend betet er das „Vater unser“. Dann bittet er flehentlich darum, dass die drohende Katastrophe abgewendet werden möge. Nicht für sich selbst, sondern für seine Familie und Freunde, auch für all die, die sich nicht an Gott wenden, weil sie gleichgültig sind, „weil sie noch nie wirklich unglücklich gewesen sind“. Er verspricht, alles, was ihm lieb und wichtig ist, zu opfern, wenn alles wieder wird „so wie heute Morgen, so wie gestern.“ Es ist gewissermaßen eine besondere Pointe, dass er für die „Wiederkehr des Gleichen“ betet, da doch bei Nietzsche der Gedanke den Sinn hat sich jeder Transzendenz zu verschließen. Die Kamera konzentriert sich auf das von tierischem Schrecken verzerrte Gesicht, als er darum bittet von diesem tierischen Schrecken befreit zu werden. Es führt über den hier gesteckten Rahmen hinaus, dass Otto mit dem Abenteuer bei der „Hexe“ Maria das genaue Gegenteil in Aussicht stellt, dass „das alles aufhört“, die alte Falle der Todesliebe. Alexander begibt sich in seinen Träumen in einen Widerspruch, nicht nur weil er zugleich zu Gott betet und zu Okkultem greift, sondern auch weil sich die damit angestrebten Ziele diametral widersprechen. Alexander wacht am Morgen auf und stellt fest, dass alles ist wie es war, dass die Schreckensvision nur ein Albtraum war. Doch fühlt er sich an das in der Nacht gemachte Versprechen gebunden und geht mit zäher Zielstrebigkeit daran, das Haus in Brand zu setzen. Hätte er das Haus nicht nach Rücksprache mit der Familie verkaufen können, um den Erlös den Armen zu spenden? Tarkowskij hatte in seinem Tagebuch schon am 20. April 1976 notiert, dass Tolstoj wie ein Narr Gottes, ein Jurodiwy, schreiben wollte11 . Offenbar hat sich Tarkowskij diesen Vorsatz für seine Kunst zum Vorsatz gemacht: er wollte ein Fanal, das auch so etwas wie einen Skandal darstellt. Darüber habe ich ausführlich in einem anderen Kapitel geschrieben.

1 Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963 http://www.kinematographie.de/HEFT39.HTM#IK

„Die Gegenüberstellung in der Art Kirche – Krieg, Tempel – Artilleriebeschuss ist schon zu abgedroschen.“

2 Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema, Chicago University Press, London: Reaktion Books 2008, S.42

3 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 138 f.

4 Ebd. S. 139; es ist das Gedicht Leben, Leben!

5 In der Exegese wird nicht die Offenlegung des Allerheiligsten, sondern die bevorstehende Zerstörung des Tempels hervorgehoben Boris Repschinski, „Denn hier ist Größeres als der Tempel“ Mt 12, 6, S. 163 -180 in Volk Gottes als Tempel hg. Andreas Vonach, LIT-Verlag Münster 2008

6 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 113

7 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 141 f.

8 ANDREI TARKOVSKY: PROFOUND, MAJESTIC AND MYSTERIOUS, AN INTERVIEW WITH LAYLA ALEXANDER GARRETT by Jaap Mees http://www.talkingpix.co.uk/Article_Tarkovsky.html

9 Petr Král, Tarkovsky, or the burning house, in der australischen Online-Zeitschrift Screening the Past, März 2001 http://www.latrobe.edu.au/screeningthepast/classics/cl0301/pkcl12.htm

translated from the Czech by Kevin Windle. Originally published inSvedectvi XXIII, No. 91, 1990, pp. 258-68. An earlier and substantially different version, „La maison en feu: sur Andrei Tarkovski“, appeared in Positif 304, June 1986, pps 16-23. This translation is reprinted, with the kind permission of Professor Daniel Gerould, from Slavic and East European Performance, Vol 15 No 3, pps. 51-7, Vol 16 No 1, pps. 51-7, and Vol 16 No 2, pps. 50-56.

10 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 112. Tarkowskij sprach davon in Hinblick auf die japanischen Haikus.

11 Andrej Tarkovskij, Martirologio, Diari 1970 – 1986, Firenze Edizione della Meridiana, 2002

Geniale Regie

Wenn man über Genialität bei Andrej Tarkowskij schreiben will, hat man zweifellos die Qual der Wahl. Ich habe Szenen aus drei Filmen im Sinn, die auf sehr unterschiedliche Weise seine Genialität zeigen.

Die erste Szene ist aus dem Film Andrej Rubljow in dem Kapitel über den Überfall von Russen und Mongolen auf Wladimir und gerade einmal ein paar Sekunden lang. Wir sehen von oben auf die Kathedrale von Wladimir, die geplündert wird. Eine Menge Volks wimmelt da unten und wird von Rauchschwaden bedeckt – das alles in Zeitlupe. Da kommen zwei weiße Gänse von rechts oben ins Bild und flattern in Zeitlupe hernieder. Johnson und Petrie gehören zu den wenigen, die dieses Detail kommentiert haben; sie berichten einen kuriosen Sachverhalt. Tarkowskij habe sich nach Aussage seines Kameramannes Vadim Yussow in diesem Fall einmal nicht an eine Regel gehalten, zu der sie übereingekommen waren: keine Überraschungen beim Filmen! Tarkowskij hatte die beiden Gänse irgendwo aufgetrieben und ohne Vorwarnung vor die laufende Kamera geschleudert.1 Johnson und Petrie meinen dieses Detail hebe die „vulnerability“, die Verwundbarkeit des Volkes hervor. Das trifft sicher etwas Richtiges.2 Aber vielleicht wird diese Beschreibung doch nicht der Ambivalenz dieses poetischen Bildes gerecht.3 Tarkowskij hat in dieser Szene sehr vieles zusammengefasst. Bekanntlich gab es als Vorlage des Films eine Art Roman, von dem im Laufe der Dreharbeiten ganze Kapitel gestrichen werden mussten.4 Ein solches Kapitel war der Jagd des Fürsten auf Schwäne gewidmet. Vermutlich rührte die Idee von Peter Tschaikowskijs Ballett Schwanensee her. Ich erinnere mich dieses Kapitel etwas alarmiert gelesen zu haben, alarmiert wegen eines Kitschverdachts, weil dort das trauliche Zueinander des Schwanenpaares beschrieben wurde, wobei der männliche Schwan so etwas wie die Beschützerfunktion übernahm. Mittlerweile habe ich etliche Jahre in Asien gelebt und die Vorstellung der gegenseitigen Ergänzung des Männlichen und des Weiblichen befremdet mich nicht mehr so wie damals. Übrigens wird in der Zeitlupenaufnahme hinlänglich klar, dass es sich um ein Pärchen handelt, denn die Gans links zeigt deutliche Spuren des Bespringens. Das ist mehr drastisch als poetisch und entsprach deshalb vielleicht nicht ganz Tarkowskijs Idealvorstellungen.

Das Motiv der Jagd ist völlig verschwunden. Die Jagd erscheint in Tarkowskijs nächstem Film Solaris (1972) als grundsätzliche Verirrung des Menschen, charakteristisch für die Situation nach dem Sündenfall. Natürlich kann man einwenden, wie würde man ohne Jäger etwa der Fuchsplage Herr. Aber ein Poet wie Tarkowskij darf so grundsätzlich denken. Pieter Brueghel des Älteren Winterlandschaft mit der Heimkehr der Jäger ist in Solaris zusammen zu sehen mit Rembrandts Heimkehr des verlorenen Sohnes, auf das die letzte Szene des Filmes anspielt. Wie gesagt, wird bei der Heimkehr von Kris Kelvin immer auch auf die Jagd angespielt, denn in der heimatlichen Wohnung sowohl der Mutter als auch des Vaters hängt jeweils ein Jagdhorn an der Wand.5 Bei der Jagd auf Schwäne hätte auch so etwas wie Neid mitgespielt. Der Menschheitstraum vom Fliegen ist bei der verunglückten Ballonfahrt zu Beginn des Films thematisiert. Der Sehnsucht nach Erhebung wird dann im übertragenen Sinn von der Kunst entsprochen, die am Ende des Films gezeigt wird. Von dem ganzen Kapitel der Jagd ist also nur dieser Moment mit den beiden weißen Gänsen übrig geblieben und die Szene im Wald als Andrej Rubljow und sein Gehilfe Foma Feofan Grek, Theophan dem Griechen begegnen. Foma findet einen schon halb verwesten Schwan und betrachtet das Wunderwerk seines Flügels. Man könnte sagen, dass nur ein hässlicher Rest geblieben sei, aber in der Kunst gilt, dass man nicht „die Lilie vergolden“ soll, wie eine schöne englische Redensart sagt.

Die Beschreibung des Gänseflugs durch Johnson und Petrie als plumpes und unelegantes Geflatter ist zu einseitig. Schon allein die Tatsache, dass der Flug in Zeitlupe gezeigt wird, sorgt schon für einen gewissen Eindruck der Feierlichkeit: Ein erhabener Flug über das Morden und Brennen darunter. Mir scheint als sei Tarkowskij hier die Verwirklichung eines extrem dichten Bildes gelungen – „der Wassertropfen, in dem sich eine ganze Welt spiegelt“.6 Eine Welt, die voller Unheil ist, in der aber das Wunder der Schöpfung, hier in Gestalt des Vogelpaares, erhalten bleibt. Dass diese Schöpfung vom Menschen zerstört werden kann, gehört zum Drama der Welt. Tarkowskij hat, um zu erläutern, welche Art von Dichtung der von ihm angestrebten Bildlichkeit entspricht, die berühmten Haikus des Japaners Matsuo Bashō (1644-1694) zitiert.7 Hier wäre wegen der evozierten größeren Weiträumigkeit vielleicht eher an den von Bashō sehr bewunderten chinesischen Dichter Li Bai (701-762) aus der Zeit der Tang-Dynastie zu denken, in dessen Gedichten mit konzentrierter, dichter Bildlichkeit der Vogel- und der Wolkenflug eine gewisse Rolle spielte. Freilich sollten die Unterschiede nicht verschwiegen werden. Hier wird der Vogelflug von oben gezeigt, es geht also nicht um ein sich hinauf und in die Ferne Sehnen, sondern um einen Blick aus der Höhe, der nicht nur aus der Vogelperspektive ist, sondern aus der Sicht Gottes.8 Überhaupt ist nicht anzunehmen, dass sich Tarkowskij an chinesischen Gedichten aus der Tangzeit inspiriert hat. Er stand zu der Zeit noch unter dem Einfluss einer gewissen Angst vor „den Chinesen“, besonders deutlich in dem Film Der Spiegel, die er als Rezeptionsbarriere erst im Film Nostalghia überwunden hat. Der Vergleich mit den Gedichten Li Bais soll viel mehr das Niveau an poetischer Konzentration angeben, auf dem sich nach meinem Eindruck der Russe bewegte.

Ohne die Gänse wäre die Aufnahme mit dem Volk in Zeitlupe unter Rauchschwaden mehr oder minder gleichgültig. Mit ihnen wird sie zu einem poetischen Bild für Erfahrung. Es erinnert mich an ein chinesisches Gedicht, das ich vor sehr vielen Jahren in einer Anthologie ostasiatischer Lyrik gelesen hatte und dann nie wieder ausfindig machen konnte. Die Aussage war etwa, dass der Flug der Wildgans keine Spuren hinterlässt und sie dennoch vieles von diesem Flug erinnert. Ein Beweis für die Existenz der Seele, für den man freilich nicht naturwissenschaftlich, sondern poetisch denken muss.

Die zweite Szene, an der ich Tarkowskijs Genialität zeigen will, steht am Anfang des Filmes Der Spiegel (1975). Gerade ist in einem Vorspann am Fernsehen gezeigt worden wie ein schwer stotternder Junge durch Hypnose von seinem Stottern zur Kommunikation befreit worden ist.

Die Mutter des Ich-Erzählers, der aus dem off spricht, sitzt rauchend auf einem Zaun vor einem Buchweizenfeld9 und blickt in die Ferne auf einen Mann, der eine Abbiegung des Weges in ihre Richtung genommen hat. Der Erzähler, der sich hier zum ersten Mal zu Wort meldet, erklärt, dass wenn die Person in ihre Richtung käme, es der Vater sein könne, auf dessen Rückkehr aus dem Krieg sie schon lange warteten. Als der Mann näher kommt, ist es nicht der Vater, sondern ein Fremder, der sich überdies als ein recht unangenehmer Zeitgenosse entpuppt. Es ist Anatolij Solonizyn, der von Tarkowskij bevorzugte Schauspieler, der Andrej Rubljow dargestellt hatte. Er grabscht nach ihrer Hand und fühlt den Puls: er sei Arzt. Als sie meint, sie solle vielleicht ihren Mann rufen, versetzt er mit einem kleinen, höhnischen Lächeln, sie habe überhaupt keinen Mann. Dann lässt er sich sehr angelegentlich von ihr eine Zigarette anzünden und setzt sich neben sie auf den Zaun, der daraufhin zusammenbricht. Das ist Grund zu großer Heiterkeit seinerseits („neben einer hübschen Frau im Gras zu liegen!“), während sie überhaupt nicht amüsiert ist. Er steht auf und spricht davon, dass nach seiner Überzeugung Pflanzen und Bäume fühlen können, uns etwas zu sagen haben, während wir oft nur banales Zeug reden. Das scheint O-Ton Tarkowskij zu sein10, ist aber eine Kommunikation, die nach dem etwas unglücklichen Vorlauf ins Leere geht. Nach einigen enigmatischen Andeutungen hinsichtlich des Krankenhauses, wo er arbeitet, macht sich der Mann wieder auf den Weg zurück zu der Abbiegung, an der er den Weg zu ihr eingeschlagen hatte. Auf dem Weg in einiger Entfernung bleibt er stehen und ein mächtiger Windstoß geht durch das Feld. Der Mann dreht sich um, schaut zurück, noch mal weht ein Windstoß durch das Feld, dann geht der Fremde schließlich weiter. Diese Windböen sollen angeblich von einem Helikopter herbeigeführt worden sein. Helikopter sind sicher auch bei anderen Gelegenheiten in Tarkowskijs Filmen für Luftaufnahmen gebraucht worden. Wieder einmal zeigt sich, dass, wie schon gesagt, geniale Einfälle oft sehr einfach sind. Tarkowskij schreibt, er habe gewollt, dass sich die Begegnung mit dem Mann noch weiterspinnt. Wenn der Mann sich umdrehte, ohne den Kunstgriff dieser Windböen, wäre das zu „eindimensional direkt“ 11 gewesen. Mit diesen Windstößen hat die Szene einen poetischen Ausklang, der sogar die unangenehme Plumpheit im Betragen des Fremden in Leichtigkeit hebt.

Wir blicken auf diese Episode zurück als auf eine misslungene Begegnung. Zugleich kann man sie als eine Einladung verstehen, den Film als eine Mitteilung zu nehmen, bei der wir unbehelligt sind von Umständen, die sonst unser Leben komplizieren, wie etwa wenn ein Mann einer schönen, schutzlosen Frau begegnet.

Als ich diesen Film zum ersten Mal in den 70er Jahren sehen konnte, hatte ich durchaus nicht den Eindruck eines solipsistischen Werkes12, sondern im Gegenteil den eines Angebotes zur totalen Kommunikation. Damals hatte die Italienerin Chiara Lubich einen Diskurs begonnen, der leider etwas in Vergessenheit geraten ist und der überdies meines Wissens in kaum einer Publikation dokumentiert ist. Zu den Ländern des damaligen Ostblocks meinte sie, dass einerseits in diesen Ländern ein echter Kommunikationsnotstand bestand (dem dann von Michail Gorbatschow mit dem bezeichnenden Schlagwort „Glasnost“ der Kampf angesagt wurde) aber andererseits die slawischen Völker eine besondere Begabung und Sensibilität für die Mitteilung haben. Diesen Film empfand ich damals und heute als eine Bestätigung für diese These.

Im Film folgt nun ein Reigen von Bildern von ihren Kindern, den Räumen ihres Blockhauses, ihr selbst, tränenumflort, edel, und es wird ein auch in der Übersetzung betörend schönes Gedicht des Ehemanns Arsenij Tarkowskijs mit einem ätzenden Ende rezitiert:

Unsere ersten Begegnungen

Jede Sekunde unseres Beieinanderseins,

Fest war sie uns,

War uns wie das Erscheinen des Herrn.

Allein auf der Welt.

Kühner und leichter

Warst du

Als die Schwingen des Vogels,

Und auf der Treppe,

Wie ein Taumel liefst du

Die Stufen hinab,

Führtest durch feuchten Flieder

Zu jenen Schätzen

Auf der anderen Seite des Spiegels.

Als die Nacht anbrach,

Ward mir die Gunst gewährt.

Weit offen

Die Pforten des Altars.

Nacktheit schimmerte

Durch das Dunkel.

Und im Erwachen sagte ich

Sei gesegnet

Und wusste doch,

Dies Segnen ist verwegen.

Du schliefst,

Und um die Lider

Mit dem Blau des Weltalls

Zu berühren,

Streckte sich der Flieder

Herab zu dir.

Ruhig waren die

Vom Blau berührten Lider,

Die Hand so warm.

Doch in kristallenem Glas

Pulsierende Flüsse,

Berge rauchten

Und Meere schimmerten matt,

Du hieltest die kristallene Sphäre

In der Hand

Schlafend auf einem Turm, und,

Wahrhaftiger Gott,

Du warst die Meine.

Dann wachtest du auf.

Verwandelt war

Der Menschen Sprache,

Was gestern noch unsicher,

Klanglos verstummt,

Das schwang sich nun

Kraftvoll tönend empor.

Und das Wort „DU“

Entdeckte seinen neuen Sinn,

Es meinte nunmehr

KÖNIG“.

Alles auf Erden verwandelte sich,

selbst einfache Dinge,

Schüssel, Krug,

Als zwischen uns,

wie auf der Wacht,

In Schichten starres Wasser stand.

Es trieb uns fort,

Wir wussten nicht, wohin.

Städte, durch Wunder errichtet,

Wichen von uns

Wie Bilder einer Fata Morgana.

Die Minze legte sich von selber

Uns zu Füßen,

Die Vögel zogen mit uns,

Fische schwammen flussaufwärts

Und vor unseren Augen

Entfaltete sich der Himmel…

Als das Schicksal

Unsere Spur verfolgte

Wie ein Verrückter,

Das Rasiermesser in der Hand.

Das dritte Beispiel ist das umfänglichste. Ich meine die Szene in Nostalghia (1983) auf der Piazza del Campidoglio in Rom, wo der verrückte Physiker Domenico eine Rede hält und sich den Flammentod gibt. Das Reiterstandbild des Marc Aurel war wohl zu Restaurierungszwecken eingerüstet und Domenico ist hinaufgeklettert um vom Rücken des Pferdes seine Rede zu halten. Persönlich glaube ich nicht, dass man etwa in Deutschland dem Regisseur die Erlaubnis zu einer solchen Aktion gegeben hätte. (Mal abgesehen davon, dass ich nicht sicher bin, ob wir in Deutschland Plätze von der gleichen künstlerischen Qualität haben.) Offenbar besteht oder bestand in Italien so viel Respekt vor der künstlerischen Arbeit, dass so etwas möglich werden konnte. An Bedeutung lässt sich in Rom außer dem Petersplatz nichts mit dem Kapitolsplatz vergleichen. Im Unterschied zum Petersplatz geht es beim Kapitol um die zivile Autorität. Der Senatorenpalast ist bis heute Sitz der Stadtregierung Roms. Freilich hat Tarkowskij nichts unternommen, um Michelangelos geniale Gestaltung des Platzes wiederzugeben. Wie auch? Aber indirekt stellt er sie in den Dienst seines Projektes.

In einer seiner langen künstlerischen Pausen verfasste Tarkowskij am 9. September 1970 einen besonders umfänglichen Tagebucheintrag, der große Niedergeschlagenheit über den Zustand der Menschheit spiegelt. Darin finden sich folgende Zeilen: „Die Größe des heutigen Menschen besteht im Protest. Ruhm dem, der aus Protest vor einer dumpfen Menge, die nichts sieht, sich den Flammentod gibt, dem, der auf den Plätzen mit Plakaten und Slogans protestiert, und der der sicheren Unterdrückung entgegengeht…“ Es ist ungewiss, wie er auf die doch sehr extreme Idee der Selbstverbrennung gekommen ist.13 Vielleicht kannte er schon Ingmar Bergmans Film Persona (1966), bei dem eine schreckensstarre Protagonistin am Fernsehen die Selbstverbrennung eines buddhistischen Mönches in Vietnam verfolgt. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten für Nostalghia kannte er den Film mit Sicherheit14. Es wird ihm vorgeschwebt haben, einen ähnlich intensiven Eindruck wie bei den Dokumentaraufnahmen aus Vietnam zu erreichen. Das ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Niemand wird sich gewundert haben, Erland Josephson, den Darsteller von Domenico, anlässlich einer Pressekonferenz nach der Premiere des Films bei leidlich guter Gesundheit zu sehen. Tarkowskij hat einen Kunstgriff ersonnen, bei dem wenigstens für Sekunden die fraglose Gewissheit der Fiktionalität des Geschehens auf der Leinwand erschüttert wird. Als Domenico sich mit Benzin übergossen hat und beginnt mit einem Feuerzeug zu hantieren, wechselt die Kamera zu einem Geisteskranken, der Domenicos Handlungen im Vordergrund imitiert. Wir sehen ihn wie er ein imaginäres Feuerzeug zu entzünden sucht. Domenico steht endlich in Flammen und stürzt sich vom Reiterstandbild um sich dann in Schmerzen zu winden. Wir verfolgen das in der Pantomime des Geisteskranken im Vordergrund. Das bildet die Abbildungssituation des Films ab, problematisiert sie in dieser Doppelung und lässt uns, wie gesagt, für wenige Sekunden ahnen, wie es wäre, wenn das gezeigte Geschehen Wirklichkeit wäre. Das ist mir von jeher an dieser Szene genial erschienen, wenngleich ich zugebe, dass es nicht leicht ist, dem Phänomen analytisch beizukommen.

Genial ist auch wie die Musik in dieser Szene eingesetzt wird. Schon daheim in seiner leer stehenden Fabrik hatte Domenico ein Stück vom Ende der Neunten Symphonie Beethovens gespielt kurz vor dem Einsatz des Chores, dann die Musik abgebrochen und geheimnisvoll von dem wichtigen Unternehmen in Rom gesprochen, das sie vorbereiteten. Am Ende seiner Rede vom Reiterstandbild herab ruft er: „Und jetzt die Musik!“ In das auf geräumigen Treppen regungslos verharrende Publikum kommt etwas Bewegung, jemand klettert zu Domenico hinauf und reicht ihm einen metallisch glänzenden Kasten an, den ich im ersten Moment für eine Lautsprecherbox gehalten habe, weil von Musik die Rede war. Aber es ist ein Benzinkanister. Mit der Musik scheint es Probleme zu geben. Domenico schlägt den Mantelkragen hoch, zieht die Wollmütze tiefer ins Gesicht, übergießt sich mit Benzin und holt, wie gesagt, ein Feuerzeug hervor. Nachdem er mehrfach versucht hat das Feuerzeug zu entzünden, gehen plötzlich Flammen an ihm hoch und zeitgleich setzt die Musik ein: ein Akkord des Orchesters, der nicht glatt eingespielt wird, sondern expressiv hervor bricht, eine audiovisuell realisierte Synästhesie – die Musik „flammt empor“. Dann hören wir den Beethovenchor. Als es heißt: “Alle Menschen werden Brü…“ verendet die Tonaufnahme jäh und wir hören den unartikulierten Schrei Domenicos15, der sich vom Denkmal gestürzt hat und sich nun am Boden vorwärts robbt, bevor er entkräftet liegen bleibt. Schnitt, wir sind zurück in Bagno Vignoni, wo Gortschakow sein Versprechen einlöst und mit einer brennenden Kerze durch das weitgehend trocken gelegte Becken geht.

Erstaunlich wie hier ein Genie mit einem anderen, bzw. genauer gesagt mit zwei anderen umspringt. Es sei daran erinnert, dass der mit Tarkowskij befreundete italienische Dirigent Claudio Abbado, der mit ihm den Boris Godunow von Mussorgskij in London inszeniert hatte, in einem Interview hervorgehoben hat, dass sich Tarkowskij vor anderen Regisseuren durch seinen großen Respekt vor der Musik auszeichnete.16 Tarkowskijs Umgang mit der Musik Beethovens ist souverän, kühn, um nicht zu sagen: verwegen, er schaltet damit, wie es seinen künstlerischen Notwendigkeiten entspricht, wobei er an ein tiefes Geheimnis rührt, das vom Team Schiller/Beethoven bei der Ode An die Freude nicht angesprochen wird, vielleicht weil es ihnen nicht bewusst war: Dass alle Menschen Brüder werden, hat einen Preis. Jesus Christus hat um diese universale Brüderlichkeit gebetet, aber auch mit seinem Leben, mit seinem Schrei der Verlassenheit dafür bezahlt.-17

Die im Unterschied zu dem Geschehen auf dem Kapitolsplatz gänzlich unspektakuläre Aktion von Gortschakow ist aber offenbar als Parallele dazu gemeint. Es ist scheinbar ein Kinderspiel, doch sehen wir den sehr erschöpften Russen nach seiner Herzmedizin greifen. Er vollzieht diesen allem Anschein nach absurden Treuebeweis unter Aufbietung seiner letzten Kräfte. Gegenüber den spirituell eingenebelten, eingeschläferten Besuchern des Thermalbades, die laut Domenico „ewig leben“ wollen, soll die Aktion mit der brennenden Kerze zeigen, dass es bei der irdischen Existenz um eine zeitlich begrenzte Bewährungsprobe geht. Die brennende Kerze steht für den Glauben, das innere, spirituelle Leben. Jedes Mal wenn sie erlischt, geht Gortschakow wie bei einem Kinderspiel an den Ausgangspunkt zurück – er muss es schaffen, die ganze Wegstrecke zurückzulegen und die Kerze am brennen zu erhalten. Vielleicht sollte man noch einmal an den langen Tagebucheintrag von 1970 erinnern. Da hieß es im unmittelbaren Anschluss an die Aussage über die Selbstverbrennung: „Sich über die Möglichkeit zu leben erheben, sich praktisch unserer Vergänglichkeit, unserer Sterblichkeit klar bewusst werden, gerade im Namen des Künftigen, im Namen der Unsterblichkeit. Ist die Menschheit dazu imstande, dann ist noch nicht alles verloren. Dann besteht noch eine Chance.“18

Die Verrücktheit Domenicos, die ihn zum Freitod führt, hat auch die Seite des Protestes gegen eine saturierte, spirituell gelähmte Gesellschaft. Die surreale Starre der am Kapitol versammelten Menschen, ihre Ichbezogenheit, die Konzentration auf den kleinen runden Schminkspiegel etwa, das ostentative Desinteresse, das als bedeutend Posieren eines Herrn mit Hut (der Hut vom Beginn in Bagno Vignoni kehrt wieder) treibt die Situation dieser Gesellschaft auf die Spitze. Einzig der aufheulende Hund Domenicos zeigt eine „menschliche“ Reaktion. Sicher können wir eine Beziehung herstellen zwischen der unnatürlichen, statuenhaften Starre der auf den Treppen um das Kapitol aufgestellten Leute (Sind es nicht Pappkameraden?) und dem Brief des der Leibeigenschaft entronnenen russischen Komponisten Sosnofskijs mit der beklemmenden Schilderung eines Traums, in dem er bei einer Theateraufführung nackt und weiß bemalt wie eine Statue starr stehen muss in der die Füße hinaufziehenden Kälte eines Parks. Er wird von seinem Dienstherren persönlich dabei kontrolliert. Als er es nicht mehr kann, ihn die Kräfte verlassen, wird er wach und stellt fest, dies ist kein Traum, sondern seine Realität. Der Westen stellt sich als allem spirituellen Leben feindlich dar. Tarkowskij gibt mit minimalen Winken zu verstehen, dass die Situation der hoffnungslos „westlichen“ Dolmetscherin Eugenia doch nicht ganz so hoffnungslos ist, wie es scheint. Als Domenico seinen Verbrennungen erliegt, kommt sie die Treppe zum Kapitol heraufgeeilt mit einer Gebärde der Bestürzung, in der Ferne gefolgt von zwei Carabinieri, den Hütern der Ordnung. Weil sie nicht einfach nur teilnahmslos ist wie die anderen Augenzeugen, ist es für sie vielleicht doch noch nicht zu spät zu einer Umkehr.

1 Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky A Visual Fugue, Indiana University Press 1994, p.303, Anmerkung 14: According to the cameraman Vadim Yusov, Tarkovsky broke his own rule of “no surprises during shooting” by throwing the geese in front of the camera without warning.

2 “panic-stricken townspeople milling confusedly in slow motion, their vulnerability accentuated by geese that enter the frame from above, flapping clumsily and awkwardly downwards.” op.cit. p. 95

3 Denselben Vorwurf der Vereinseitigung in der Deutung eines Bildes wird man auch mir machen können, weil ich in Iwans Kindheit die Pferde, die an den auf den Strand gestürzten Äpfeln nagen, als dunkles Bild für das Schicksal der vom Krieg zerstörten Leben der Kinder gedeutet habe, es ist daneben auch ein zauberhaftes Bild von einem sonnenbeschienenen Strand, siehe Tarkowskij und die Kunst des Westens, p.

4 Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow. Die Novelle, Berlin, Limes-Verlag 1992

5 Vgl. das Kapitel Tarkowskij und die Kunst des Westens, p.

6 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, p. 117

7 Ibidem, p.112

8 Der Film legt in gewisser Weise nahe, dass es der jüngere Bruder des Großfürsten ist, aus dessen Perspektive wir das Ganze erleben. Er wird gezeigt wie er in Gedanken versunken höher steigt. Wie so oft vermeidet Tarkowskij Einsinnigkeit.

9 Tarkowskij berichtete davon, wie wichtig das damals war, dass auf diesem Feld wieder Buchweizen wuchs. Sie mussten die Kolchosebauern davon überzeugen, Buchweizen dort anzupflanzen. Die weigerten sich zunächst und behaupteten, dass dort seit ewigen Zeiten kein Buchweizen angepflanzt worden sei. A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, op.cit., p.141

10 Meines Erachtens macht man sich nicht genügend klar, wie wichtig für Tarkowskij die Erfahrung war, ein Jahr lang in der sibirischen Taiga gelebt zu haben. Eine Ausnahme ist: Sean Martin, Live in the House and the House Will Stand: The Role of Autobiography and Lived Experience in Tarkovsky’s Films and Aesthetic, p.6 – 39 in Through the Mirror: Reflections on the Films of Andrei Tarkovsky, edited by Gunnlaugur A. Jónssonand Thorkell Á. Óttarsson, Cambridge Scholars Press 2006. “He walked many hundreds of miles along the river Kureika, where he spent a lot of

time drawing and thinking… his year in the Siberian taiga would serve as a dramatic base line for nearly all his subsequent work: nature is ever present in his films – often celebrated, always mysterious – as is the lone protagonist,

struggling to make sense of his own destiny and, in the later work, that of humanity as a whole.“ p.9

Der Gesprächsstoff mit den Expeditionsgenossen wird irgendwann einmal ausgegangen sein und so konnte sich der sensible junge Mann in langen Stunden der Zwiesprache mit den Elementen der Natur widmen. Von daher macht es Sinn, dass Robert Bird sein Buch zu Tarkowskij nach den Elementen einteilt. (Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema London 2007) Tarkowskijs Überdruss an banalem Gerede, die immer wieder auftauchende Option des Schweigens (Andrej Rubljow legt ein Schweigegelübde ab, im Spiegel hat das Ich wegen einer Angina einige Tage geschwiegen. „Jungchen“ in „Offret“ beginnt wegen einer Halsoperation erst zum Schluss des Films wieder zu reden) wird vor dem Hintergrund dieser Erfahrung in der Taiga verständlich.

11 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, op.cit. p.117

12 So meinte Marius Schmatloch in Tarkowskijs Filme in philosophischer Betrachtung, Gardez-Verlag Remscheid 2003 dem Russen eine „solipsistische“ Tendenz nachsagen zu können.

13 Seinen Tagebuchaufzeichnungen entnehmen wir, dass die Verbrennung des Dominikaners Savonarola in Florenz ihn beschäftigte. Tarkowskij könnte auch mit Domenico ausrufen: „Welcher meiner Vorfahren spricht aus mir?“ In der russischen Geschichte gab es die bekannten Fälle von Selbstverbrennungen der Altgläubigen. Kurz nach Fertigstellung von Andrej Rubljow hatte Tarkowskij in einem Interview gesagt, er würde gern einen Film über den Erzpriester Avvakum, den Anführer der Altgläubigen drehen. Interview von Aleksandr Lipkov am 1. Februar 1967, engl. Übersetzung von Robert Bird in Nostalghia, der kanadischen Tarkovsky-Homepage

14 In einem Gespräch mit Leonid Kozlow 1972 hat Tarkowskij die zehn Filme genannt, die er am meisten bewunderte, darunter auch Persona, zitiert nach Tom Lasica, Sight and Sound, March 1993, Volume 3, Issue 3

15 Es gibt Kommentatoren, die glaubten ausmachen zu können, dass er den Namen seines Hundes schreit: „Zoé, Zoé!“ wobei das griechische Wort zoé im Unterschied zu biós das spirituelle Leben meint. Ich habe mich bislang nicht davon überzeugen können.

16 Im Dokumentarfilm Ebbo Demants, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Andrej Tarkowskijs Exil und Tod, 1987

17 Es ist das Verdienst Chiara Lubichs auf diesen Zusammenhang hingewiesen zu haben; Chiara Lubich, Jesus der Verlassene und die Einheit, Neue Stadt Verlag, 2. Aufl. München 1992

18 A. Tarkowskij, Tagebücher, Martyrolog, 9.9.1970. Es folgt noch die Nachbemerkung: „Die Menschheit hat bereits viel zu sehr gelitten, und so ist das Gefühl für das Leiden bei ihr allmählich verkümmert. Gerade das ist gefährlich. Und daher kann die Menschheit durch Blut und Leiden jetzt nicht mehr errettet werden. Mein Gott, was ist das für eine Zeit, in der wir leben!“

Tarkowskij und die Frauen

Tarkowskij muss irgendwann einmal gesagt haben, er wolle sich erschießen, wenn eine Frau in seiner Gegenwart gähne.1 Eine Aussage, die gelinde gesagt überraschen mag und die zeigt, dass er, so gesehen, ein eher anstrengender Umgang für Frauen war. Man stelle sich das einmal vor: da gähnt eine Frau aus Versehen und schon will der gute Mann sich etwas antun.

In den schonungslosen Auseinandersetzungen mit seiner ersten Frau in Der Spiegel (1975) sagt sie einmal, er könne immer nur fordern und dass er immer den Eindruck erwecke, alle Welt müsse von seiner Existenz einfach beglückt sein. Worauf er erwidert, das habe damit zu tun, dass er nur mit Frauen aufgewachsen sei. Sie solle wieder heiraten, damit ihr Sohn nicht ähnlich verzogen werde. Zumindest die Ehrlichkeit der Antwort ist eindrucksvoll. (Freilich kann man den schneidenden Ton nicht einfach überhören.)

In seinen ersten Filmen kommen selten einfach geglückte Beziehungen zwischen Mann und Frau zur Darstellung. Freilich kann man ihm auch kaum einfach Parteilichkeit oder gar Misogynie nachsagen.

In Iwans Kindheit(1962) wird die sehr junge Sanitäts-Offizierin Mascha im Birkenwald eine wehrlose Beute von Hauptmann Cholin. Tarkowskij wies darauf hin, wie wichtig es war, dass sie für den Film eine Schauspielerin gefunden hatten, die von der Sanitäterin in der Romanvorlage sehr verschieden war: dort war von einer üppigen Blondine die Rede, während diese Mascha vor allem jung und unerfahren wirkt2. Es beginnt in einem Birkenhain mit einer unverfänglichen Konversation über Cholins sibirische Heimat Krasnojarsk und den Maler Surikow3. Der Hauptmann lockt sie dann etwas aus der Reserve, indem er sie zu einer kleinen Mutprobe verführt: er lässt sie auf einem schräg ansteigenden, gestürzten Baumstamm balancieren. Dann bietet er ihr an, sie beim Runterspringen aufzufangen. Ein besonders einprägsames Bild ist die Situation, als Cholin Mascha über einen Graben hilft. Er steht mit gespreizten Beinen über dem Graben und hält sie mitten inne, um sie zu küssen. Ein komplexes Bild, das, auch wenn man ihm sprachlich beizukommen trachtet, einen unauslotbaren Rest behält: Ihre reglos in seinen Armen hängende Gestalt macht ihre völlige Passivität deutlich. Sie wirkt wie geschlagene Beute. Aber mehr noch als an ein Raubtier, ist an eine Spinne zu denken, die ihre Beute bewegungsunfähig macht und ihr das Leben aussaugt4.

Eher unromantisch hört man im Hintergrund Gewehrfeuer. Das Ganze ist von unten, aus dem Graben gefilmt. Mit dem Graben, der an die Grabesgrube erinnert, ist vielleicht auf die Allgegenwart der Todesgefahr bei dieser flüchtigen Begegnung angespielt. Nach dem Kuss geht sie wie betäubt, mit den Füßen tastend, nah am Graben entlang. Er ruft sie zu sich, sie gehorcht wie willenlos und gelähmt. Daraufhin schickt er sie in einem plötzlichen Stimmungswandel weg. Offenbar kommt er sich auf einmal schäbig dabei vor, ihre Unerfahrenheit auszunutzen. Das wird nur in Andeutungen deutlich, es bleibt rätselhaft. Lediglich ihr von einer Kakophonie begleitetes Taumeln durch den Birkenhain kontrastiert negativ mit einer Szene wenig später.

Sie begegnet einem jungen Rekruten mit Nickelbrille, der sie wieder erkennt und herzlich begrüßt. (Es ist übrigens der dann auch in Hollywood bekannt gewordene Regisseur Andrej Michalkow-Kontschalowskij, der damals erst 25 Jahre alt war, aber seine erste Ehe schon hinter sich hatte. Er hat mit Tarkowskij auch für Andrej Rubljow zusammengearbeitet.) Aus ihrer Reaktion und der Inszenierung lässt sich entnehmen, dass er ihr wohl viel bedeutet. Wieder im Wald allein jubeln die Violinen im Walzertakt und ihre Seele tanzt durch den Birkenhain5.-

Der Birkenwald ist ein gutes Beispiel für die Ambivalenz der Bilder Tarkowskijs. Einerseits ist bekannt, dass die Russen – wie auch die Polen – ein geradezu zärtliches Verhältnis zu den Birken haben, diesen wunderbar lichten Bäumen, die die Melancholie der osteuropäischen Landschaft aufhellen aber gleichzeitig mit ihren feinen, traurig hängenden Zweigen in diese Melancholie einstimmen. In Nostalghia hören wir von dem Musiker Sosnofskij, dass es ihn schier umbrachte, seine russische Heimat mit den geliebten Birken nicht mehr wieder sehen zu können. Andererseits meinte Tarkowskij, dass dieser Birkenhain so etwas wie den „Hauch der schwarzen Pest“ heraufbeschwor6.

Nach einer gefährlichen Expedition an das andere Ufer des Flusses sitzen Hauptmann Cholin und der junge Leutnant Galzew in ihrem gut geheizten Bunker: Galzew hat sein Hemd zum Trocknen abgelegt und sitzt mit nacktem Oberkörper. Endlich kommen sie (und wir) dazu die Schallplatte mit dem Gesang des berühmten Bass-Baritons Fjodor Schaljapin zu hören, die der dann gefallene Katasonow aufgetrieben hatte (ein Lied mit dem beziehungsreichen Titel Mascha muss nicht über den Fluss hinüber7). Plötzlich erscheint Mascha um sich zu verabschieden. Galzew zieht sich sein Hemd über. Der bös überraschte Cholin erfährt, dass Galzew sie abkommandiert hat, weil sie den harten Anforderungen an diesem Abschnitt der Front nicht gewachsen sei. Cholin geht auf sie zu und sucht nach Abschiedsworten. Er kann es sich nicht versagen, sie auf den Soldaten mit der Nickelbrille anzusprechen. Es ist ihm nicht entgangen, dass da etwas war. Sie will das nicht zugeben. Der wunderbar lyrische Gesang im Hintergrund stellt eine sehr romantische Stimmung her, doch dann ist da ein Sprung in der Schallplatte und ein Seufzen wiederholt sich mechanisch: ein grausamer Scherz. Cholin dreht sich erschrocken um und Mascha verschwindet. Was mag den Regisseur zu dieser sehr männlich-unsentimentalen Lösung bewogen haben? Vor Jahren habe ich einmal einen kurzen Text zu dieser Stelle geschrieben, der zu dem Fazit kam: Es wäre schlimm, wenn es so etwas wie gelungene Abschiede gäbe.-

Warum überhaupt diese ganze Geschichte um Mascha, die völlig unabhängig von der Hauptgeschichte um Iwan existiert? Vielleicht war das eine Erfordernis der Romanvorlage Bogomolows. Aber Tarkowskij hat sich bekanntermaßen nie um Vorlagen geschert, wenn sie seinen Intentionen nicht entsprachen. Jemand hat zu Recht auf eine sozusagen unterirdische Beziehung hingewiesen: Mascha hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der kleinen Schwester Iwans, die in zweien der Traumsequenzen auftaucht. Beide Male wird eine kindlich unschuldige, geschwisterliche Paarbeziehung gezeigt, gewissermaßen paradiesisch, vor dem Sündenfall.

Tarkowskij zeigt die Furchtbarkeit des Krieges in diesem Film nicht in blutrünstiger Schlachterei, sondern zum einen daran dass die Kindheit Iwans zerstört ist: das macht die lichtdurchfluteten Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg so schmerzend. Zum anderen sehnt sich Hauptmann Cholin nach etwas Romantik, aber der Krieg hat ihn verroht, er belauerte Mascha mitunter wie ein Raubtier seine Beute. An der allgegenwärtigen Realität des Krieges zerschellt der Traum von einer glücklichen Beziehung.

Im Andrej Rubljow wird umgekehrt der gefesselte Mönch Andrej Opfer der gewissermaßen „virtuellen“ Verführung einer jungen Frau beim heidnischen Fest an einem Maienabend. (Unvergesslich wie zu Beginn dieses Filmabschnitts die Stimmung der frühsommerlichen Abenddämmerung vom Schlag der Nachtigallen herbeigerufen wird.) Andrej und Foma wollen Brennholz beschaffen. Doch etwas liegt in der Luft. Die seltsamen Geräusche im Wald, zum Teil nackte, mit Fackeln vorbei huschende Menschen stellen einen Sog her, dem sich Andrej nicht entziehen kann. Tief aufgewühlt ruft er Foma zu: „Sie betreiben Hexerei!“

Sein offenbar mit mehr Phlegma begabter jüngerer Gefährte versucht vergeblich ihn zurückzurufen. Eine wohl auf Stelzen gespenstisch hochragende vermummte Gestalt, aufflatternde weiße Vögel, ein heidnisches Ritual, bei dem ein sargähnlicher kleiner Einbaum mit einer bekleideten Strohpuppe, die eine brennende Kerze trägt, von einem langen Spalier nackter Menschen in den Fluss geleitet wird, dazu eine schnarrende, aufpeitschende akustische Untermalung, all das ist ungemein suggestiv und macht die zunehmende Erregung des Mönches verständlich. Um die sinnenfällig zu machen fängt seine Kutte an den Füßen Feuer, was ihm gerade noch auszustampfen gelingt.

In Kommentaren ist immer wieder von der „Johannisnacht“ die Rede, doch die ist im Juni und aus dem anfänglichen Dialog zwischen Andrej und Foma geht klar hervor, dass der Juni noch nicht angebrochen ist. Tarkowskij ging es nicht darum, ethnographisch verlässliche Aussagen zu machen. Er hat eine künstlerische Reflektion über die innere Folgerichtigkeit der indoeuropäischen Version einer heidnischen Weltsicht geschaffen. So ist die massenhafte, jugendliche und schöne Nacktheit in dieser Episode nicht willkürlich, sondern geht einher mit der Leugnung des Sündenfalls etwa der legendären Adamiten. Dazu gehört eine kleine Vergewaltigung des angeborenen Schamgefühls, die auf andere, spirituell weniger raubeinige Kulturen, wie etwa die chinesische, die die Geschichte unseres Sündenfalls bestenfalls vom Hörensagen kennen, nach wie vor schockierend wirkt.

Mehr als Folkloreforschung ist diese Episode eine Antwort auf schwarzmagische Faszinationen in der russischen Literatur etwa bei Gogol, die wiederum Mussorgskijs Eine Nacht auf einem kahlen Berge inspiriert haben, ein Werk, dem durch Walt Disneys Fantasia große Popularität zuteil wurde, oder auch auf Igor Stravinskijs Ballett von 1913 Le sacre du printemps, das bei seiner Premiere in Paris das Publikum in Raserei versetzte. Das Ritual des Einbaums mit der Strohpuppe soll inmitten erotischer Aufgeregtheit die Reise ans andere Ufer, ins andere Leben, die Sehnsucht nach Transzendenz versinnbildlichen.

Rubljow wird von den feiernden Bauern in einem Schuppen entdeckt und als feindlicher Eindringling, als „Schwarzkutte“, wie bei einer Kreuzigung an einen Balken gefesselt. Er droht ihnen, sie müssten für ihre Sünden in der Hölle schmoren. Die Männer lassen ihn zurück, nicht ohne sich höhnisch vor ihm zu bekreuzigen und ihm in Aussicht zu stellen, ihn am nächsten Morgen mit einem Stein am Hals im Fluss zu ertränken. Eine junge Frau, die die Szene beobachtet hat, wundert sich über seine Drohungen und fragt ihn, frei nach Zarah Leander: „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Zu einer Zeit, „da die ganze Natur sich liebt?“ Andrej sagt, Liebe müsse brüderlich sein und nicht „viehisch“. Doch diese slawische Eva8 kennt natürlich noch überzeugendere Argumente als Worte: sie geht auf den Mönch zu, nur mit einem umgehängten Fellmantel bekleidet, den sie von sich abgleiten lässt, ergreift seinen Kopf und küsst ihm lang und innig auf den Mund. Er bittet sie, ihn von den Fesseln zu befreien, und sie ist ihm zu Willen. Er irrt hin und her durch das Gestrüpp und streift sich den schwarzen Umhang ab, der ihn zuvor als Mönch verraten hatte. Dann blickt er mit einem Mal gebannt nach rechts, ein bisschen wie das Kaninchen vor der Schlange. Wir sehen das Gesicht der Frau, das sie abwartend zwischen ihre verschränkt auf einer Art Holzbrüstung lagernden, wundervollen, bereiften Arme versenkt wie ein „couche de soleil“ zwischen sanften Hügeln; unter ihrem sengenden Blick, dem sich die Kamera langsam nähert, werden wir aus der Szene entlassen.-

Erst im Morgengrauen findet Andrej zu seinen Leuten am Fluss zurück. Hat er der Versuchung der Frau standgehalten? Wir wissen es nicht. Im Text der Vorlage kam es zur Konfrontation mit der Frau im Wald ohne Fesselung und Entfesselung, die Verführung fand nur in der Vorstellung des Mönches statt, dennoch war sich Rubljow dort ausdrücklich seiner Sünde bewusst9. Offenbar wurde hier der hohe Anspruch des Neuen Testaments verinnerlicht, demzufolge einer schon Ehebruch begangen hat, wenn er eine Frau auch nur lüstern anblickt. Dass Tarkowskij die Primärquellen für diesen Film studiert hat, ist nicht verwunderlich. Dass er es so gründlich tat inmitten der sozialistischen, atheistischen Wildnis, hingegen schon.

Rubljow kommt an Bauernhäusern mit friedlich beieinander schlafenden Paaren vorbei. In den Türen aufgehängte kleine Strohkränze und Bündel gemahnen vage an das heidnische Ritual. Eine verhärmte, kummervoll vor sich hinstarrende alte Frau sitzt in leicht schaukelnder Bewegung. Einmal wischt sie bedächtig den Kitzel einer verstohlen rinnenden Träne fort. Kurz zuvor im Wald sah man beim erregten Andrej eine ähnliche Geste. Es ist eine Besonderheit des Films im Unterschied zum Theater, dass solch minimale Details bedeutsam werden können. Vielleicht ist es ein entmystifizierendes Bild für sexuelle Lust: Wenn es einen juckt, muss man sich kratzen. Tarkowskijs Wahrheitsliebe hebt die Flüchtigkeit dieser Erfahrung hervor, ihre Vergänglichkeit, die besonders wie hier im Rückblick des Alters schmerzlich zu Bewusstsein kommt.

Die Anderen empfangen den verlorenen Sohn mit Reserven und mehr oder minder unausgesprochenen Fragen. Rubljow ergeht sich in rätselhaften Andeutungen zur Macht der Gewohnheit, die auch das Verhältnis der Geschlechter bestimme – ein Wald, in dem er sich nicht auskenne. Deshalb ist er so zerkratzt. Die Rede von der Wiederholung des Immergleichen erinnert an das leichte Schaukeln der alten Frau, ein Bild für monotones Einerlei. Da schlägt der kleine Einbaum mit der schwelenden Asche der Strohpuppe an ihr Boot. Das ersehnte andere Ufer des Flusses wurde nicht erreicht. Im nüchternen Licht des Morgens erscheint das vorabendliche Ritual in seiner mystifizierenden Aufgeregtheit als bloße Illusion10.

Dann werden sie in ihren Booten Zeugen eines dramatischen Nachspiels des nächtlichen Festes. Rubljow, durch jüngste Erfahrung gewitzt, befürchtet schlimmes und befiehlt einer älteren Frau dem kleinen Sergej die Augen zuzuhalten, weil er nicht sehen soll, was da geschieht, ein Detail, für das ich den Regisseur bewundere. Es ist ein Verhalten, das man nach jetzt gängigem Denken als heuchlerisch zu sehen neigt: gerade noch hat er kaum einer Versuchung widerstanden, wenn überhaupt, und jetzt spielt er sich als moralische Autorität auf. Aber wer sagt denn, dass man seine Grundüberzeugungen über den Haufen werfen muss, nur weil man schwach ist? Vielleicht hat Rubljows Anfechtung das Gute, dass er hoffentlich den geistlichen Hochmut ablegt, der leider mit sexueller Enthaltsamkeit allzu oft einhergeht.

Einige der Heiden sind von Schergen der Obrigkeit am Ufer zusammengetrieben worden und sollen verhaftet werden. Einer jungen Frau gelingt es nackt ins Wasser zu entkommen. Als sie näher heranschwimmt, erkennen wir die Versucherin. In kryptischen Andeutungen hat Tarkowskij so etwas wie ein Taufritual inszeniert. In der undeutlichen Ferne des Ufers sehen wir einen Mönch mit einem Heiden ringen, die Frau schwimmt an Andrej Rubljows Boot vorbei. Er sitzt da mit gesenktem Haupt, und es scheint, dass seine Lippen sich bewegen, als murmele er ein Gebet. Eine kräftige Männerstimme ruft ihr beschwörend nach: „Marfa, Marfa, schwimm, Marfa!“ Ihr Name ist eine Verbindung von Maria und Eva. Jetzt ist die Kamera hoch oben über dem Fluss und wir sehen die schwimmende Frau von hinten. Die Kamera zoomt zurück, was dem Schwimmen der Frau größere Geschwindigkeit zu verleihen scheint. Man neigt dazu zu glauben, dass sie das andere Ufer erreichen wird. Damit wird die Szene ausgeblendet11.

Tarkowskij ist dafür kritisiert worden, dass es unhistorisch sei, Anfang des 15. Jahrhunderts in Russland heidnische Enklaven anzunehmen. Vielleicht gab es im strikten Sinne eines Bekenntnisses solche Enklaven nicht, aber überall auf der Welt haben heidnische Grundüberzeugungen mit dem Christentum fortexistiert. Als ich diesen Film zum ersten Mal gesehen habe, schien er mir in einer prophetischen Schau vorwegzunehmen, was dann hier im Westen wenige Jahre später im Anschluss an 1968 als sexuelle Befreiung über uns hereingebrochen ist, eine naturhafte Auffassung von „Liebe“ ohne jedes Verständnis für die spirituellen Ansprüche des Christentums. Auch der Kuss des wehrlosen Mönches nimmt in komprimierter Form die bald folgende üppige Entwicklung der Pornographie vorweg. Für unmittelbare erotische Stimulation gilt das Recht der „freien Meinungsäußerung“, was man sich in einer nicht zuletzt auch intellektuellen Dumpfheit bis auf den heutigen Tag gefallen lässt.

Ob eine Verfolgung der Heiden durch die Obrigkeit wahrscheinlich war, mag dahingestellt bleiben. Wie gesagt, sehe ich die Balgerei von Mönchen und Heiden am Strand bildhaft. Eine Episode aus dem Roman zu diesem Film bestätigt den Eindruck einer Taufe sui generis12.

Tarkowskij hat, wie man weiß, in diesem Film seiner ersten Frau Irma Rausch ein Denkmal gesetzt, die in der Rolle einer taubstummen Schwachsinnigen auftritt (und für ihre schauspielerische Leistung in dieser Rolle einen französischen Preis erhalten hat13). Sie war dem Mönch in der Kirche zugelaufen, in der Rubljow mit Daniil und seinen Gehilfen das „Jüngste Gericht“ malen sollte. Nach der Verwüstung der Kirche von Wladimir sieht man darin einen blutbespritzten Rubljow mit der Schwachsinnigen zwischen Leichen hocken. Ihr Schwachsinn zeigt sich hier darin, dass sie einer toten Frau bedächtig einen Zopf ins lange, blonde Haar flicht. Anscheinend ist dieses Detail alles, was von einer geplanten Episode übrig geblieben ist: die Tartaren hatten von den Moskauern verlangt, dass sie ihnen, um sich freizukaufen, mehrere Fuhrwerke angefüllt mit Frauenhaar abliefern mussten, was eine gezielte Demütigung war14. Die Überlebenden nach einem Gemetzel sollten uns die Zuversicht vermitteln, dass das Leben weiter geht, und das Flechten eines Zopfes ist ein sinnfälliges Bild dafür, dass es weitergehen muss; zugleich führt es diese Hoffnung ad absurdum, weil die Frau tot ist. Was für ein Traumpaar: er ist Mönch und sie nicht ganz bei Trost. Bald taucht der Geist des toten Feofan Grek auf und es folgt eine lange, intensive Unterredung der beiden Künstler, an deren Ende auf unnachahmliche Weise inmitten des unbeschreiblichen Grauens so etwas wie Schönheit und Hoffnung ins Spiel kommt15.

Rubljow hat bei der Plünderung der Kirche, um die Frau zu schützen einen Russen mit einer Axt erschlagen: deshalb ist er blutbespritzt. Zur Buße will er schweigen, will nicht mehr malen und behält die Frau bei sich, um sein Ansehen in der Tradition der „Narren in Christo“ zu ruinieren. Der Regisseur zeigt die Demütigung seiner Heimat an Durochka, der Schwachsinnigen, die sich, wie erwähnt16, auf ein würdeloses Spiel mit mongolischen Reitern einlässt. Sie kommen lärmend und johlend mitten im härtesten Frost bei einem Weiler vorbei, wo Andrej mit der Frau lebt. Dem ohnmächtigen, verbissen im Schweigen verharrenden Rubljow, der sie zurückhalten will, spuckt sie ins Gesicht.

Ich müsste mich sehr irren, wenn nicht am Ende des letzten Film-Kapitels über den gelungenen Glockenguss die Schauspielerin, die die Schwachsinnige gespielt hat, wieder auftaucht17. Strahlend, festlich in ein weißes Kleid gewandet, führt sie ein Pferd beim Klang der Glocke (was auf die Tatsache antwortet, dass zuvor im Film ein herrenloses Pferd in eine verwüstete Kirche geklappert kommt.) In diesem Bild ist die Würde Russlands wieder hergestellt. Auch die anwesenden Gesandten Venedigs, die sich in der Originalversion des Films auf Italienisch unterhalten und recht abfällig über die Russen äußern, zollen der Frau Bewunderung.

In Solaris (1972) sind zwei Frauentypen einander gegenübergestellt und man ist fast versucht, sie auf christliche Vorstellungen zu beziehen. Demnach wäre Hari die alte Eva, völlig abhängig vom Mann besonders eindrucksvoll in der Szene, bei der sie, alleingelassen, gewaltsam durch eine Metalltür bricht (vgl. Gen 3,16: „dein Verlangen wird nach deinem Mann sein, und er wird dein Herr sein“). Sie klammert sich verzweifelt an die Beine von Kris. Ihre Kleidung besteht aus einem symmetrisch zusammen gestückten Lederkleid in drei Tönen: hell beige, rostbraun und dunkelbraun und einem Makramée-Umhang in Streifen mit ähnlichen Farben, den Farben des Herbstes.

Die andere Frau, die „Mutter“, Olga Barnet, auch sie eine junge Frau von Anfang zwanzig, erscheint in einem aus weißen und rosigen Rosen gestrickten Kleid, was besonders auffällt, weil sie in diesen Frühlingsfarben in einer herbstlichen Landschaft gefilmt wird. Sie verkörpert hingegen Maria, die neue Eva, die gegen Ende Kelvin in einer fiebrigen Traumvision mit mütterlicher Zärtlichkeit die beschmutzten Arme und Hände wäscht, eine Szene, die Tarkowskij später als eine der gelungensten des Films erinnerte.

Der Spiegel (1975) setzt sich mit der Mutter auseinander, die, wie Tarkowskij einmal sagte, „Nihilistin“, war, was man in unserem Kulturkreis mit „Emanze“ übersetzen kann18. Bei dem Gespräch mit einer befreundeten Kollegin in den Räumen der Druckerei, für die die Mutter arbeitete, bricht sehr unvermittelt aus dieser Kollegin heraus, wie sie über die Mutter denkt: Sie wolle sich bedienen lassen, sie wolle, dass man ihr die Pantoffeln bringe. Es sei ein Wunder, dass ihr Mann sie nicht schon viel früher verlassen habe, wirft sie ihr unter Tränen vor. Eigentümlich, dass ein vielleicht nicht gänzlich unvoreingenommener, aber sensibler (männlicher) Betrachter nach einem kurzen Stück, das er von Andrej Rubljow gesehen hatte, genau diesen Eindruck gewann: dieser Regisseur sei jemand, der sich gerne von seiner Frau die Pantoffeln bringen lassen möchte. In anderem Zusammenhang, in der Diskussion über das Bildnis angeblich Leonardos der Ginevra Benci, ging es darum, wie die Frau als das„Andere“ gleichzeitig faszinierend und niedrig erscheint. Das muss hier nicht wiederholt werden. Ich verweise auf das Kapitel über Tarkowskij und die westliche Kunst19.

Eine Episode mit der Mutter aus Tarkowskijs Kindheit, die die bittere Armut, in der sie damals leben mussten, zeigt, handelt von dem demütigenden Versuch Ohrringe bei der Frau eines entfernt bekannten Arztes zu verschachern. Die Szene ist auch deshalb bemerkenswert, weil die wohlhabende Arztfrau im Seidenkleid von Tarkovskijs zweiter Frau Larissa dargestellt wird. Es ist ihr einziger Auftritt in einem seiner Filme und sie wirkt hier eher kühl, abweisend. Lediglich als sie in stolzer Mutterfreude ihren kleinen Sohn im Himmelbettchen vorführt, fließt sie über von slawischer Zärtlichkeit. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn das nicht auch Aufnahmen von Andrej junior, ihrem eigenen Sohn sind. Weil die Gelegenheit so günstig ist, bittet sie Alexejs Mutter ihr beim Schlachten eines Hahnes behilflich zu sein. Sie drückt ihr kurzerhand den Hahn und ein Beilchen in die Hände und sinniert auch noch obenhin über „unsere weiblichen Schwächen“. Das Köpfen des Hahnes wird nicht direkt gezeigt, aber sein Kreischen und Zappeln, bei dem die Federn fliegen, bekommen wir mit. Dann erscheint das Gesicht der Terechowa verfremdet von unten beleuchtet und in Zeitlupe „dämonisch“ lächelnd. In Tarkowskijs Sicht gehört es zur Natur der Frau, Leben zu hegen und zu schützen, nicht es zu nehmen. Wenn sie wie hier zur Gewalt gezwungen wird, entstellt sie das.

In Stalker (1979) wird der Schriftsteller zu Beginn des Films von einer schönen Frau mit Pelzmantel und schneidigem, wahrscheinlich westlichem Sportwagen zum Ort der Verabredung gebracht. Sie plaudern über das Bermudadreieck, doch als der Stalker ihr wortkarg aber unmissverständlich bedeutet, dass sie verschwinden soll, zischt sie den Schriftsteller als: „Kretin!“ an und prescht davon. In seinen Auslassungen zieht der Schriftsteller später über „verrückte Weiber“ her, aber das bleibt am Rande.

Einen wichtigen Part hat im Kontrast zur anfangs gezeigten Dame von Welt die weniger glamouröse Ehefrau des Stalkers (Alissa Freindlich), die sich gegen Ende des Films direkt an den Zuschauer wendet und sich zu ihrer Ehe bekennt, obwohl daraus eine behinderte Tochter hervorging, wohl weil der Stalker von seinem Umgang mit der Zone gezeichnet ist. Sie hat viele Opfer bringen müssen, bereut es aber nicht ihrem Mann die Treue gehalten zu haben. Für Tarkowskij selbst war diese Aussage überaus wichtig, sie war „alles“, was er dem Zynismus des Schriftstellers und des Wissenschaftlers entgegensetzen konnte. Ist es bezeichnend, dass ihm dazu keine poetischen Visionen eingefallen sind, sondern, dass er die Frau Klartext reden lässt?

Man darf darin wohl auch ein Loblied auf seine eigene Ehefrau sehen, von der der Regisseurkollege Paradschanow in einem Brief einmal schrieb, es sei sicher nicht leicht mit einem Genie verheiratet zu sein20. Das ist abzugleichen mit der sehr kritischen Stellungnahme zu Adelaide in seinem letzten Film Offret, die peinlicherweise genau die Frisur von Larissa, Tarkowskijs Frau trug. (Tarkowskijs zweite Ehe war anscheinend ein Labyrinth von Tolstojschen Proportionen.) Beim Aufbruch des Stalkers in die Zone zu Beginn des Films macht seine Frau ihm heftige Vorhaltungen. Als er sie zurücklässt, zeigt sie fast noch drastischere „Entzugserscheinungen“ als Hari in Solaris und windet sich verzweifelt am Boden. Das korrespondiert merkwürdig zu dem Verhalten des Stalkers in der Zone, der sich etwas abseits ins grüne Gras kniet, dann sich darin ausstreckt, um sich dann aber alsbald umzudrehen Er wendet sich nach oben: Die Seele ist, wie die Mystik weiß, weiblich.

Der dem Andenken an die Mutter gewidmete Film Nostalghia (1983) bietet am ehesten eine explizite Auseinandersetzung mit dem Thema der Emanzipation. Als die Dolmetscherin des russischen Schriftstellers Eugenia in die Kirche kommt, in der die Madonna del parto von Piero della Francesca zu sehen ist, wechselt sie einige Worte mit dem Sakristan, der von sich sagt ein sehr einfacher Mann zu sein, was in einem gewissen Widerspruch dazu steht, dass Tarkowskij für diese kleine Rolle einen Schauspieler mit einem edlen Philosophenkopf gefunden hatte. Der Sakristan bedauert, dass sie einfach nur zum Schauen und nicht zum Beten in die Kirche kommt. In der Kirche ist eine Prozession im Gange von Frauen, die darum bitten, fruchtbar sein zu können.

Eugenia fragt den Sakristan, was er meine, weshalb Frauen mehr bereit sind zu beten als Männer. „Das fragen Sie mich?“ Als dann der alte Mann sagt, dass Frauen Kinder zur Welt bringen und sie mit Geduld und Opfermut aufziehen sollen, fragt sie ihn: Und mehr können sie nicht? Er weiß darauf nichts zu sagen. Sie bedankt sich kalt und lässt ihn zurück, bleibt aber in einiger Entfernung stehen und wird so Zeugin des folgenden Geschehens. Vor dem von den betenden Frauen gebrachten Gnadenbild geschieht ein Wunder à la Tarkowskij: eine Frau öffnet unter Anrufungen einer vermutlich von Tarkowskij erfundenen Litanei einen offenbar zugeknöpften oder zugenähten Vorhang mit leichter Gewalt und mit einem Mal flattern daraus eine Unzahl von Vögelchen hervor, die zwitschernd nach oben davon schwirren. Über die vielen brennenden Kerzen sinken kleine Flaumfedern herab. Ein Bild für das Wunder des Lebens, dem zu dienen nach Tarkowskij die Frauen berufen sind.

In seinem Hotelzimmer fällt Gortschakow in einen von Träumen bewegten Schlaf. Eugenia senkt ihre Lockenpracht auf sein Gesicht herab. Vor einer gewellten, wie in Schollen zerborstenen Wand bewegen sich Maria, die aus Traumvisionen schon bekannte Frau des Russen, und Eugenia aufeinander zu, umarmen sich, streichen sich gegenseitig über das Haar und, tränenüberströmt, trösten sie sich. Tarkowskij erwähnte in seinem Buch wie eine ähnliche Szene bei Bergman ihn beeindruckt hat. Nur trägt das Ganze bei Bergman deutlicher homoerotische Züge, die Frauen küssen erogene Zonen. Hier ist es mehr reine Zärtlichkeit. In Larissa Schepitkos Film Aufstieg gibt es auch zwei Frauen, die sich ähnlich umarmen, freilich sind es ältere Frauen, während sie hier jung sind.

Etwas später im Film macht Tarkowskij noch einen „essentialistischen“ Kommentar, der in knapper Form wieder einiges zusammenfasst. Er dauert nur wenige Sekunden, hat es aber in sich. Eugenia beugt sich im Korridor des Hotels am Fuß der Treppe einer plötzlichen Laune folgend wie in die Startposition einer Sprinterin, sagt: „Uno, due, tre!“ und sprintet los, nur um nach wenigen Schritten mit ihren Stöckelschuhen auszurutschen, zu Boden zu fallen und in Lachen auszubrechen. Hier ist auf den Sport angespielt, bei dem die Ungleichheit von Männern und Frauen nicht von der Hand zu weisen ist. Und so liegt hier auch die Aussichtslosigkeit auf der Hand, dass es die Frau dem Mann gleichtun könne. (Man kann auch an bestimmte Monstrositäten denken, die der Leistungssport gerade in Osteuropa hervorgebracht hat, indem durch Hormonbehandlungen Mannweiber entstanden.) Freilich kann man einwenden, das gelte für den Sport, in anderen Lebensbereichen liege die Sache nicht so eindeutig. Tarkowskij scheint aber stillschweigend davon auszugehen, dass das allgemein gilt. Die Treppe steht für die Karriereleiter.

Eugenia hat den Wunsch dem Russen erotisch näher zu kommen. Als er ihr sagt, dass sie in einem bestimmten Licht besonders schön sei, ist sie angenehm berührt und hofft, es könne noch etwas mehr kommen. Doch Gortschakow ist schon im nächsten Satz mit der Figur des angeblich irren Domenico beschäftigt, von dem er meint, er sei nicht irre, sondern habe Glauben. Sie ist offensichtlich sekkiert. Gortschakow drängt darauf, ein Treffen mit Domenico zu vereinbaren, wobei sie ihm widerwillig zu helfen versucht. Ihre Annäherungsversuche werden unterdessen zunehmend direkter. Einmal steht sie im Dämmer vor der Tür seines Hotelzimmers, die sich wie von Geisterhand geöffnet hat. Sie begleitet ihre Worte mit einer sicher nicht minder deutlichen Sprache des Körpers, denn sie hält mit beiden Händen ein Büchlein vor ihren Schoß in leicht anklopfender Bewegung, einen Finger zum Einmerken eingelegt. (Es sind, wie sich herausstellt, Gedichte Arsenij Tarkowskijs in italienischer Übersetzung). Dann hat sie sich bei seiner Rückkehr von Domenico in seinem Zimmer geduscht und föhnt sich auf seinem Bett das üppige Haar: die Dusche in ihrem Zimmer funktioniere nicht. (Eine Behauptung, deren Glaubwürdigkeit erfahrene Italienreisende – insbesondere wenn es wie hier um die Zeit der 70er und frühen 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts geht – kaum bezweifeln werden.) Plötzlich macht sie ihrem Unmut in einer Szene Luft. Es kann nicht alles wiederholt werden, was sie ihm an den Kopf wirft. Er sei voller Komplexe. Sie, die Russen redeten von Freiheit, wüssten aber mit der Freiheit gar nichts anzufangen. Als sie ihm zum ersten Mal begegnete, habe sie einen beklemmenden Traum gehabt, ein klebriger, vielbeiniger Wurm habe sich in ihrem Haar festgesetzt21. Sie habe ihn schließlich zu Boden geworfen und versucht ihn zu zertreten, doch sei er unter den Schrank gekrochen. Seither habe sie immer das Bedürfnis ihr Haar zu berühren. Hier haben wir den psychologischen Spiegeleffekt, der seit dem Film Der Spiegel zur Filmkunst Tarkowskijs gehört: seine Filme sind so angelegt, dass die Kommentare seiner Zuschauer mindestens ebenso viel, wenn nicht mehr, über sich selbst sagen als über den jeweiligen Film. Das Ekelhafte, dessen sie in der Begegnung mit ihm innewurde, liegt in ihr selbst. Im Folgenden verstrickt sie sich in Widersprüche, er sei ja so was von langweilig, aber sie verstehe etwas von Charme („fascino“ auf Italienisch), auch wenn sie noch jung sei. Während ihrer gesamten Tirade, bei der sie einmal vor dem Fenster und dann vor dem Badezimmer steht, hört man das Gluckern des Waschbeckens, das Geräusch für Stagnation.22 Sie ist so etwas wie die Illustration des „verrückten Weibes“, und das ist auch in etwa sein einziger Kommentar, als er die Flucht ergreift. Draußen auf dem Flur schreit sie ihm nach, es habe nicht viel gefehlt, dass er seine Frau betrogen hätte: „Heuchler!“ Vielleicht ist sie eine Trophäenjägerin, die es darauf anlegt, interessante Männer zur Strecke zu bringen. Wer weiß, ob nicht Tarkowskij hier in einem Konzentrat seine eigenen Erfahrungen zusammengefasst hat. Man erinnert sich an das Gejammer des alten Machos Picasso, weil diese Art von Frauen ihm nicht einmal die Illusion ließ, sie erobern zu müssen.

In dem, was der angetrunkene Gortschakow in einer versumpften Kirchenruine der kleinen Angela sagt23, kann man eine indirekte Antwort auf die Angriffe Eugenias sehen. Er spricht von den großen Liebesgeschichten und hebt hervor, dass sie nicht geradewegs ins Bett führen: „Niente baci, niente di niente!“ In diesem Zusammenhang kommt auch die erwähnte Aussage, dass man die Gefühle, die man nicht ausspricht, nicht vergisst. Auch dies steht im Kontrast zum Verhalten Eugenias, die dem Russen gleich zu Beginn des Films zuruft, sie habe, als sie die Madonna del parto Piero della Francescas zum ersten Mal gesehen habe, geweint.

Die anderen Frauen, die, wie etwa die Ehefrau Gortschakows, nur in Erscheinung treten, sind als solche aber wichtig und sorgfältig ausgewählt. Ähnliches gilt für Tarkowskijs letzten Film Opfer, auch hier sind die Typen der Frauen wichtig, insbesondere Adelaide und Maria, aber auch Julia und Marta.

Im Film Opfer (1985) verkörpert die Ehefrau Adelaide eine bestimmte Art von Verirrung, die Tarkowskij in seinem Buch ausführlich kommentiert hat, so dass es sich hier fast erübrigt darüber zu schreiben.24 Was er über das zerstörerische Potential Adelaides schreibt, kommt in dieser Klarheit im Film beinahe nicht zum Ausdruck. Die gute Hexe Maria ist eine Bedienstete und die wohltätige Ausstrahlung dieser einfachen Frau hat Tarkowskij ebenfalls beschrieben. Bei der Namensgebung der übrigen beiden Frauen hat Tarkowskij Spuren verwischt. Marta, die Tochter Adelaides sollte richtiger Julia heißen, denn sie ist „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“. Julia, die besser Marta heißen sollte, ist das tüchtigere der beiden Dienstmädchen und von fast athletischem Körperbau. In einem Ausbruch klagt sie unter Tränen die Hausherrin Adelaide an, weil sie „Jungchen“ wecken soll. Dieser Angriff auf Adelaides Tyrannei hat große Ähnlichkeit mit der bereits erwähnten Attacke im Spiegel, mit der sich die Kollegin gegen die Mutter Tarkowskijs wendet. Vielleicht versprach sich Tarkowskij eine nachhaltigere Wirkung davon, wenn die Vorwürfe von einer anderen Frau kamen. Nach der Ankündigung des Atomkrieges hat Adelaide eine hysterische Krise und wird vom Arzt und Hausfreund Viktor mit einer Beruhigungsspritze ruhig gestellt. Bei Adelaide scheint der Ausdruck ihrer äußersten Hilfsbedürftigkeit aber immer noch Teil ihrer Tyrannei zu sein. Hysterische Zustände bei Frauen begegnen im Werk Tarkowskijs immer wieder. Als der Stalker gegen den Willen seiner Frau in die Zone aufgebrochen ist, windet sie sich in einem Anfall am Boden. Auch die Wiederbelebungen Haris in Solaris haben etwas Konvulsivisches. In der winterlichen Passionsszene im Andrej Rubljow wirft sich eine Frau über die Füße des zur Kreuzigung hingestreckten Jesus und weint haltlos. Ebenso umarmt in Nostalghia die aus siebenjähriger Gefangenschaft befreite Frau Domenicos wild schluchzend die Beine eines Polizeibeamten. Offenbar entspricht das Tarkowskijs Erfahrung mit Frauen, insbesondere die Szene mit Adelaide scheint eine persönliche Erfahrung widergespiegelt zu haben.25 Immerhin gibt es einen Moment der Besinnung für Adelaide: “…Jetzt habe ich das Gefühl, als ob ich erwacht bin aus einer Art von Traum… wie nach einer anderen Art von Leben. Aus irgendeinem Grund habe ich immer Widerstand geleistet… mit etwas gekämpft. Ich verteidige mich selbst. Es war so als ob in mir ein anderes Ich wäre, das sagte, du darfst dich nicht aufgeben und lass dich nicht auf etwas ein, was du nicht willst, sonst stirbst du. Mein Gott, wie wir uns irren … trotz allem.“1 Sie scheint zu bemerken, dass Lieben heißt, nein zu sagen zum eigenen Ego. Als Julia ihr offen widerspricht und sie anklagt, umarmt sie sie sogar. Aber später scheint sie wieder in ihre herrische, aggressive Art zurückzufallen. Als das Haus brennt und das aufgeregte hin und her Gerenne von Alexander und den anderen beginnt, fällt sie an einer Wasserlache auf die Knie und verharrt in dieser Haltung. Dies ist wiederum die Andeutung eines Umdenkens, einer Umkehr. In seinem Film hat Tarkowskij die Akzente sehr viel sorgfältiger verteilt als in seinem schriftlichen Kommentar. Hat Tarkowskij hier seine eigene Ehe porträtiert? War er nicht ungerecht, selbstgerecht?

Seine rückhaltlose Ehrlichkeit, die er für eine der Voraussetzungen der Kunst hielt, führte dazu, dass er sich Blößen gab. Der Kampf für sein Frauenbild hatte sicher eine fast schon pathologische Dimension und doch sollte seine Sorge um die spirituelle Seite des Lebens auch in dieser Hinsicht zu denken geben.

Dass er so extreme Positionen vertrat, hat mit seiner Biographie zu tun: die Eltern hatten sich als angehende junge Schriftsteller kennen gelernt. Der Vater, ein Dichter der schwierigeren Art, der vor allem über seinen Sohn bekannt geworden ist, hat früh die Familie verlassen, also Frau und Kindern gegenüber versagt26, während die Mutter ihre Selbstverwirklichung als Schriftstellerin zurückgestellt und ihre beiden Kinder unter großen Opfern aufgezogen hat. Andererseits war es Tarkowskij klar, dass er den Löwenanteil seiner Begabung vom Vater geerbt hatte. In dieser Hinsicht blieb er tief zerrissen. Er sah, dass im spirituellen Leben Liebe und Opfer das einzige sind was zählt und die Fähigkeit dazu sah er vor allem in Frauen. Dann wieder behauptet er am Ende seines Buches Die versiegelte Zeit: „Und zu guter Letzt im Vertrauen: Die Menschheit hat außer dem künstlerischen Bild nichts uneigennützig erfunden, und vielleicht besteht tatsächlich der Sinn der menschlichen Existenz in der Erschaffung von Werken der Kunst, im künstlerischen Akt, der zweckfrei und uneigennützig ist. Vielleicht zeigt sich gerade darin, dass wir nach Gottes Ebenbild erschaffen wurden.“27 Allerdings ist es wohl nur sehr wenigen vorbehalten, in diesem Sinne Ebenbild Gottes zu sein (den Genies, die meistens wiederum Männer sind). Gegenüber dieser extrem aristokratischen Sicht der Menschheit28 ist die andere Auffassung, dass die Liebe das Wesen Gottes ist und wir, indem wir lieben, Gottes Ebenbild sind, sehr viel demokratischer: jedem steht es frei zu lieben, auch wenn Tarkowskij zeigt, dass es nicht leicht ist.

Mein Eindruck ist, dass Tarkowskij mit seinem letzten Film ein Opfer bringen, sozusagen als Künstler eine ihm gemäße Form der Selbstaufgabe finden wollte, indem er den Eindruck erweckte, verrückt geworden zu sein. Der Zuschauer sollte am Ende des Films an ihm irrewerden, in dem Sinne, dass nicht nur der Protagonist zu Recht im Irrenhaus landet, sondern das auch für den Regisseur der richtige Ort sei. Domenico in Nostalghia und Alexander im Opfer haben große Ähnlichkeit mit den Jurodiwy, den russischen „Narren in Christo“, zuletzt nun auch der Regisseur selbst. Freilich ist man in der Rezeption des Films nie so weit gegangen, den Regisseur für verrückt zu erklären, lediglich hat man es als einen Mangel gesehen, dass er sich in Widersprüche verstrickt habe.

1Layla Alexander Garrett, Never be neutral, in : Sight and Sound, Januar 97, p.23

2Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 37 f.: „Das Pathos ihrer Natur und ihres Alters war die Hilflosigkeit. Das Aktive in ihr, das, was ihre Einstellung zum Leben bestimmen sollte, befand sich bei ihr noch in embryonalem Zustand. Dies bot die Möglichkeit, eine authentische Beziehung zu Hauptmann Cholin aufzubauen. Auf diese Weise geriet Subkow, der Darsteller des Cholin, in völlige Abhängigkeit von seiner Partnerin und verhielt sich da genau richtig, wo er mit einer anderen Partnerin falsch und moralisierend gewirkt hätte.“

3 Der berühmte Maler war ein Vorfahre der Michalkows. Wenn Tarkowskij wegen seines Dichtervaters sich einbilden konnte aus der künstlerischen Aristokratie des Landes zu stammen, dann sein Kollege (und damals noch Freund) Andron Michalkow-Kontschalovskij, erst recht.

4 Tarkowskij hat sich nach eigenem Bekenntnis gern an der Welt des Kleinen orientiert, zu der auch die Insekten gehören. Er, der geheimnisvolle Anspielungen liebte, hat uns in dem Erinnerungstraum Iwans zu Beginn des Films ein Spinnennetz gezeigt. Während das im Zauber des Sommertages untergehen mag, ist die unmittelbar folgende Szene, die auf ein Spinnennetz anspielt, expressiv düster. Der aus ebendiesem Traum aufgewachte Iwan verlässt einen halbverkohlten Verschlag im Frontgebiet, bei dem die Bretter in etwa wie ein Spinnennetz konvergieren und sich kreuzen. Das Bild ist seiner Intensität wegen sehr beliebt und findet sich vielfach im Internet. – Etwas unverständlich ist für mich Robert Bird’s Behauptung: „Masha performs a strange mating dance with Kholin full of rather violent sexual innuendo…“ (Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema, S. 62) Einzig die Szene über die Graben kann ich mit etwas gutem Willen als sexuelle Anspielung verstehen: der hängende Körper und der Graben sind wie Penis und Vagina aufeinander bezogen, was sicherlich zur erwähnten Komplexität des Bildes beiträgt.

5 Es gibt eine Quelle, in der sich Tarkowskij ausführlicher zu Iwans Kindheit äußert als in Die versiegelte Zeit; im Moment habe ich den Zugang nur über Internet: http://www.kinematographie.de/HEFT39.HTM#IK, Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963:“ Der Kuss über dem Laufgraben ist, meines Erachtens, verfremdet und assoziiert sehr indirekt einen Kuss am Grabe. Auch das ist wiederum ein tragisches Bild, jedenfalls sehe ich es so. Der Walzer kann ein bräutlicher Rausch sein oder ein anderer, der Puschkinsche ‚Rausch der Schlacht vor eines Abgrunds finstrer Nacht’. Und das war das, was wir brauchten.“

6 Andrej Tarkowskij, a.a.O.: „Wir suchten lange nach einer Stelle für den ‚Tanz der Birken’ und sahen uns Dutzende von Hainen an. Wir fanden dann einen bei Moskau. Der Kameramann Wadim Jussow war begeistert. Während der Aufnahme ging ich neben ihm her und gab durch Händeklatschen den Takt an: ‚Eins-zwei-drei …, eins-zwei-drei …’ Und wirklich, diese sterile Struktur des schönen, stillen Birkenwaldes deutet irgendwie, wenn auch sehr, sehr indirekt, den unabwendbaren ‚Hauch der schwarzen Pest’ an, in dessen Umkreis die Personen des Films leben.“

7 Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Indiana University Press 1994, S. 264

8 Tarkowskij war bei seinen Filmen immer sehr sorgfältig in der Wahl der Gesichter, die nach seinem Eindruck eine Vielzahl an Assoziationen wecken können. Man ist versucht diese Frau mit kurzer, stumpfer Nase und breiten Backenknochen typisch slawisch zu finden. Man kennt diesen Typus etwa von der Marmorbüste Femme slave ou la Mer des Auguste Rodin (1906, Musée Rodin, Paris). Aber auch die langhaarige und ebenfalls blonde Maria Magdalena im Kapitel der russischen Passion mit langer schmaler Nase und schön geschwungenen Augenbrauen ist typisch slawisch.

9 Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow. Die Novelle, Frankfurt a. Main Berlin 1991, S. 140

10 Der dumpfe Aufprall des Einbaums als Gegenargument gegen die Rede von der ewigen Wiederkehr

hat vielleicht eine gewisse Parallele in Tarkowskijs letztem Film. Als der Briefträger Otto von Nietzsches ewiger

Wiederkehr zu reden beginnt und dabei Alexander und Jungchen auf dem Fahrrad umkreist, bindet Jungchen

heimlich das Hinterrad an einem Strauch fest, was den Postboten fast zu Fall bringt.

11 Die Taufe ist mit der wundersamen Rettung der Israeliten vor der Übermacht der Ägypter beim Durchzug durchs rote Meer in Verbindung gebracht worden (so der Apostel Paulus in 1 Kor 10,1-2). In Stalker muss in der Zone ein tiefer Wassergraben durchquert werden, und in Nostalghia durchquert Gortschakow das (freilich trockengelegte) Thermalbad in Bagno Vignoni mit einer brennenden (Tauf)kerze.

12 In der sogenannten Novelle (a.a. O. S. 158) wird ein wenig wahrscheinliches Gemälde Rubljows zum Jüngsten Gericht beschrieben. Er greift dabei auf eine andere Episode des Romans zurück, die Daniil zu Beginn erzählt und die Tarkowskij sehr faszinierte aber dennoch nur als Andeutung Eingang in den Film gefunden hat: wie die Moskauer Frauen, um ihre Stadt vor einem Massaker der Mongolen zu retten, scharenweise ihre Haare opferten. Marfa, im Buch ausdrücklich „Hexe“ genannt, erscheint in der Schar der geretteten Frauen, weil sie durch ihr Opfer und ihre Leiden die Taufe empfangen haben.

13 unter Irma Raush in Wikipedia; 1970 hat sie für die Rolle der Durochka in Andrej Rubljow den Étoile de Cristale erhalten, den Vorgängerpreis zum César.

14 Siehe Anmerkung

15 Siehe das Kapitel über Tarkowskij und die Ikonen, S.

16 Im Kapitel Humor, Ironie und Satire im Werk Andrej Tarkowskijs habe ich diese Szene ausführlicher kommentiert, S.

17 Das ist schon bemerkt worden von Nigel Savio D’Sa in Andrei Rublev, Religious Epiphany in Art, Online Journal of Religion and Film, vol. 3, No 2, October 1999, paragraph 7: „After she runs off with the Tartars, Rublev is fully disillusioned by her baseness, yet she reappears at a moment of epiphanic climax, at the first peal of Boriska’s bell, dressed in vestal attire, her aspect radiant and smiling.” Robert Bird meint ohne weitere Erklärung, die „heilige Närrin“ kehre als eine „Tartarenprinzessin“ wieder. Die Bestimmung als „Tartarenprinzessin“ scheint mir nicht zutreffend; Robert Bird: Andrei Tarkovsky: Elements of Cinema, Reaktion Books, London 2008, S. 101

18 Vida.T Johnson, Graham Petrie: The Films of Andrei Tarkovsky, A Visual Fugue, S. 19

19 Vgl. das Kapitel Tarkowskij und die Kunst des Westens, S.

20 Brief am 25.12.1974 abgedruckt; Andrej Tarkowskij Tagebücher 1970 – 1986 .Martyrolog, Frankfurt Berlin 1989

21 Johnson &Petrie meinen dieser Traum sei „patently and insultingly Freudian“; vielleicht war die Psychoanalyse zur Zeit der Veröffentlichung ihres Buches noch eine heilige Kuh in den Staaten – oder hatte gerade aufgehört eine solche zu sein: eine etwas rätselhafte Aussage; Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky A Visual Fugue, Indiana University Press 1994, p.220. Tiefer schürft Hartmut Böhme

22 Im Aufsatz „Humor, Satire und Ironie im Werk Andrej Tarkowskijs“ habe ich dargelegt, wie das Geräusch der Stagnation in die Filme Tarkowskijs gekommen ist, p.

23 Die Begegnung mit dem kleinen Mädchen

24A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, op. cit. p. 227:“Darüber hinaus aber bleibt Adelaide bis zum Ende eine absolut tragische Gestalt, eine Frau, die rings um sich alle Anzeichen von Individualität und Persönlichkeit erstickt und ohne es eigentlich zu wollen andere Menschen unterdrückt, so auch ihren Mann. Sie ist kaum fähig zu reflektieren, leidet unter ihrer Ungeistigkeit, bezieht aus diesem Leid insgeheim aber auch ihre zerstörerischen Kräfte. In gewisser Hinsicht ist sie die Ursache von Alexanders Tragödie. So wenig sie sich im Grunde für andere Menschen interessiert, so sehr folgt sie dem eigenen aggressiven Instinkt der Selbstbestätigung und Selbstbehauptung. Ihr Wahrnehmungsfeld ist zu klein, als dass sie jenseits davon eine andere Welt erkennen könnte, und selbst, wenn sie diese sähe – sie würde sie nicht begreifen.“

25Layla Alexander Garrett op. cit., ibidem

26Freilich darf man nicht die herbe Kritik der Kollegin im Spiegel vergessen: „Es ist ein Wunder, dass dein Mann dich nicht schon früher verlassen hat!“

27A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, p. 242

28Einerseits hatte Tarkowskij diese aristokratische Tendenz, andererseits sind es die aristokratischen Frauen, die er kritisiert. In „Nostalghia“ heißt die Dolmetscherin Eugenia – die Wohlgeborene. Ihr Mann stamme aus einer vornehmen Familie in Orvieto. Auch der Name von Alexanders Frau Adelaide heißt etymologisch „von vornehmer Art“. Tarkowskij legte sich mit den Simone de Beauvoirs dieser Welt an.

Andrej Tarkowskij und die Deutschen

Iwan

Andrej Tarkowskij wäre in diesem Jahr achtzig Jahre alt geworden. Der große russische Regisseur starb Ende 1986 in Paris an Lungenkrebs und konnte so die Wandlungen in seiner Heimat nicht mehr miterleben. Sein schmales Œuvre von nur sieben vollgültigen Filmen, die buchstäblich und im übertragenen Sinn überwiegend dunkel sind, verdient weitere Erhellungsbemühungen.

Der vorliegende Aufsatz ist das Nebenprodukt einer jahrelangen Beschäftigung mit Tarkowskij, ein Nebenprodukt aus aktuellem Anlass. Ein deutsch-russisches „Kreuzjahr“ 2012/2013 ist anberaumt worden, und der besondere Name bezeichnet die Crux des Unternehmens: bei der Aussöhnung mit Frankreich nach dem Krieg wagte man immerhin von „Freundschaft“ zu reden, wenn auch nicht immer mit vollster Überzeugung. Mit Russland ist das anders. Nach den Ungeheuerlichkeiten des Krieges (und im Anbetracht der politischen Großwetterlage) ist man doch etwas weniger forsch. Diese Untersuchung ist zu verstehen als ein Beitrag dazu, sich mit der Vorstellung der Befreundung anzufreunden.

Der Stil der Darstellung ist mehr erlebnishaft-emotional als diskursiv und reicht, vielleicht von Tarkowskijs Stil ermutigt, vom Plakativen bis zum Subtilen, verlangt also dem Leser einiges an Geduld ab. Beschreibungen können bestenfalls so evokativ sein, Bilder in Erinnerung zu rufen, aber selbstverständlich das eigene Anschauen der Filme nicht ersetzen. Schon allein aus diesem Grunde werden dienende Texte dieser Art nie die Auflagenstärke von Romanen erreichen. Tarkowskij wollte, dass der Betrachter seine Filme mit der eigenen inneren Welt in Beziehung setzen sollte, was aber nicht als Einladung zu einer völligen Beliebigkeit des Diskurrierens missverstanden werden darf1.

Explizit ist das Thema der Begegnung mit den Deutschen in Tarkowskijs erstem Film Iwans Kindheit (1962), der vom Kampf der Roten Armee gegen die deutsche Wehrmacht handelt. Thema ist in diesem Film der Hass eines Kindes auf die Deutschen. Und doch bleibt nicht nur Bitterkeit am Ende des Filmes. Der Film wurde bekanntlich bei der Biennale von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet und Tarkowskij wurde über Nacht zu einer Berühmtheit. Koryphäen der westeuropäischen Linken wie Jean-Paul Sartre (pro) und Alberto Moravia (contra) kreuzten seinetwegen die Klingen.

Andrej Rubljow, Tarkowskijs opus magnum, kann man, mit Ausnahme des vorletzten Kapitels, gleich zur Seite legen. Die Episode über das Gießen einer großen Glocke scheint von Schiller zumindest angeregt zu sein. Da eine andere wichtige Episode, die große historische Schlacht auf dem Kulikowo Pole, nicht gefilmt werden konnte, wurde die Episode mit der Glocke noch bedeutsamer. Denn die siegreiche Schlacht auf dem Schnepfenfeld (1380) hatte die Russen gegen die mongolische Streitmacht vereint und war ein Symbol für die Einheit der Nation (nachdem die Zwietracht der Russen im Film sehr drastisch zur Darstellung kommt). Umso wichtiger wurde der Glockenguss, eine friedliche Unternehmung großen Stils, die auch Eintracht symbolisieren konnte.

In Solaris (1972) gibt es einen halben Witz über Luther und zwei halbe Sätze zu Goethes Faust. Wenn man sich vor Augen hält, dass ein anderer Russe, der von Tarkowskij geschätzte Alexander Sokurow, einen ganzen Film über Faust (2011) mit deutschsprachigen Schauspielern realisiert hat, ist das eher dürftig. (In der Tat würde Sokurows Film eine eigene Untersuchung notwendig machen.) Dennoch meine ich, dass auch beiläufige Bemerkungen Tarkowskijs, selbst wenn sie ursprünglich nicht einmal von ihm stammten, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verdienen. Im autobiographischen Spiegel (1975) wird wieder, wie in Iwans Kindheit, das Schicksal eines Kindes als eine der furchtbarsten Spuren des Krieges zum Thema gemacht. Die Musik von Johann Sebastian Bach beginnt eine größere Rolle zu spielen. Im Unterschied zu Sokurow, der in dem kurzem Dokumentarfilm Sonate für Hitler (1979) mit der Musik Bachs sarkastisch eine Diskrepanz, eine schneidende „Dissonanz“ in der deutschen Kultur aufzeigt, hätte Tarkowskij vermutlich die Musik Bachs nie dazu hergegeben; bei ihm wird sie immer mehr zur „Medizin“.

Für Stalker (1979) wurde eine Beziehung zur deutschen Romantik behauptet. Die Beziehung zu einem Nachfahren der deutschen Romantik, zu Hermann Hesse, scheint mir in diesem Film bedeutsamer.

Unserer Thematik entsprechend beschränkt sich unsere Untersuchung des sehr komplexen Films Nostalghia (1983) darauf, wie Tarkowskij an prominenter Stelle mit einem anderen großen deutschen Komponisten, mit Ludwig van Beethoven, umgesprungen ist.

In seinem letzten Film Offret (1986) nimmt Friedrich Nietzsche mit der Lehre von der ewigen Wiederkehr einen zentralen Raum ein. Das letzte Wort hat aber einmal wieder Bach.

Biographisches wird keine große Rolle spielen, denn hier interessiert, wie deutsche Menschen und deutsche Kultur in die Filme, in die Kunst eingegangen sind. Nur so viel vorab. Schon in der Kinderzeit wurde dem vielseitig begabten Jungen von der allein erziehenden, literarisch gebildeten Mutter die russische Literatur nahe gebracht. Der Vater, der Lyriker und Übersetzer war, hatte weitläufige Kenntnisse nicht nur in der Literatur Europas, d.h. vor allem auch der griechischen und römischen Antike, sondern auch in der Literatur der asiatischen Völker der damaligen Sowjetunion.

Marina, die Schwester, sagte von ihrem Bruder, dem kleinen drahtigen Kerl, der fast immer unter Strom stand, oder der, wie man heute sagt, „hyperaktiv“ war, nur beim Lesen habe er stillhalten können2. Das erinnert an die romantische Forderung Rimbauds, ein Buch müsse so in den Bann schlagen, dass man sogar einen eventuellen Orkan über seinem Kopf vergisst. (Ich habe das vor rund 40 Jahren beim Herumblättern in einer Buchhandlung gelesen und in späteren Jahren, als ich es suchte, nicht mehr finden können.) In den erzwungenen, langen Pausen zwischen seinen Filmprojekten hat Tarkowskij viel und intensiv lesen können. Was waren seine Vorlieben in der deutschen Literatur? Wie hielt er es mit unseren Dichterfürsten? Meine steile These ist wie gesagt, dass im Rubljow Schillers Lied von der Glocke beim vorletzten Kapitel des Films Die Glocke Pate gestanden hat. Der Faust, nicht Goethe, wird in Solaris beiläufig erwähnt. In seinem Buch: Die versiegelte Zeit3 zitiert Tarkowskij ein rätselhaftes Goethewort, das sich nicht so ohne weiteres finden lässt. Goethe habe Recht, wenn er sage, es sei so schwer ein gutes Buch zu lesen, wie eins zu schreiben. Tarkowskij wollte das auf die Filmkunst übertragen wissen. Die etwas plumpe Schmeichelei, die um geneigte, nicht eingenickte Leser seiner Filmwelt wirbt und einen gewissen Grad der Verzweiflung verrät, klingt nicht sehr nach dem Olympier, der sich auf ein gerütteltes Maß an deutscher Nüchternheit verlassen konnte und sich kaum eine solche Blöße gegeben hätte. Eine verbürgte Aussage des alten Goethe lässt wegen ihrer sarkastischen Schärfe aufhorchen: „Die guten Leutchen wissen nicht, was es einem an Zeit und Mühe kostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dafür gebraucht und kann auch jetzt nicht sagen, dass ich am Ziel wäre.“4

Des Weiteren findet sich eine Aussage Goethes, dass man die Grammatik verlernen müsse, um gut zu schreiben5. Das ist bezeichnend für Tarkowskijs Vorliebe für „Dialektik“ und das, was von dem russischen Formalisten Viktor Šklovskij vor allem bei Puškin und Tolstoj das Prinzip der ostranenie, „Defamiliarisierung“ genannt wurde, begegnet in Tarkowskijs Filmen auf Schritt und Tritt6. Außerdem ein Satz, den Tarkowskij sicher gern Interview-Partnern als Denkzettel mit auf den Weg gegeben hätte: Um eine kluge Antwort zu bekommen, muss man eine kluge Frage stellen7. In seinen Tagebüchern finden sich weitere, vereinzelte Goethe-Zitate, von denen unklar ist, wie er zu ihnen gekommen ist. Ein eigentlicher Goethe-Leser scheint er nicht gewesen zu sein. Am 27.1.1976 notierte er folgendes Zitat Goethes: „Ein Werk ist umso besser, desto unzugänglicher es für die Vernunft ist.“ Das hätte man auch gerne ausfindig gemacht, zumal es eher etwas untypisch wirkt. Schließlich noch die etwas schlichte Weisheit, um einen Dichter zu verstehen, müsse man sein Land kennen, die aber Tarkowskij sehr wichtig war. (28.4.1978) Er hat später oft gegen einen oberflächlichen Optimismus gewettert, der sich das Verständnis einer anderen Kultur zu leicht vorstellte.

Besonders anfangs nimmt in den seit 1970 geführten Tagebüchern die Lektüre von Hermann Hesses Glasperlenspiel und von Thomas Mann die Joseph-Tetralogie breiten Raum ein. Letztere wollte der Russe für längere Zeit tatsächlich verfilmen8. Früher schon am, 15. August, erwähnte er, dass er „wieder“ Thomas Mann lese, einen „genialen Schriftsteller“. Der Tod in Venedig sei grandios, trotz des etwas absurden Sujets. Nicht nur Thomas Mann, auch andere literarische Schwergewichte, vor allem Dostojewskij, hatte sich der Russe für mögliche Verfilmungen ausersehen. Warum eigentlich? Dem von ihm sehr geschätzten georgischen Kollegen Otar Iosselani wäre so etwas nie in den Sinn gekommen. Hier kann man nur Vermutungen anstellen. Vielleicht suchte er instinktiv nach einem starken „Kontrahenten“, um nicht restlos seiner eigenen, wild wuchernden Subjektivität anheim zu fallen. In der „dialektischen“ Auseinandersetzung mit der Vorlage blieben ohnehin nur Trümmer davon übrig. Das hat Stanislaw Lem, der polnische Autor von Solaris, leidvoll erfahren müssen. In der alttestamentarischen Gestalt des von seinen neidischen Brüdern gehassten „Träumers“ Joseph mochte Tarkowskij sich selbst wieder erkennen. In den folgenden zehn Jahren bewahrheiteten sich auch Neid und Hass der Kollegen.

Wie den Tagebüchern zu entnehmen ist (10.3.1973), war Tarkowskij einmal Anfang der 70er Jahre mit einer sowjetischen Kulturdelegation in Ost-Berlin und hat neben dem Pergamon-Museum einige Theater-Aufführungen zu sehen bekommen, zu denen er trocken bemerkte, dass die Langeweile sicher nicht nur mit seinen mangelnden Sprachkenntnissen zu tun gehabt habe. Nicht nur Ost-Berlin, aber vor allem, war damals Bert-Brecht-Country (mit höflicher Verneigung in Richtung Heiner Müllers). Es gibt kein direktes Zeugnis einer Stellungnahme Tarkowskijs zu Brecht. Außer Genie und Kleinwüchsigkeit hatten die beiden Männer wenig gemein. Brecht muss sich in den Augen Tarkowskijs disqualifiziert haben, weil er gläubiger Marxist war.

Unter Tarkowskijs Filmen ist vor allem ist Iwans Kindheit (1962) zu nennen. Erwähnen möchte ich allerdings vorher einen Film, den Tarkowskij als Student gemeinsam mit Alexander Gordon, seinem späteren Schwager, 1959 „Сегодня увольнения не будет..Heute gibt es keinen Feierabend“ realisiert hatte9. Der Film ist einige Jahre zum Jahrestag des Sieges im sowjetischen Fernsehen gezeigt worden. Es ging um nichts weniger als die Evakuierung der Stadt Kursk, weil ein gewaltiges Arsenal von aus dem Krieg übrig gebliebenen deutschen Bomben unschädlich gemacht werden musste. (Der Name Kursk hat zumindest im Ohr von Militärhistorikern einen besonderen Klang. Denn am so genannten „Kursker Bogen“ kam es im Sommer 1943 zur größten Panzerschlacht des Krieges und damit aller Zeiten.) Bei dieser Arbeit war noch keine Spur von Tarkowskijs späterem, visionärem Stil zu finden. Doch gehe ich davon aus, dass für den Traumtänzer auch diese Aktion eine tiefere Bedeutung hatte. Sein Film Iwans Kindheit kann als ein Versuch gedeutet werden, geistige „Blindgänger“, zurückgebliebene Bomben zu entschärfen.

Iwans Kindheit (1962)

Der junge Regisseur übernahm die Regie von einem Kollegen, der das Projekt vorläufig in den Sand gesetzt hatte. Das erinnert von ferne an Michelangelo, der seinen David aus einem Block schuf, der von Vorgängern verhauen worden war. Vielleicht sollte auch das von Tarkowskij später für die Filmkunst gebrauchte Bild von der „gemeißelten Zeit“ in diese Richtung weisen. Der Film basierte auf einer literarischen Vorlage von Iwan Bogmolow, die in dokumentarisch nüchternem Stil von den Großtaten minderjähriger sowjetischer Spione hinter den feindlichen deutschen Linien berichtete. Tarkowskij nahm von vorne herein einschneidende Änderungen vor, indem er der düsteren Kriegsszenerie sonnendurchflutete Traumsequenzen gegenüberstellt, die vor allem glückliche Kindheitserinnerungen des 12-jährigen Iwan zum Inhalt haben. Der Film beginnt mit der Rückkehr Iwans nach unvorstellbaren Strapazen von der deutschen Seite des Dnepr, der damals den Frontverlauf bildete. Das Leben des schmächtigen blonden Jungen ist vom Krieg, genauer gesagt von den Deutschen zerstört worden, er hat seine ganze Familie, Vater, Mutter und kleine Schwester verloren. Der Hass, mit dem sein ganzes Sinnen und Trachten auf Rache an den Deutschen geht, bekümmert die Männer der Truppe um ihn herum. Am gesamten Frontabschnitt herrscht zurzeit trügerische Ruhe. Da nicht ganz klar ist, was mit Iwan weiter geschehen soll, ergeben sich für ihn einige Tage erzwungener Untätigkeit. Hauptmann Cholin fordert Leutnant Galzew auf, für Iwan ein paar illustrierte Hefte „mit vielen Bildern“ zu besorgen. Der kommt mit einer großen Holzkiste nach vorn und bietet Iwan verschiedenes an. Der Junge winkt mehr gelangweilt als belustigt ab: er hat im HQ drei Tage lang (!) die Zeit damit totgeschlagen, diese Illustrierten durchzuschmökern. Aber da ist doch etwas, was er noch nicht kennt: ein deutsches Kunstbuch mit Drucken von Albrecht Dürer. Das weckt das Interesse Iwans: „Mit Bildern?“

Man kann nur hoffen, dass sich diese Szene als prophetisch erweisen mag und das junge Kinopublikum, ermüdet von der üblichen Kinounterhaltung, die durchaus dem zerstreuten Durchblättern von Illustrierten vergleichbar ist, sich „nach ewig und drei Tagen“, so wie Iwan den Holzschnitten Dürers, der faszinierend fremden, schwarzweißen Welt etwa dieses Filmes zuwenden wird.

Es muss dahingestellt bleiben, wie wahrscheinlich es ist, dass sich ein solches Buch an die Front verirrt hatte und so als Beutegut in die Hände der Russen fallen konnte. Hoch anzurechnen ist dem russischen Regisseur, dass er inmitten der hasserfüllten Welt des Krieges ein solches Element einführt, bei dem die Deutschen, die „Fritz“, nicht nur als Feinde und Nazis, sondern als Kulturnation in den Blick kommen10. Freilich macht Tarkowskij so auch die Fallhöhe dieser Kultur deutlich. Die erste Abbildung, die sich Iwan eingehender anschaut, ist Dürers großer Holzschnitt zur Apokalypse (1498), Die apokalyptischen Reiter. Eine gewisse Komik kommt ins Spiel, weil Iwan die Druckgraphik prinzipiell nicht von Fotografien unterscheidet und behauptet, eine Gestalt wie den im Vordergrund auf einer klapprigen Mähre reitenden „Tod“ mal auf einem Motorrad gesehen zu haben. „Sieh nur wie sie auf den Leuten rumtrampeln!“ Auf Leutnant Galzews etwas lahmen Kommentar, dass sei wohl bildhaft gemeint, stößt Iwan bitter hervor: „Ach ja? Ich kenne sie!“ Als Iwan erfährt, dass ein Porträt einen Schriftsteller darstelle11 meint er, dass könne nicht sein. Die Deutschen verbrennen Bücher, das habe er selbst gesehen. Lange danach sei noch die Asche in der Luft umher geflogen. Aber wenn der Mann vor 400 Jahren gelebt habe, dann vielleicht. Hier hat sich Tarkowskij vielleicht eine poetische Freiheit erlaubt. Mir ist nicht bekannt, dass sich Wehrmacht oder SS in den besetzten Gebieten noch mit Quisquilien wie Bücher-Verbrennungen abgegeben haben.

Während dieser Bildbetrachtungen werden wir ständig abgelenkt: wir sehen über dem Bild Leutnant Galzews Augenpaar zu dem Tisch links hinüberspähen, an dem Cholin mit Katasonow sitzt, der ein defektes Grammofon repariert. Sie besprechen die Einzelheiten ihrer bevorstehenden Expedition auf die deutsche Seite des Dnepr, bei der sie Iwan noch einmal auf eine Mission begleiten wollen. Zuletzt wird noch Dürers ominöses Blatt Ritter, Tod und Teufel, der Kupferstich von 1513, gezeigt – ohne jeden Kommentar. Man sollte sich von der Beiläufigkeit dieses Zitats nicht täuschen lassen. Tarkowskij war – an seinen guten Tagen – ein so selbstbewusster Künstler, dass er davon ausging, seine Filme würden Gegenstand vertiefter Studien werden. Außerdem sind sich Tarkowskij und seine Freunde darin einig, dass solche bildhaften Bezüge viel wichtiger sind als die Handlung des Films, von der der Regisseur nur scheinbar viel Aufhebens macht. Es bleibt also dem Betrachter überlassen, das Bild nachzuschlagen und sich über das dämonische Grinsen des Ritters zu wundern. Die Abbildung des berühmten Meisterstichs wird zunächst vor unseren Augen „vom Kopf auf die Füße gestellt“, was wohl kein Marxzitat ist, sondern auf die generelle Widerständigkeit von Kunst hinweisen soll, bei der man sich um die richtige Einstellung bemühen muss. In ähnlicher Bedeutung wird im Andrej Rubljow (1969) dem Besucher Kyrill der große Ikonenmaler Theophanes der Grieche vorgestellt. Er liegt in seiner verlassenen Werkstatt mit dem Kopf uns entgegen auf einer Bank.

Der Stich Ritter, Tod und Teufel ist in der deutschen Tradition durchaus prominent. Friedrich Nietzsche machte ein Exemplar ausfindig, schenkte es Richard Wagner 1870 zu Weihnachten und sah in dem Ritter einen Schopenhauer, der keine Hoffnung habe, also in gewisser Weise seinen „heroischen Nihilismus“ vorgebildet12. Nicht von ungefähr hat Erwin Panofsky in seiner berühmten 1943 in den USA publizierten Dürer-Monographie gerade auch für dieses Werk beträchtlichen akademischen Aufwand getrieben, um es für die Sache des Humanismus zu retten. Eine Trumpfkarte, die er spielen konnte, ist das Enchiridion militis Christiani des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam von 1503. Es spricht einiges dafür, dass die Schrift Dürer, der kein Latein las, von seinem engsten Freund, dem Humanisten Willibald Pirckheimer, nahe gebracht worden ist. In dieser Schrift heißt es, dass der christliche Krieger sich von Schreckgespenstern nicht beirren lässt. Freilich kann ich mir nicht helfen, das Lächeln des Ritters befremdet in dieser Umgebung. Panofsky sprach von „almost sardonic self-assurance“13. Was ist daran so christlich oder humanistisch? Außerdem hat das Blatt eine zwielichtig-finstere Ausdrucksqualität, die sich sogar den Tieren mitteilt. Das Ross weist voraus auf die behexten Pferde in den Kupferstichen von Dürers Schüler und Freund Hans Baldung Grien.

Eine bestimmte Tradition sieht in diesem Meisterstich eine Darstellung der „vita activa“, während der Hieronimus im Gehäus die „vita contemplativa“ darstelle. Der argentinische Dichter Jorge Luis Borges, der unter dem Vorwurf litt ein Bücherwurm zu sein, besang den germanischen Tatmenschen (Faust: „Am Anfang war die Tat!“) „…Eres valiente Y no serás indigno ciertamente, Alemán, del Demonio y de la Muerte.” Nicht unwürdig des Teufels und des Todes… Borges konnte gut schwärmen, kam doch zur historischen noch die geographische Distanz. Von einem Russen wird man sich diese Art der Unbeschwertheit nicht erwarten können, hat man doch dort wiederholt die “christlichen Krieger” aus deutschen Landen kennen gelernt. Sergej Eisensteins Alexander Newskij (1938), der die berühmte Schlacht der Russen gegen die Ritter des Deutschen Ordens auf dem Peipussee zum Gegenstand hat, war Tarkowskij selbstverständlich vertraut.

Auch Goethes Faust, Zeitgenosse von Dürers Ritter, fürchtete “weder Hölle noch Teufel”, was dann aber zur Kumpanei mit Mephisto führte. Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass Tarkowskij von tief ambivalenten Bildwerken angezogen war, die widersprüchliche Reaktionen hervorrufen. Mit seiner Stellungnahme spricht der Betrachter gewissermaßen sich selbst das Gericht. Tarkowskij hat das in einem rätselhaften Passus seines Buches Die versiegelte Zeit zu einem dem Leonardo zugeschriebenen weiblichen Bildnis, der sogenannten Ginevra de’Benci ausgeführt14.

Der Dürer-Holzschnitt mit den apokalyptischen Reitern hat ein filmisches Nachspiel. Die Pferde treten das Volk in den Staub, aber wichtig für einen so empfindlich auf Textur reagierenden Künstler wie Tarkowskij sind auch die losgetretenen runden Steine überall am Boden. Das stellt eine Beziehung zu einer nicht allzu entfernten Bildersequenz her, einer poetisch verklärten Erinnerung an die unbeschwerte Zeit vor dem Krieg, die aber wie auch die anderen Traumerinnerungen nicht einfach nur sonnig ist. Wir sehen Iwan auf einem mit Äpfeln beladenen kleinen Lastwagen zusammen mit einem Mädchen, wahrscheinlich seiner jüngeren Schwester. Es regnet und gewittert, aber davon unbeeindruckt sucht Iwan den schönsten Apfel, den er seiner Schwester schenken will15. Sie lehnt ab und er sucht weiter: gewissermaßen eine poetische Interpretation männlicher Kulturanstrengungen. In einem eigenartigen Reigen kommt mehrfach das Gesicht des Mädchens ins Bild, erst lachend und regenüberströmt, dann ernster und schließlich trocken und traurig. Dann die Katastrophe: ganz unvermittelt stürzt die Karrenladung Äpfel in den Sand am Strand. Hier also liegt die Beziehung zu den Steinen auf dem Holzschnitt im mit Äpfeln übersäten Sand. Der schwarze Kopf eines Pferdes ragt von rechts oben vor dem sonnenbeschienenen, nach dem Schauer dampfenden Strand ins Bild: wahllos nagt es an den Äpfeln, und so auch andere Pferde. Gerade im Gegensatz zu dem zuvor liebevoll Äpfel auswählenden Iwan (gewissermaßen eine Umkehrung der Geschichte von Adam und Eva) wird dies zu einem Bild für das fühllos waltende Fatum, für die zahllos im Krieg zerstörten jungen Leben. Tarkowskij selbst hat diese dunkle Dimension der Szene angedeutet16. Dessen ungeachtet sehen viele Betrachter sie einfach nur als zauberhaft und poetisch, was sie zweifellos auch ist (und Tarkowskijs oft sichtbare ästhetische Bewunderung für Pferde bestätigt dies), aber eben doch nicht nur. Ob der Verweis auf Dürers Apokalypse schon zu diesem frühen Zeitpunkt das spätere Interesse Tarkowskijs an der Thematik der Apokalypse ankündigt, wage ich nicht zu behaupten17. Diese ganze hier betrachtete Traumsequenz wäre dann so etwas wie die Menschheitsgeschichte im Zeitraffer: von Adam und Eva bis zum Ende der Welt. Das Wetterleuchten der abwechselnd im Positiv und im Negativ erscheinenden Alleebäume stände für die Wechselfälle der Geschichte, der die Äpfel wählende Junge für die vom Eros beflügelte Suche nach dem Schönen. (In für Tarkowskij charakteristischer Weise ist das Mädchen auf der empfangenden Seite und spornt den jungen Mann durch hohe Ansprüche zu immer neuen Anstrengungen an.) Die zunehmende Trauer des Mädchens stände dann für das Wissen um den kommenden Tod. Tarkowskij wollte bekanntlich vom poetischen Bild, dass es die „Welt in einem Wassertropfen“ spiegelt18.

Der Unterstand der Russen ist in einem ausgedienten Kirchlein untergebracht. In für die Deutschen besseren Zeiten diente es offenbar als Gefängnis. Jemand hat folgende Sätze in die Decke gekratzt: „Wir sind acht. Keiner von uns ist über 19. In einer Stunde werden wir erschossen. Rächt uns!“ Einmal allein in der Höhle, gellen diese Worte Iwan in den Ohren. In einer Rachefantasie schleicht er sich an einen an der Wand hängenden, vermeintlichen Wehrmachtsmantel an, der im Licht seiner Taschenlampe zu beben scheint. Aber in Wirklichkeit ist es Iwan, der zittert. Und das sagt schon alles: in wildem Schluchzen bricht seine Anklage zusammen.

Ein von Tarkowskij und seinem Kameramann nach langer Suche in Moskaus weiterer Umgebung endlich gefundener Birkenhain19 steht im Film u. a. für die Sehnsucht nach einem lichteren Leben. Die Sanitäterin taumelt nach einem unverhofften Wiedersehen mit einem jungen Soldaten (kein geringerer als Andron Michalkow-Kontschalowskij) selig im Walzerrhythmus durch den Hain. Dann ein harscher Bruch in der Musik und der jähe Einbruch der grausamen Realität des Krieges wird mit dem nächsten Bild gezeigt:

Am gegenüberliegenden Ufer haben die Deutschen zwei an einem Ast aufgeknüpfte russische Späher aufrecht hingesetzt mit einem Schild davor, auf dem in fehlerhaftem Russisch: „Willkommen!“ steht. Es ist der von KZ-Toren („Arbeit macht frei“) sattsam bekannte Sinn für Humor, der im Naziregime wirklich nicht mehr als eine Fußnote war, für den man sich aber als Deutscher auch schämen kann.

Hauptmann Cholin und Galzew bringen Iwan in einer Nacht und Nebelaktion ans andere Ufer. Eine Patrouille Deutscher nähert sich. Man hört die knarrenden Stimmen zweier Landser und einen der wenigen Sätze, die auch im Original deutsch sind: „Das Denken soll man den Pferden überlassen.“ Im Anbetracht all dessen, was noch kommen sollte, könnte man das als eine beherzigenswerte Redensart vom Volk der Dichter und Denker deuten.

Nach ihrer Mission entspannen sich Cholin und Galzew am leise lodernden Ofen und eine beklemmende Stille stellt sich ein. Plötzlich schleudert Cholin einen Hocker in Richtung Zuschauerraum. In der nächsten Szene ausgelassene Siegesgesänge sowjetischer Soldaten in Berlin und wir sehen von unten wie einer von ihnen in die Höhe geschleudert wird: man lässt ihn hochleben. Der Film hat einen gewaltigen Satz ans Kriegsende gemacht. Tarkowskij will seine Zuschauer erschüttern und macht das buchstäblich hier: indem er einen Hocker nach ihnen schleudert und sie im nächsten Moment in die Luft wirft. Es folgen seltene Dokumentaraufnahmen aus sowjetischen Archiven. Ein älterer Herr zeigt den Russen die Leichen von Goebbels und seiner Familie. Dr. Goebbels hat sich mit Benzin übergießen und anzünden lassen, sein Kopf ist völlig verkohlt, aber in den Proportionen unverkennbar. Seine Frau und die vergifteten sechs Kinder, die Musterfamilie des Reiches, sind säuberlich neben ihm aufgereiht. Obwohl in Film und Fernsehen unablässig gemordet wird, kommt man der Faktizität des Todes selten so nahe. Andere Dokumentaraufnahmen zeigen direkt das Einschussloch am nackten Körper eines Kindes. Ein Nazi, der sich gehängt hat, erinnert an den hängenden „Wehrmachtsmantel“ im Unterstand. Im Vordergrund ein gestürzter Reichsadler aus Gips und der Blick geht aus einem leeren gotischen Spitzbogenfenster hinaus. Vielleicht übertreibt man, wenn man daran erinnert, dass Goethes Faust ein Studierzimmer mit gotischem Gewölbe hatte. Vermutlich wollte Tarkowskij nur allgemein auf das exotisch-deutsche historische Ambiente hinweisen, mit einem Zitat, das im Falle Berlins nur neugotisch sein konnte. Unablässig rieselt Asche von oben: „schwarzer Schnee“ (Maja Turowskaja), der auf Iwans Schilderung der Bücherverbrennung zurückverweist. Eigentlich erinnert es mehr an zu Boden taumelnde Falter. In Iwans erstem, wunderschönem Traum, mit dem der Film anhebt, verfolgt er den Flug eines Schmetterlings und beginnt selbst zu fliegen.

Dann folgt eine nicht dokumentarische Szene in einem völlig zerstörten Gefängnis der Gestapo. Einige Russen, unter ihnen der uns vertraute Leutnant Galzew, sichten überall wüst verstreute Akten mit Fotos von Hingerichteten. „Erschossen, erschossen, erhängt, erhängt.“ Über alle Mordtaten hat man akribisch Buch geführt. „Sic transit gloria mundi.“ Es ist vor allem Preußens Gloria, die da in Fetzen liegt. Das alles ist furchtbar deutsch und auch furchtbar lächerlich: Für wen dieser ganze bürokratische Überschwang? Hitler, die schlampige Künstlernatur, interessierte sich sicher nicht dafür. Dann eine schrille Fanfare, als Galzew die Akte mit dem Bild Iwans entdeckt, wobei uns der Regisseur mit charakteristischer Härte nichts erspart: das höhnische Geleit der Schergen zur Hinrichtung hören wir und, unrealistischerweise, rollt Iwans Kopf wie ein gefallener Kreisel. Wir sehen, als er anhält, Iwans hasserfüllten Blick in seinem geschundenen Gesicht.

Der von Aktenpapieren übersäte Boden erinnert an gefallenes Laub, und das wiederum stellt eine Beziehung her zu den ausgestreuten Äpfeln. Wir haben nur das Schicksal eines Jungen näher kennen gelernt, von so vielen anderen wissen wir nichts.

Dann noch mal eine sonnendurchflutete Traumsequenz, die keine sein kann. Kinder stehen im Kreis am sandigen Strand vielleicht des schwarzen Meeres und Iwan zählt ab. Nacheinander fallen sie in den weißen, warmen Sand und Iwan bleibt übrig. Sie spielen Verstecken und der Anschlagpunkt ist ein dicker, knorriger, wohl hohler Baum mit expressiv verdrehten Ästen, den Tarkowskij wer weiß wo aufgetrieben hat. Iwan versucht die Versteckten ausfindig zu machen und entdeckt schließlich sein Schwesterchen hinter dem Wurzelwerk eines liegenden Baumes. Er scheint sie zu verfolgen, beide rennen und lachen selig. Dann sehen wir ihren Lauf aus der Ferne, er holt sie ein und überholt sie: zu verführerisch flirrt das Wasser im Sonnenlicht. Das Religiöse hat den Regisseur schon früh fasziniert. Einigermaßen unvermittelt taucht dann das Ziel des toten Baumes auf und das Bild wird schwarz: Ende. Nach meinem Eindruck eine einfache Verrätselung, weil Tarkowskij sich nicht in die Karten seiner religiösen Sehnsucht schauen lassen wollte. Er hat in einem Interview kurz nach Fertigstellung des Films auf die Frage, ob er den Film auf einer „leichten Note“ enden lassen wollte, mit der Schroffheit, die bei ihm immer wieder mal aufblitzte, geantwortet, dass das doch wohl etwas banal sei. Bei Fernsehnachrichten war es vor einiger Zeit üblich geworden, nach besonders grausigen Berichten irgendeine amüsante Bagatelle folgen zu lassen, die aufheitern sollte. Das hinterlässt immer einen faden Nachgeschmack, weil es in der Tat banal ist. Doch war Tarkowskij davon überzeugt, dass Kunst allerdings ihrem Wesen nach optimistisch sei. Das sagte er, als sei das eine Selbstverständlichkeit, über die allgemeine Einigkeit bestünde. Dabei stand er mit dieser Überzeugung in der ihm zeitgenössischen Kultur ziemlich allein auf weiter Flur. Denn der Optimismus, den er meinte, hatte wohl tiefere Wurzeln als der für die Sache des Sozialismus20. Die Kinder fallen beim Abzählen in den Sand: ein Bild für den Tod; man spielt Verstecken und findet sich wieder! Das ist den säuberlich aufgereihten Kinderleichen der Familie Goebbels gegenübergestellt, deren Tod über jeden Zweifel erhaben ist…eine unerhörte Kühnheit!

Vergleicht man Iwans Kindheit mit dem sehr viel späteren Film von Elem Klimow: Komm und sieh, (Иди и смотри 1985), der aus der Perspektive eines minderjährigen Partisanen in Weißrussland erzählt wird, so muss man sagen, dass Tarkowskij beim Entschärfen der Bomben sorgfältiger vorgegangen ist. Bei youTube kann man ein Interview mit dem vornehmen Klimow einsehen, bei dem er mit müden und uneitlen Handbewegungen zu diesem Film Rede und Antwort steht. Ursprünglich sollte der Film Töte Hitler! heißen und gemeint sei der „Hitler in uns“. Aber das ist wohl doch mehr ein frommer Wunsch; lediglich die allerletzte Einstellung des Films wirkt in diese Richtung21. Ansonsten bleibt doch sehr viel Hass auf die Deutschen, oder in unserem Fall, deutscher Selbsthass übrig. Klimow hatte als Kind furchtbare Kriegserlebnisse. Tarkowskij zeigt nie die deutschen „Frontschweine“, freilich hat seine Behandlung der Thematik eine Tiefendimension, die auch hier und da nah an den Nerv kommt. Iwans Leben ist vom Hass zerstört und das ist neben dem hoffnungsvollen Ausblick die Botschaft des Films.

Andrej Rubljow (1969)

In der von Andrej Tarkowskij gemeinsam mit dem bald in die USA emigrierten Regisseur Andrej Michalkow-Kontschalowskij verfassten literarischen Vorlage für den Rubljow-Film gibt es eine Randbemerkung über die Deutschen, die keinen Eingang in den Film gefunden hat. Die Deutschen kennen die Schwermut nicht, heißt es da: eine exotische Kuriosität für die Russen22. Da wird mancher Deutsche bass erstaunt sein und mancher deutsche Trauerkloß schmollen. Immerhin war es ein Deutscher (Jean Paul), der den Begriff „Weltschmerz“ geprägt hat. Aber das war ein gesamteuropäisches, geistesgeschichtliches Phänomen, sozusagen ein nachchristlicher Katzenjammer, der sich an Dichtern – wie alle Künstler Seismographen – als ersten zeigte. Die slawische Schwermut ist dagegen wie das tägliche Brot meist selbstverständlich. Im Unterschied zum „Weltschmerz“ verträgt sich diese Melancholie durchaus mit einem tief sitzenden Optimismus, wie gerade Tarkowskijs Filme zeigen können.

Die Glocke ist der Titel vom letzten Kapitel in Tarkowskijs Rubljow, mit fast vierzig Minuten ein Film im Film, der überdies an der Oberfläche mit dem Ikonenmaler nichts zu tun hat, sondern das Abenteuer eines jungen Glockengießersohnes erzählt, der verwegen vorgab das Geheimnis der Glockengießerkunst zu kennen und beim Wort genommen wird.

Bedienstete des Großfürsten sind zu Pferd unterwegs in entlegenen, von der Pest entvölkerten Dörfern, um nach Glockengießern zu suchen. Der Junge wittert die Möglichkeit, dem verpesteten Nest zu entkommen und behauptet, von seinem Vater auf dem Sterbebett das Geheimnis der Glockengießerkunst erfahren zu haben. Um nicht ganz unverrichteter Dinge zum Fürsten zurückzukehren, nehmen die Männer ihn mit. Boriska verschafft sich mit zähem, unbeugsamem Willen bei den anderen herbeigeholten Handwerkern, fast alle viel älter und erfahrener als er, allmählich Respekt und schmiedet die Gruppe im Laufe eines Jahres (wir sehen den ganzen Zyklus der Jahreszeiten vorbeiziehen) mit seinem nie verlöschenden Eifer zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammen.

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Tarkowskij Schillers berühmtes Lied von der Glocke kannte und davon für seinen Film angeregt wurde. Schillers Gedicht war immens populär und schon Mitte des 19. Jahrhunderts in etliche europäische Sprachen, unter anderen eben auch auf Russisch, übersetzt worden. Tarkowskij ist in einem literaturbeflissenen Haushalt aufgewachsen und war auch mit vergleichsweise entlegeneren Provinzen der deutschen Literatur vertraut.

Schiller ging fast zehn Jahre um mit dem Projekt dieses Liedes, das erst 1799 veröffentlicht worden ist. Er wollte ein Symbol der noch längst nicht erreichten Einheit der deutschen Nation schaffen: die Glocke hieß Concordia. Die Geschichte hat Schiller recht gegeben: 150 Jahre lang war das Gedicht ein Kernstück des Kanons deutscher Literatur und ist mit vielen „geflügelten Worten“ in die Umgangssprache eingegangen. In seiner unnachahmlichen Ironie bemerkte Thomas Mann einmal angesichts eines Hofschauspielers, der bei einer Festveranstaltung Die Glocke rezitierte: „Er war der Einzige im ganzen Saal, der in der Glocke nicht ganz sicher war.“23

Schiller wollte volksnah sein auch um den Preis gelegentlicher Trivialität, wofür ihn andere ihm zeitgenössische Literaten verlachten. Erst nach dem 2.Weltkrieg und dem darauf folgenden „Kahlschlag“ in der Literatur ist es wirklich still geworden um Schillers Glocke.

Auch Tarkowskij wollte volksnah sein, und die Glocke als einfaches, einprägsames Bild für die nationale Einheit hat ihn fasziniert. Er hat von Schiller eigentlich nur das Stichwort aufgegriffen.

In den voraus liegenden Stunden des Films hat er den Brudermord, den Mord von Russen an Russen eindringlich geschildert. In der Sowjetunion wurden Glocken in Waffen umgegossen. Hier die Umkehrung. Auch in dieser Hinsicht wird die riesige Glocke am Ende des Films zum weithin hallenden Symbol, zum Appell für den Frieden.

Wir wollen hier nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Freilich mache ich kein Hehl daraus, dass ich mich lieber an Tarkowskijs Birnen halte. Es gibt unvergessliche Szenen: wie Boriska unter strömendem Regen nach einer unsanften Rutschpartie durch den Schlamm endlich den richtigen Lehm findet; die für Tarkowskij ganz unvermeidliche Feuersbrunst um den Lehm zu brennen. Rhythmisch mitreißend, synkopisch, schlagen, hämmern die Gießer mit an Stöcken befestigten Klingen auf die gebrannte Form ein, um die Glocke daraus zu befreien.

Eine große Menge Volkes ist zusammengeströmt. An zahllosen Tauen wird mit vielen helfenden Händen die riesige Glocke in die Höhe gehievt. Der Großfürst und Teil seines Hofstaats kommen hoch zu Ross heranstolziert; das Volk bückt sich tief. Zur Feier des Tages sind sogar ausländische Gesandte erschienen. Ein Alter ruft aus: „Mutter Gottes, was für ein Tag!“

Bekanntlich hatte Schiller bei seiner Glocke den Klöppel vergessen, was, Psychoanalyse hin oder her, eine Peinlichkeit ist. In Tarkowskijs Film spielt der Klöppel eine wichtige Rolle, denn die alles entscheidende Frage ist nun: Klingt die Glocke oder nicht? Da Boriska sich selbst nicht dazu in der Lage fühlt, wird ein sehr starker Mann aufgefordert, den Klöppel in Schwingung zu bringen. In der relativen Stille der nun folgenden Sekunden steigert sich die Spannung ins Unerträgliche, bei Tarkowskij eher eine Seltenheit. Unterdessen kommentieren die venezianischen Diplomaten das Geschehen im Vertrauen darauf, nicht verstanden zu werden, mit unverhohlener Geringschätzigkeit. Dann der erlösende Klang. Der junge Boriska hat sich davongestohlen und ist etwas abseits zusammengebrochen, die Spannung ist von ihm gewichen, er schluchzt. Der alt gewordene Mönch Andrej Rubljow, der sich nach allen Irrungen und Wirrungen ein unsinniges Schweigegelübde auferlegt hatte, hat den jungen Glockengießer die ganze letzte Zeit beobachtet. Nun hebt er ihn auf, mit dem Klang der Glocke hat sich seine Zunge gelöst: „Wir werden gemeinsam durchs Land ziehen. Du gießt Glocken und ich male Ikonen.“ Nach zweieinhalb Stunden wechselt der Film jetzt von Schwarzweiß in Farbe und endlich sehen wir die berühmten Ikonen Andrej Rubljows.

Die von Rubljow vorgeschlagene audiovisuelle Zusammenarbeit spiegelt Tarkowskijs großen sozialistischen Traum vom Kino als Kunst für die Massen: die künstlerische Tiefendimension der Ikonen mit der Breitenwirkung der Glocke zu verbinden. Die Glocke mit den rundum sich ausbreitenden Schallwellen ist das Pendant zu dem Bild von der gespiegelten „Welt im Wassertropfen“ als allseitiger Konzentration. Der Tropfen, der ins Wasser fällt, zieht Kreise.

Dieser sozialistische Traum hatte schon seine Diplomarbeit inspiriert: Die Straßenwalze und die Geige Каток и скрипка (1960) In seinen späteren Filmen hat sich Tarkowskij mehr und mehr in seine eigene Welt eingesponnen, aber die Sehnsucht nach seinem „Volk“ blieb immer lebendig, was zu einem guten Teil seine Zerrissenheit ausmachte24. Hier unterschied er sich von den meisten seiner westlichen Künstlerkollegen.

Solaris (1972)

Man hoffte nach den Scherereien mit dem Rubljow, dass Tarkowskij mit einem Sujet aus der Science Fiction vernünftig würde. Es gibt einen amüsanten Augenzeugenbericht des berühmten japanischen Regisseurs Akira Kurosawa (von Tarkowskij sehr bewundert), der einmal die Studios von Mosfilm zur Zeit der Dreharbeiten für Solaris besuchte. Tarkowskij erscheint da nicht so sehr als verfolgter Künstler, sondern eher als verwöhntes Enfant terrible, alle mit seinen Kapricen in Sorge versetzend25.

In dem Film Solaris, der von einer bekannten literarischen Vorlage des polnischen Autors Stanislaw Lem seinen Ausgang nimmt, gibt es einige kleine Seitenhiebe auf unsere ganz großen Deutschen, die aber weitgehend auf das Konto Lems gehen. Ich will diese Aperçus aber nicht verschweigen, auch weil sie durch Tarkowskijs Akzentsetzungen noch an Treffsicherheit gewinnen.

Der Psychologe Kris Kelvin wird zu einer Raumstation geschickt, die über dem unheimlichen Ozean Solaris errichtet worden ist, der die Eigenschaft hat, Bewusstseinsinhalte zu materialisieren. Der Leiter der Station, Gibarian, hat sich aus Verzweiflung umgebracht. Kelvin findet die Wissenschaftler Snaut und Sartorius vor. Snaut scheint etwas zu verheimlichen. Am Ende von Kelvins erstem Besuch bei Snaut sieht man plötzlich ein Ohr aus einer Hängematte hervorlugen. In der Nacht erscheint Kelvin seine ehemaligen Frau Harey, die sich das Leben genommen hatte: eine Begegnung, die zunächst eher anheimelnd als unheimlich verläuft. Dennoch versucht sich Kelvin dieses ungebetenen Besuchs zu entledigen, indem er Harey in eine Rakete steigen lässt und sie in den Weltraum jagt. Danach schaut Snaut vorbei. Tarkowskij schrieb in seinen Aufzeichnungen26, wie wichtig es ihnen war für die Rolle des Snaut einen Schauspieler mit „einem naiven, verschreckten und verstörten Blick“ zu finden – aus Gründen, die wahrscheinlich nur Tarkowskij selbst kannte. Snaut erscheint zunächst nur als ein harmloser Schwätzer wie es sie viele gibt. Er belustigt sich darüber, dass Kelvin sich beim Raketenabschuss die Kleider versengt hat: „Ihr seid ja ganz schön übereinander hergefallen!“ Wenn man der deutschen Synchronisation Glauben schenken darf, erlaubt sich Tarkowskij hier einen kleinen Ausflug ins Reich der Herrenwitze. Bei den englischen Untertiteln in anderen Versionen findet sich freilich keine Spur davon27. Dann fragt Snaut spöttisch: „Hast du vielleicht auch mit dem Tintenfass geworfen, wie Luther?“ Die Legende, derzufolge Luther auf der Wartburg ein Tintenfass nach dem Teufel geschleudert haben soll, ist so sehr Teil der internationalen Lutherfolklore, dass man so leicht nicht auf die Idee käme, sie zu ironisieren. Man muss aber doch zugeben, dass ein solches Verhalten zwar sicher mutig gewesen wäre, aber auch zumindest in spiritueller Hinsicht eine gewisse Naivität verriete. Das personifizierte Böse wäre so etwas wie ein „Schandfleck“ schlechthin, um eine Luthersche Wortprägung zu gebrauchen. Warum sollte man ihn mit Ruhm oder Tinte bekleckern? Außerdem hat der arme Teufel auch nur Nerven und würde mit Sicherheit zurückwerfen. Vermutlich um 5.45 Uhr.-

Im Umfeld von Solaris, im Kontakt mit dem Unheimlichen ist nie ganz klar, ob man es mit dem Göttlichen oder dem Teuflischen zu tun hat. Diese Ambivalenz liebte Tarkowskij. Dabei wird klar, dass im Umgang mit spirituellen Phänomenen eine Schusswaffe noch weniger sinnvoll ist als ein Tintenfass. Deshalb wird Kelvins Pistole lächerlich gemacht, sie kitzelt Harey am Fuß und wird beiseite geschoben28.

Der Wissenschaftler Sartorius ist eiskalt und hat für Kelvins wachsende Anhänglichkeit an Harey nur Spott übrig: es sind aus Neutrinos zusammengesetzte Phänomene, die sich immer wieder regenerieren können. Das Problem des Faust, die Unsterblichkeit sei damit gelöst, heißt es beiläufig. In Lems Romanvorlage nennt Snaut Sartorius einen „umgedrehten Faust“, weil er für die unsterblichen Neutrino-Materialisierungen einen Anihilator erfindet, um sie zu vernichten. Goethes Faust geht es nach Tarkowskij um beides, sowohl Sterblichkeit als auch Unsterblichkeit manipulativ zu erreichen, Herr über Leben und Tod zu sein. Mit anderen Worten, denen am Ende des prometheischen Knurrgebets:

„Hier sitz‘ ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!“

Interessant ist, dass in Tarkowskijs letztem Film Opfer(1986), ein ähnlicher Widerspruch wieder auftaucht. Alexander betet darum, dass alles wieder so werden soll wie heute morgen. Der Postbote Otto verspricht ihm dagegen im Traum von einer intimen Begegnung mit der Dienstbotin Maria, dass dann „alles aufhört“.

Goethes Faust hat mit dem Teufel paktiert und nach vielen Seiten Lektüre oder nach einer endlosen Theateraufführung, nach Goethes ganzem Dichterleben wird ihm von drei Engeln beschieden: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Strebertum als Ausweg und Rettung. Luthers Lehre hat sich in ihr weltzugewandtes Gegenteil verkehrt. Sehr dazu angetan dem „deutschen Wesen“ Auftrieb zu geben, hatte der Ausspruch als Zierrat mit Eichenlaub in deutschen Sonntagsreden ein langes, erst in nach-wilhelminischer Zeit verwelktes Nachleben.

Der Spiegel (1976)

Wie schon in Solaris macht sich in Der Spiegel Tarkowskijs Bewunderung für die Musik von Johann Sebastian Bach bemerkbar. Das Präludium aus dem Orgelbüchlein: „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ!“ (BWV 639) wird in Solaris zweimal gespielt und elektronisch nahezu endlos variiert.

Im Spiegel wird der Vorspann des Films von einem anderen Präludium aus dem Orgelbüchlein untermalt: „Das alte Jahr vergangen ist“ (BWV 614) Die elegische Grundstimmung des unwiderruflich Vergangenen teilt sich den dann folgenden Kindheitserinnerungen mit.

Der autobiographische Film handelt unvermeidlich auch vom „großen, vaterländischen Krieg“, aber bezeichnend ist, wie er davon handelt. Nebenhin bemerkt: als Tarkowskijs Vater einmal von der Front heimkommt, ist es dem Regisseur wichtig die Tapferkeitsauszeichnung des Vaters zu zeigen.

Diese Szene ist darüber hinaus überaus rätselhaft. Denn das schon erwähnte Leonardo zugeschriebene Frauenbildnis (Ginevra de’Benci) wird eingeblendet, vermischt mit blendendem Sonnenlicht; dazu erklingt ein Rezitativ aus Bachs Matthäus-Passion: „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebete und die Felsen zerrissen, und die Gräber täten sich auf und stunden auf viel Leiber der Heiligen…“ (Mt 27,51f.) Auch hier muss sich der nicht-deutsche Betrachter den Text übersetzen, was wieder einmal bestätigt, dass sich der Regisseur über das Ex-und-hopp-Kino hoch erhaben fühlte. Wenn man den Text des Rezitativs versteht, wird die Szene nicht weniger rätselhaft, eher im Gegenteil. In dieser Hinsicht ist die Tarkowskij-Forschung noch in den Kinderschuhen29. Der Regisseur zeigt sich wieder hin und her gerissen zwischen einem Film für alle (gerade auch auf diesen Film hat er positives Echo von einfachen Leuten bekommen, womit Tarkowskij sein Buch begonnen hat30) und dem Bekenntnis zur Rätselhaftigkeit seiner Kunst in einem der letzten Interviews31.

Relativ breiten Raum nimmt die Episode einer paramilitärischen Übung auf einer Schießanlage ein. Man spürt die klirrende Kälte am unterm Schritt hart knirschenden Schnee, am gefrierenden Atem der Beteiligten; sie teilt sich auch der „Meditation“ über das Funktionieren des Gewehrs mit. Der Ausbilder, ein düsterer, mürrischer Mann, lässt die Jungen die Bestandteile des Gewehrs aufzählen, während die Kamera langsam an Schaft und Lauf entlang gleitet, um dann am unheilvollen Mündungsloch zu verharren. Einer der Jungen, Asafiew, weigert sich zu funktionieren, widersetzt sich dem Ausbilder. Dieser Junge hat die Blockade von Leningrad überlebt und alle seine Angehörigen verloren. Die Blockade von Leningrad wird nur beiläufig erwähnt, in Russland weiß vermutlich ohnehin jeder, worum es geht. Wir Deutschen täten auch gut daran, uns an diesen Schandfleck zu erinnern. „Die Blockade (блокада Ленинграда) dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 (!). Schätzungen gehen von etwa 1,1 Millionen zivilen Bewohnern der Stadt aus, die in Folge der Blockade ihr Leben verloren (!). Die Einschließung der Stadt durch die deutschen Truppen, mit dem Ziel, die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen, war eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Krieges gegen die Sowjetunion.“32

Mit einer nicht funktionierenden Handgranate gelingt es Asafiew den Ausbilder und die Kameraden in Angst und Schrecken zu versetzen, sie gewissermaßen an seinen Erfahrungen Anteil haben zu lassen. Als die Handgranate über die Holzpaneelen rollt, werfen sich alle auf den Boden. Der so kalt wirkende Ausbilder stürzt sich zum Schutz der Kinder auf die Handgranate, Mütze und auch ein Kunststoffschutz fallen ihm vom Kopf. Ihm fehlt offenbar ein Stück der Schädeldecke und wir sehen ein pochendes Pulsieren unter einer Narbe. Er zeigt sich verletzlich und schutzlos. Das allgemeine Mitleid, von dem Tarkowskij gelegentlich sprach33, kommt uns an.

Wie in Iwans Kindheit ist es wieder ein Kind, an dem die Schrecken des Krieges gezeigt werden. Im Unterschied zu Iwan, der, wenn er sich freute, hinreißend sein konnte, ist dieser Junge nicht sympathisch gemeint. In seinem herben Realismus zeigt Tarkowskij uns ein eher hässliches Knäblein, dem das Leben fast alles versagt hat34. Etwas später sehen wir diesen unglücklichen Jungen vor einer mit vielen Menschen belebten weiten Winterlandschaft. Diese Szene ist häufig als Zitat des Bruegel-Gemäldes, das in Solaris gezeigt worden war: Die Heimkehr der Jäger im Schnee angesprochen worden. Tarkowskij selbst hat bekannt, dass er in dieser Szene die Nähe zu Bruegel gesucht habe35. Ich möchte aber noch eine andere Beziehung hervorheben, die für Tarkowskij wichtig war und die weniger offensichtlich ist. In Die versiegelte Zeit spricht er von den vielfigurigen Bildern des venezianischen Quattrocento-Meisters Vittore Carpaccio. Als das Besondere von dessen Kunst hat er die Tatsache hervorgehoben, dass jeder der vielen dargestellten Menschen Mittelpunkt des Ganzen sein könne36. Vielleicht sah er etwas Ähnliches auch bei Bruegel. Genau darum scheint es in dieser Szene zu gehen: ein Sperling fliegt herbei und setzt sich auf den Kopf des Jungen. Ein poetischer Hinweis darauf, dass er gemeint ist, dass an ihn gedacht ist. In der nur für diesen Film Tarkowskijs typischen Collagetechnik ist diese Szene unmittelbar umgeben von Bildern weltgeschichtlichen Schreckens: Panzer, Luftkrieg, Atompilze. Offenbar muss man das als Behauptung verstehen, dass diese Aufmerksamkeit für den Einzelnen trotz all dieser Schrecknisse besteht37. Die kurze Dokumentaraufnahme von Hitler ist gewissermaßen ein Nachtrag zu Iwans Kindheit: die Leiche des Führers mit zu Häupten Trümmern eines wohl gipsernen Reichsadlers, der angeblich schon früh hinter vorgehaltener Hand „Pleitegeier“ genannt wurde. Übrigens war es ein lange gehegtes Vorhaben Tarkowskijs über den Martin-Bormann-Prozess in Jerusalem einen Film zu machen38.

Zuvor wird ausführlich Wochenschaumaterial vom Vormarsch der Roten Armee gezeigt im zweiten Weltkrieg: Dokumentaraufnahmen über den endlosen Marsch von Soldaten durch den Siwasch-See, dem so genannten Asowschen Meer. Für Tarkowskij waren diese Aufnahmen nach seinen eigenen Worten gewissermaßen das Rückgrat des Films. In seinem Buch beschreibt er die unbändige Begeisterung, als er nach einer gleichfalls fast endlosen Sichtung von Wochenschau-Dokumentationen auf einmal dieses Material entdeckte39. Man sieht in aufgelöster Ordnung Männer, zum Teil schwer beladen, einer ungewissen Zukunft entgegen wanken. (Aufnahmen von Militärparaden wären leicht zu finden gewesen. Andrej Michalkow-Kontschalowskij machte in der Siberiade von 1979 Gebrauch von ihnen.) Der Horizont verschmilzt mit der hellen, endlosen Wasser- und Schlammwüste. „Es war unmöglich, auch nur für eine Sekunde an die Sinnlosigkeit dieser Leiden zu glauben. Dieses Material sprach uns von der Unsterblichkeit, und das Gedicht Arsenij Tarkowskijs verlieh dieser Episode einen Rahmen, vollendete sie sozusagen.“40 . Bezeichnend ist, dass die russischen Soldaten nicht im Feindkontakt, sondern in ihrer Leidensfähigkeit, ihrer schier unglaublichen Ausdauer und Zähigkeit gezeigt werden.

Am Schluss kommt der Film noch einmal auf Bach zurück, und zwar im großen Stil. Zuerst sehen wir das heiß geliebte Haus der Kindheit und die jungen Eltern, die davor im Gras liegen. Er fragt sie: Möchtest du lieber einen Jungen oder ein Mädchen? Sie lächelt etwas kokett, wird dann aber zu Tränen bewegt und schaut hinaus auf das im Abenddämmer blühende Buchweizenfeld, durch das sie selbst als alte Frau eiligen Schritts mit den beiden kleinen Kindern wandert: eine chronologische Absurdität und vielleicht Zusammenschau ihrer Ängste und Sehnsüchte. Dazu die unruhigen, dissonierenden ersten Akkorde vom Beginn der Johannes-Passion mit dem dann anbrandenden Chor: „Herr, unser Herrscher!“ Die Kamera wandert über die Erde, filmt allerlei, was das so krabbelt, nichts Spektakuläres, aber auch Zivilisationsmüll. Als der Chor verebbt, singen nur noch die Grillen. Dann bleibt der kleine Andrej etwas zurück und stößt einen gellenden Schrei aus. Das vorläufig Letzte, was wir von ihm hören. Der Kamera weicht von der Lichtung zurück in den dunklen Wald. Am Ende des Films ein Spiel mit Anfängen: dem Anfang der Johannes-Passion und dem Anfang von Dantes Divina Commedia, auf den im Film spielerisch Bezug genommen wurde: „Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura ché la diritta via era smarrita.“

War der Film eine Wanderung durch Jenseitiges? Der Film wird noch angeschaut werden, wenn alle gefilmten Menschen längst gestorben sind. Tarkowskij war der Überzeugung, dass sie immer noch leben. Der Film endet mit einem Gebet, das aber irgendwie unartikuliert ist. Man erinnert sich an „das unaussprechliche Seufzen“ des Geistes, von dem Paulus sprach; es ist die Schöpfung selbst, die stöhnt (Römer 8, 22-26).

Stalker (1979)

Am 20. September 1970 kopierte Tarkowskij in sein Tagebuch einen Passus aus Hermann Hesses Glasperlenspiel, das er damals mit großer Begeisterung las. Es geht um eine berühmte altchinesische Abhandlung zum Wesen der Musik: „Darum ist die Musik eines wohlgeordneten Zeitalters ruhig und heiter und die Regierung gleichmäßig. Die Musik eines unruhigen Zeitalters ist aufgeregt und grimmig, und seine Regierung ist verkehrt. Die Musik eines verfallenden Staates ist sentimental und traurig, und seine Regierung ist gefährdet.“

Etwas weiter unten notierte er einen anderen Satz, der vielleicht auch auf Musik bezogen werden kann und der in meiner Sicht für den Film Stalker bedeutsam werden sollte: „Was du Leidenschaft nennst, ist nicht Seelenkraft, sondern Reibung zwischen Seele und Außenwelt…“

Zu Beginn des Films wird die Familie: Stalker, seine Tochter, seine Frau, schlafend in einem Messingbett gezeigt. Ein Zug fährt in großer Nähe vorbei, so dass das Nachttischchen erschüttert wird. Die Kamera tastet die Gesichter der schlafenden Mutter und Tochter ab, der Stalker liegt schon wach. Man hört im Lärm des fahrenden Zuges undeutlich einige Takte der Marseillaise. Das Glas auf dem Tablett auf dem zitternden Nachttisch beginnt sich wie von Geisterhand zu bewegen und das Wasser darin zu schaukeln: ein Sturm im Wasserglas.

Gegen Ende des Films, mitten in der Zone, wiederholt sich etwas unmotiviert dieses Motiv des vorbeiratternden Zuges, freilich mit einem bedrohlichen Bild. Offenbar auf dem Grund des innersten Raumes, der unter Wasser steht, liegt der zylindrische Teil einer unschädlich gemachten Bombe. Von rechts oben nähert sich ein Fisch, ein Karpfen. Von links unten schwappt ein schwarzer Ölfilm ins Bild, um es alsbald gänzlich zu überziehen. Dazu der Rhythmus des fahrenden Zuges und Klänge aus Maurice Ravels Bolero. Ökologen würden darin vor allem eine Warnung vor einer Umweltkatastrophe, einer Ölpest sehen. Ebenso sehr bezeichnet es eine Bedrohung des Christentums. Der Fisch, χθύς, ist ein frühchristliches Geheimzeichen für Christus: „Ιησούς Χριστός Θεού Υιός Σωτήρ – Jesus Christus Gottes Sohn, Erlöser“. Ravels Musik gerät dabei in einen unvorteilhaften Zusammenhang.

Ganz am Ende des Films liest Stalkers gelähmte Tochter Monkey („Äffchen“) ein Gedicht Tschutschews über den Kuss und den sengenden Blick einer leidenschaftlich Liebenden, ein Gedicht, von dem ungewiss ist, wie viel die Zwölfjährige davon versteht. Sie beginnt dann drei Gläser nur mit der Kraft ihres Blicks zu bewegen: das parapsychologische Phänomen der Telekinese. Schließlich nähert sich wieder ein Zug, am linken Bildrand gerät ein wohl mit Tee halb gefülltes Glas heftig ins Schwappen und man hört, sehr gedämpft, den ekstatischen Chor vom Ende der 9. Sinfonie Beethovens: „Diesen Kuss der ganzen Welt!“41. In einer für Tarkowskij charakteristischen dialektischen Verschränkung wird deutlich, dass es sich beim Blick der Kleinen nicht um „Leidenschaft“, „Reibung zwischen Seele und Außenwelt“ handelt. Beethovens Musik bleibt merkwürdig in der Schwebe: ist diese Leidenschaft Seelenkraft? Ich gebe Tobias Pontara Recht, der hier eine kritische Distanzierung Tarkowskijs von Beethoven vermutet42.

Tarkowskij ging es in dieser Schlussszene nicht primär darum, uns seinen Glauben an parapsychologische Phänomene zu vermitteln. Vielmehr wird die Telekinese zum Bild für „Seelenkraft“.

Stalker ist relativ früh Gegenstand ernsthafter akademischer Beschäftigung geworden.

Man hat versucht, Beziehungen zum frühromantischen Helden „Heinrich von Ofterdingen“ des Novalis herzustellen43. Gewiss, Heinrich muss im Traum durch einen kristallklaren Teich schwimmen, bevor er die blaue Blume entdeckt. In der Zone müssen die drei Männer auch eine Art Taufe bestehen, einen tiefen Graben durchwaten, bevor sie vor der geheimen Kammer angelangen. Für die kristallene Klarheit des Wassers würde ich nicht meine Hand in den Sumpf legen. Im Gegenteil ist es mir gerade wichtig, dass dieser modernere Heinrich mit den sehr viel trüberen Wassern des ausgehenden 20. Jahrhunderts gewaschen ist. Und sicher würde mich der Film nicht dazu bewegen, den Roman des Novalis noch einmal hervorzukramen. Der Titel des Films Stalker spielt vielleicht auf das russische Starez (старец) für „Seelenführer“ (eigentlich: „der Alte“) an, stellt aber vor allem eine viel engere Beziehung zu den indianischen „Pirschgängern“ in Carlos Castanedas Don Juan her44. Das wäre Thema einer Untersuchung der Beziehung Tarkowskijs zu den Amerikanern.

In diesem Zusammenhang soll freilich ein kompromittierender Traum nicht verschwiegen werden, von dem Tarkowskij allerdings berichtet, als Stalker schon im Kasten ist, am 9. Juli 1979. Angeblich einer von zwei Träumen, die ihn ein Leben lang begleitet haben. Es geht, oh Wunder, um blaue Blumen. „Gott, was für einen wunderbaren Traum ich hatte!“ Er beginnt rätselhafter Weise aber gar nicht nur idyllisch: „Sonne, leichter Wind. Ich gehe spazieren, aber ich gehe rasch, so als hätte ich ein Ziel. Ich nehme einen Weg, den ich nie zuvor gegangen bin. Und gelange bald an einen wunderschönen, einfach paradiesischen Ort, wo, unberührt vielerlei Blumen blühen. Aus der Ferne dringt Geschrei zu mir, es hört sich an, als balgten sich welche im Gras – bald reißendes Zerren, bald Stöhnen: den Stimmen

nach zu urteilen eine Schlägerei auf Leben und Tod. Ich gehe den herrlichen Waldweg weiter, und nach einer Biegung zum Feld hin erblicke ich zwei sich auf dem Wege bekämpfende Kinder. Dorfkinder. Am Wegrand sitzt eine junge Frau oder ein Mädchen und werkelt etwas. Ich sage zu ihr: ‚Sie werden sich totschlagen.’ ‚Sie tun ihm leid! Solltest besser mit dem Mädchen Mitleid haben. Geh weiter, geh weiter, die schlagen sich schon nicht tot’ hörte ich da jemand sagen.“ Von weitem erinnert dieser Kamp auf Leben und Tod an eine der Pinturas Negras Francisco Goyas in der Quinta del Sordo: zwei Männer, wie mit dem Boden verwachsen und heroisch gegen den Himmel projiziert, dreschen mit Knüppeln aufeinander ein, was etwas beinahe Absolutes bekommt und deshalb wie eine satanische Eingebung des „Anklägers“ der Menschen wirkt. Etwas ins Burleske gewendet gibt es in Tarkowskijs Rubljow ähnliches: in strömendem Regen und Schlamm versuchen sich zwei volltrunkene Bauern mit Baumstämmen zu erschlagen. Aber im Traum geht es sehr viel schöner weiter: „Der Spaziergang dauert nur kurz. Ich schaue mich um und halte inne, um nicht einen Abhang hinunterzufallen. In der Schlucht rauscht ein schöner, breiter, reiner Fluss, seine Oberfläche ist leicht gekräuselt, auf dem Hang gegenüber Gras, Laubbäume, Stille, Frieden! Wieso ich bloß diesen Ort früher nicht kannte! Ich lege mich dicht am Abhang ins Gras. Vor meinen Augen (längs des Weges) frisches Gras, eine kleine, ganz mit blauen Blumen übersäte Wiese, in der Ferne schließt sich das Bild (ob teilweise durch Nadelbäume?) zu einem dunklen Ort, und am Ende die Wiese mit zwei riesigen blauen Blumen in der Tiefe.“ Realistischerweise bemerkt er in Klammern dazu: „sie sehen aus, als wüchsen sie dicht vor meinen Augen und gleichen den Veilchen, die vor meinem Fenster wachsen.“ Dass der Russe die blaue Blume doppelt sieht, kann man erheiternd finden, und flugs wandelt sich der wunderschöne Traum, als habe ein Rabe nach dem (den) Rechten gesehen, in einen deutschen Nachtmahr der zweiten Klasse: zwei tiefblaue, schreckhaft geweitete Fettnäpfchen.

Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich des Verdachts nicht erwehren, dass sich hinter der romantischen „blauen Blume“ die Sehnsucht verbirgt nach der großen Abwesenden in weiten Teilen der deutschen Kultur nach der Reformation: Maria45. Novalis alias Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg entstammte streng pietistischem Milieu. Jedenfalls fällt mir bei der „blauen Blume“ zu allererst Stephan Lochners Madonna im Rosenhag ein (1450 Köln) mit ihrem meerblauen Faltenwurf von rosenblättriger Beschaffenheit. Freilich stand die Entdeckung dieses duftigsten der altdeutschen Maler erst am Ende einer Suchbewegung, die von der Romantik ihren Ausgang nahm. Nebenbei bemerkt, bietet sich hier wieder ein Anknüpfungspunkt an Tarkowskijs Stalker. Es geht um die Geschichte des musikalischen Themas für diesen Film, bei dessen Entwicklung Tarkowskij Eduard Artemjew, dem Pionier der elektronischen Synthesizer-Musik in der Sowjetunion, ein Äußerstes an Geduld und Selbstverleugnung abverlangt hatte. Tarkowskij wollte eine Musik, die in sich die Spannung zwischen Ost und West vereinigte, in gewisser Weise sogar im Sinne Rudyard Kiplings die Unvereinbarkeit von Europa und Asien widerspiegelte. Tarkowskij sah die russische Seele, wie die russischen Lande, ausgespannt zwischen Orient und Okzident. Nach langem Suchen hatte Artemjew einen wirklich alten Hymnus vielleicht aus dem 15. Jahrhundert von anonymer, wahrscheinlich italienischer Autorschaft ausgegraben: Pulcherrima Rosa46. Dieser lateinische Hymnus von unnennbarer Süße und Wehmut, den man heute ohne weiteres im Internet ausfindig machen kann, richtet sich an Maria. Tarkowskij fehlte der Osten. Artemjew experimentierte mit orientalischen Instrumenten. Es half alles nichts. Dann behalf Tarkowskij sich mit einem bildhaften Ausdruck und gebrauchte eine Formulierung aus einem Gedicht seines Vaters: die Musik solle sein wie „in Schichten starres Wasser“. Für einen Künstler ist das vielleicht eine hilfreiche Instruktion. Zu guter Letzt hatte Artemjew die modifizierte Melodie der Flöte, die mitunter zu einem „schluchzenden Schrei“47 aufgipfelt, mit metallisch hallenden Tarklängen unterlegt. Diese Musik, die im Gegensatz zur Zone extreme Weiträumigkeit suggeriert, klingt im Laufe des Films immer wieder auf und schlägt immer wieder in den Bann. Stalker ist unter anderem auch eine Meditation über das Wesen der Musik und es wird Zeit, dass sich auch einmal die Musikwissenschaft seinem Werk widmet. Eine wie singuläre Erscheinung Tarkowskij war, lässt sich auch daran ablesen, dass ihm mehrere, sehr verschiedene zeitgenössische Komponisten Werke gewidmet haben: Arvo Pärt, Luigi Nono und Toru Takemitsu48.

Nostalghia (1983)

In seinem vorletzten Film kam Tarkowskij an prominenter Stelle auf Beethovens Choral vom Ende der 9. Sinfonie zurück. Zuvor wird Tarkowskijs Zerrissenheit zwischen Ost und West in Sachen Musik noch einmal deutlich. In Bagno Vignoni, einem mittelalterlichen Thermalbad in Mittelitalien, werden wir Zeugen einer scheinbar belanglosen Konversation zwischen gediegenen Badegästen, die bis zum Hals im von Dunstschwaden bedeckten Schwefelwasser stehen. Ein glatzköpfiger, Zigarre paffender General wird nach der seltsamen Musik gefragt, die er jeden Tag im Hotel hört. Die anmaßende Stimme des Generals ertönt: „Chinesische Musik – hundert Mal besser als Verdi!“ Der Herr mit Hut erwidert: „Lassen Sie Verdi aus dem Spiel! Das sind doch nur Chinoiserien.“ „Das ist eine andere Zivilisation. Keine sentimentalen Klagen! Die Stimme Gottes, der Natur!“ Zunächst wirkt das als purer Snobismus. Die ganze Szene ist ironiegetränkt und man fragt sich, ob der dichte Dunst, mit dem sich die Kurgäste umnebeln, nur von der Zigarre des Generals herrührt oder nicht vielmehr Bild des allgemeinen Geschwafels ist; nicht von ungefähr spricht man neudeutsch von „Dampfplauderern“.

Wenig später hören wir im Hotel den tatsächlich sehr fremdartigen, rituellen chinesischen Gesang. Eine ältere Dame, die vermutlich seit längerem hier Obdach gefunden hat, schwört verzweifelt im Treppenhaus, dass sie sich nicht rausekeln lassen wird, was einer der wenigen humoristischen Akzente im Film ist.

Die Konversation im Thermalbecken wird von einem einsamen Einzelgänger kommentiert, der sich mit seinem Schäferhund unterhält. Er distanziert sich von dem Gerede, meint aber auch: „Man muss gut zuhören, denn man kann immer etwas lernen.“ Gegen Ende der Dreharbeiten zu Nostalghia notierte Tarkowskij am 8.2. 1983 im Tagebuch: „Die gesamte Musik des Westens ist am Ende nichts als dramatische Wucht: ‚Ich will, beanspruche, wünsche, fordere, leide’ Die östliche dagegen (China, Japan, Indien): ‚Ich will nichts, ich bin nichts’ – eine völlige Auflösung in Gott, in der Natur. Der Orient: übrig gebliebene Fragmente antiker Kulturen, authentisch zivil, dem Westen entgegengesetzt, dem Zentrum einer in die Irre gegangenen, tragischen technologischen Zivilisation. In Rebellion gegen Gott, gierig, rationalistisch, pragmatisch. Eben weil Russland sich zwischen Orient und Okzident vorfindet, nimmt man in ihm eine andere Substanz wahr als die des Westens, die dem Untergang geweiht und verkehrt ist.“ Auch am Ende seines Buches kommt er darauf zurück und man würde hoffen, dass er sich in der Öffentlichkeit maßvoller auszudrücken sucht – weit gefehlt: „Wie gern möchte man sich zuweilen ausruhen, sich irgendeiner anderen Auffassung vom Sinn der menschlichen Existenz zuwenden. Der Osten war der ewigen Weisheit stets näher als der Westen, die westliche Zivilisation aber hat den Osten mit ihren materiellen Lebensansprüchen verschlungen. Man vergleiche nur einmal östliche und westliche Musik.

Der Westen schreit: Hier da bin ich! Schaut auf mich! Hört, wie ich zu leiden und zu lieben verstehe! Wie unglücklich und glücklich ich sein kann! Ich! Ich! Ich!!! Der Osten sagt kein einziges Wort über sich selbst! Er verliert sich völlig in Gott, in der Natur, in der Zeit, und er findet sich selbst in allem wieder. Er vermag alles in sich selbst zu entdecken. Taoistische Musik – China, sechshundert Jahre vor Christi Geburt.“49 Es ist nicht ganz leicht, hier als Abendländer mit einem Minimum an Selbstachtung ruhig zu bleiben. Zumal Tarkowskij selbst, nun ja, zuweilen auch sehr laut „Ich!“ schreit. Man denke an den Schluss des Rubljow, nachdem der Film vollends „staatstragend“ werden sollte, als der Glockenguss gelungen ist, da bricht aus dem schluchzenden Boriska hervor, dass ihm der Vater gar nicht wie angegeben auf dem Sterbebett das Geheimnis des Glockengusses verraten hat. Tarkowskij bringt damit den privatesten Kummer seiner unendlich komplizierten Vaterbeziehung zum Vorschein, hängt ihn gewissermaßen an die große Glocke. Er handelt hier von seinem Vater, dem er einerseits sehr viel von seiner Begabung verdankte, der aber die Familie früh im Stich gelassen hatte. Der Regisseur sah sich in der Rolle des unerfahrenen Glockengießerjungen. Doch hatte man ihm nicht die Aufgabe des Andrej Rubljow anvertraut, weil sein Vater ein (im Übrigen eher unbekannter) Dichter war, sondern weil er selbst in Venedig einen hoch angesehenen Preis gewonnen hatte. Dem Film Spiegel wurde vor allem angelastet, die eigene Person auf unerträgliche Weise in den Vordergrund zu stellen (in einer sehr „unrussischen“ Rückhaltlosigkeit und Nacktheit, wie die Kritikerin Maja Turowskaja bemerkte50). Und gegenüber einer Frau, die ihn als Übersetzerin bei seinem letzten Film geholfen hat, Layla Alexander Garrett, gab er die Maxime aus: „Wenn Sie im künstlerisch-kreativen Feld arbeiten wollen, fürchten Sie sich nie vor dem Personalpronomen ich.“51 Mit anderen Worten, es könnte sich um ein weiteres Kapitel in dem Buch Tarkovsky vs. Tarkovsky – Tarkowskij gegen Tarkowskij handeln, das die Kritikerin Olga Surkowa auf Russisch veröffentlicht hat, für das sie aber noch keinen englischsprachigen Verlag gefunden zu haben scheint52. Manchmal stellen wir uns die Künstlerpersönlichkeit als malerisch in tausend Widersprüchen zerklüftet vor. Selten begegnet ein so zerrissener Künstler wie Tarkowskij. War der von ihm so verehrte Bach zerrissen?

Man wird sich an den Anfang des Zitates in seinem Buch erinnern müssen: „Wie gerne möchte man sich zuweilen ausruhen…“ Die Sehnsucht nach Asien ist eine Art von Eskapismus. Tarkowskij hat als sehr tiefer Mensch ein klares Bewusstsein der eigenen Ich-Verfallenheit, und davon möchte er erlöst werden. Marius Schmatloch hat eine Dissertation zu Tarkowskij geschrieben, in der er ein Oszillieren des Künstlers zwischen einem völlig in sich verschlossenen „Autismus“ und der Sehnsucht nach extremem Altruismus nachweist53.

Im März 1985, als Tarkowskij schon an seinem letzten Film in Schweden arbeitete, hat er noch einmal zwei polnischen Journalisten ein längeres Interview gegeben, auch weil er damals an den politischen Entwicklungen in Polen lebhaft Anteil nahm54. Tarkowskij lehnte es schroff ab mit der Romantik in Verbindung gebracht zu werden (ein weiteres Kapitel in Tarkovsky vs. Tarkovsky…in Ebbo Demants Dokumentarfilm heißt es er habe sich „deutsche Romantiker“ in die Klinik Öschelbronn bringen lassen55) und behauptete dann lapidar, polnische oder russische Autoren hätten nicht so viel von sich selbst gesprochen wie „Novalis, Kleist, Byron, Schiller, Wagner“. Dann zog er noch mal zur Musik vom Leder. Diesmal nannte er Namen und es bestätigt sich, was wir schon dunkel geahnt hatten: er hat dabei auch an Ludwig van Beethoven gedacht! „…sieh, wie arm ich bin, wie elend, ganz in Lumpen, ein wahrer Hiob…, ich leide wie der antike Prometheus…“usw.

Zugegeben, Tarkowskijs Interviews sind nicht immer als Gute-Nacht-Lektüre geeignet, auch weil man spürt, dass vielleicht ein Körnchen Wahrheit darin ist. Im Moment dieses Interviews war ihm allerdings anscheinend entfallen, dass die grausame Schicksalsironie im Leben eines Komponisten, dem das Hören verging, durchaus keine Bagatelle ist. Die sehr herbe Art Tarkowskijs erinnert an sein großes Vorbild Tolstoj, der etwa in der (relativ) kurzen Erzählung Die drei Tode die Tode einer vornehmen Dame, eines einfachen alterschwachen Kutschers und einer Esche vergleicht. Da ist einerseits ein naiver Herzton, bei dem viele sehr bald teils verstohlen, teils unverhohlen zu lächeln begännen, wäre da nicht auch eine schonungslose Härte, mit der Tolstoj das Ende der siechen Frau und selbstbezogenen jungen Mutter beschreibt, die im übrigen ein feingliedriges Inbild der von Nietzsche so gepriesenen „Wohlgeratenheit“ war. Mit anderen Worten: große Menschen, kleine Menschen – der Tod macht alle gleich.

Man könnte einwenden, dass sei eine etwas banale Binsen- bzw. Sensenweisheit. Um damit ans Ziel zu kommen, muss man allerdings emotionale Abwehrmechanismen umsensen. In Tolstojs Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) hält ein Kollege des Iwan Iljitsch mit dem schönen deutschen Namen Schwarz die Tatsache des Todes kühl-ironisch und erfolgreich auf Abstand. Er wird zum Prügelknaben Tolstojs in seinem antiwestlichem Ressentiment, wobei die eigentliche Zielscheibe, wie man bei Tolstoj weiß, nicht so sehr das Deutsche, sondern das Angelsächsische ist56: Das Geheimnis des Erfolgs dieses Gentleman ist, um es etwas pointiert zu sagen, unter anderem ein Innenleben im handlichen Taschenformat. Es ist nur eine höfliche Unterstellung, vorauszusetzen, dass er überhaupt so etwas wie ein Innenleben hat57.

Der Filmkomponist Artemjew berichtete, dass der Maler Romadin Anfang der 70er Jahre Tarkowskij als Sensenmann porträtierte58. Ein schalkhafter Sensenmann führt am Ende von Ingmar Bergmans Das siebente Siegel (1957) einen makabren Totentanz an. In Nostalghia ist das „Memento mori“ Tarkowskijs zeitgemäßer: immer wieder hört man in der Ferne den monotonen Sirenengesang einer Kreissäge. Doch sollten wir Beethovens Freudensinfonie nicht gänzlich aus den Augen verlieren.

Man befürchtet Schlimmstes für die Behandlung von Beethoven. Freilich möchte ich doch einen Gewährsmann erwähnen, der den großen Respekt Tarkowskijs für Musik bezeugt hat. Claudio Abbado hatte in London mit Tarkowskij bei einer Inszenierung des Boris Godunow von Modest Mussorgskij zusammengearbeitet (1983) und glaubte behaupten zu können, dass Tarkowskij mehr Respekt für die Musik hatte als andere Regisseure59.

Bevor wir einen großen Sprung zum finale furioso des Films machen, fasse ich in wenigen Worten die ohnehin spärliche Handlung der ersten 90 Minuten zusammen. Ein russischer Intellektueller, Andrej Gortschakow, reist auf den Spuren eines russischen Musikers des 18. Jahrhunderts, der in Italien gelebt hatte. Der Russe ist von einer russischen „Krankheit“, dem verzehrenden Heimweh befallen, das zusehends alle Lebensgeister lähmt. Da lernt er Domenico kennen, ein ehemaliger Mathematiker und eine zwischen großem Idealismus und Wahnsinn schillernde Figur. Gortschakow besucht ihn in einer ausgedienten Fabrik und lässt sich von Domenico das Versprechen abnehmen, das Thermalbecken in Bagno Vignoni mit einer angezündeten Kerze zu durchqueren, eine angeblich bedeutungsvolle Handlung. Domenico lässt einige Akkorde aus dem Schlusschor Beethovens auf seiner Stereoanlage hören und macht geheimnisvolle Andeutungen, „sie“ hätten etwas Großes vor in Rom. Gortschakow fährt nach Rom und schickt sich an, sich für seinen Rückflug nach Moskau zum Flughafen fahren zu lassen. Doch ruft er noch einmal die Dolmetscherin Eugenia an. Von ihr erfährt er, dass Domenico schon seit Tagen auf dem Kapitolsplatz Reden schwingt „wie Fidel Castro“ und sie gefragt habe, ob er, Gortschakow, sein Versprechen gehalten hat. In einem Treuebeweis, der dem so genannten „gesunden Menschenverstand“ ins Gesicht fliegt, lässt sich der schwer kranke Gortschakow statt zum Flughafen nach Bagno Vignoni fahren, um sein Versprechen zu erfüllen.

Aus Restaurierungsgründen war das Reiterstandbild des Mark Aurel auf dem Kapitolsplatz damals eingerüstet. Domenico ist hinaufgeklettert und steht, von einem Fuß auf den anderen tretend, auf dem Rücken des Rosses. Wir hören letzte Kostbarkeiten seiner, wie gesagt, länger währenden und nicht wenig verworrenen Rede. Jemand hatte mal gefragt, flüchtig im Vorbeigehen die Stimme hörend, ob das der Papst sei. 1982 – war das nicht die Zeit als Papst Wojtyla noch eine kräftige Stimme hatte und auf dem nahen Petersplatz regelrecht schrie? In seiner Heimat Polen herrschte Kriegsrecht, der kalte Krieg steuerte auf eine neue Tiefstemperatur zu, und in den folgenden Jahren zitterten im Kreml kränkliche Greise kurz nacheinander durchs Rampenlicht. Domenicos Appell hat eine schneidende Dringlichkeit. Er brüllt, dass wir uns auf einen Abgrund zu bewegen. Auf der anderen Seite ist seine Rede ohne unmittelbar zugänglichen Zusammenhang wie ein hermetisches Gedicht. Sie scheint einen Knoten aus Fäden zu schürzen, die weit nicht nur in diesen, sondern auch Tarkowskijs andere Filme hineinreichen.

Eine große Zahl mehr oder minder Gleichgesinnter hat sich eingefunden, wobei nicht von allen klar ist, ob und wie weit sie als Irre qualifiziert sind. Die italienische Politik hatte damals beschlossen, psychiatrische Anstalten aufzulösen und die Patienten in die Gesellschaft zu integrieren60.

Von Anfang an war es für Italiener schwer, ihr bel paese in diesem Film wieder zu erkennen. Tarkowskij hat sich mehr an der düsteren Schattenwelt der pittura metafisica des Giorgio de Chirico orientiert als an Postkarten. Kein einziges Mal sehen wir auch nur ein paar Zentimeter blauen Himmel61. Sonnenlicht taucht nur sehr sporadisch als flüchtige Flecken auf. In de Chiricos Bildern sieht man auf düsteren Plätzen, die von starren, einsamen Gipsfiguren dominiert werden, zwei verlorene Gestalten einander verstohlen die Hand reichen. Bei Tarkowskij sind die nicht wenigen Statisten gleichmäßig auf die 124 Stufen der breiten Treppe von S. Maria in Aracoeli verteilt, auch auf eine andere an den Kapitolsplatz angrenzende Treppe, und alle sind starr und stumm. Nur dann und wann, hier und da steigt jemand die Stufen hinunter, was die Starre des Ganzen noch hervorhebt.

Der Regisseur hat sich für diese Szene ein sehr prägnantes Ambiente ausgesucht: er inszeniert ein Stelldichein der Titanen, denn kein Geringerer als Michelangelo hat diesen Platz konzipiert. Und auf der anderen Seite steht das deutsche Genie-Team Schiller und Beethoven. Der Kobold Tarkowskij turnt einigermaßen unerschrocken dazwischen herum. Es soll hier nicht unsere Sorge sein, wie er sich mit Michelangelo Buonarroti ins Benehmen setzt, sondern einzig und allein, wie er mit dem Musikstück, das immerhin der Europahymne zugrunde liegt, umging62.

Domenico hat seine Rede beendet und ruft: „Und nun die Musik!“ Etwas Bewegung kommt unter die Zuschauer, ein zotteliger Mann, vielleicht Mitte Dreißig, winkt einen Gehilfen herbei, der ihm eine geheimnisvolle silbrige Metallbox reicht, mit der er das Stangengerüst am Reiterdenkmal hinaufklettert. Im ersten Moment hatte ich das für eine Lautsprecherbox gehalten, weil von Musik die Rede war. Es ist ein Kanister voll Benzin, mit dem sich Domenico übergießt. Man wartet auf die Musik, etwas scheint nicht zu funktionieren. Oben auf einer der Treppen, in weiter Ferne, irrt jemand herum. Wir sehen Domenico von hinten, der sich von nichts aufhalten lässt: er versucht sein Feuerzeug zu zünden, einmal, zweimal, dreimal. Sein deutscher Schäferhund, an eine nahe Säule gebunden, beginnt ängstlich zu jaulen. Da springen plötzlich die Flammen an seinem schwarzen Mantel hoch und exakt gleichzeitig bricht schubweise, expressiv verzerrt, zerrissen und überlaut die Musik hervor, die filmische Darstellung einer Synästhesie, und nach kurzer, relativ stiller Pause setzt der ekstatische Chor ein63. Wir sehen Domenico in der Totalen von der Seite hinter dem Mark Aurel in Flammen stehen, einen Moment lang sind die Flammen wie Flügel: ein Monument für Pegasus. Dann taumelt Domenico „feuertrunken“ zu Boden, robbt sich vorwärts und als die Stelle kommt: „Alle Menschen werden Br…“ verstummt die Musik und wir hören den Schrei des sterbenden Domenico. Das vollmundige Pathos von: „Seid umschlungen, Millionen!“ etwas aufzurauen ist ein nachfühlbares Bedürfnis. (Hieße es: Seid verschlungen, Millionen, verstünde man immerhin, wovon die Rede ist…) Das hohe Ideal universaler Brüderlichkeit wurde von den Freimaurern, die Schiller zu dieser Ode drängten64, vom Christentum übernommen. Dass die Verwirklichung dieses Ideals einen hohen Preis hat, wurde von Christus durch Seinen Kreuzestod angedeutet und von den Deutschen vielleicht geahnt, aber jedenfalls verschwiegen. In neuerer Zeit hat den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Verzweiflungsschrei von Jesus Christus am Kreuz und dem Ideal der Einheit der Menschen Chiara Lubich entdeckt, hervorgehoben und zur Flammenflagge ihrer Bewegung gemacht65.

Tarkowskij deutet mit künstlerischer Intuition dieses Geheimnis an. Er hat aus der Not, nur ein relativ kurzes Zitat verwenden zu können, eine Tugend gemacht, indem er Beethovens Choral mit sehr viel Bedacht in Stücke haute.

Es gibt Gerüchte, dass der Regisseur zunächst gar nicht die Ode von Schiller und Beethovens im Visier hatte, sondern „irgendwas aus dem Tannhäuser“. Genaueres wird man darüber erst erfahren, wenn das Istituto Andrej Tarkovskij von Florenz die Vorbereitungskladden zu diesem Film veröffentlicht. Nicht alles war Planung bei Tarkowskij, beispielsweise hat Pucherrima Rosa nicht er, sondern Artemjew ausgegraben. Dass er es akzeptiert hat, ist sehr bezeichnend und alles andere als selbstverständlich.

Nach Abschluss der Arbeiten für Nostalghia kam die Entscheidung im Westen zu bleiben und zusammen mit seiner Frau eine Zeit unsteter Wanderschaft zwischen verschiedenen europäischen Ländern. Mehrere Male haben sie sich auch in Berlin aufgehalten (Frühjahr 1984 und Frühjahr 1985), aber die Stadt hatte eine niederschmetternde Wirkung auf ihn. Die Aussagen in Ebbo Demants Dokumentarfilm geben davon Zeugnis: „… so als sei der Krieg und all das Furchtbare, das dazu gehörte, noch nicht zu Ende.“ An gleicher Stelle gab seine Frau in einem Interview zu Protokoll: „Die Armseligkeit der Nation“ zu damaliger Zeit sei noch lebendig in dieser Stadt, er könne es gewissermaßen „mit seiner Haut“ fühlen66. Im gleichen Interview sagte seine Frau sehr ehrlich, dass für ihn die Mauer auch deshalb so schrecklich war, weil sie ihre eigene Beziehungsunfähigkeit als Paar widerspiegelte. Die Mauer taucht mit einem Bild von wenigen Sekunden in einer düsteren Schreckensvision von Opfer auf. Ein Windstoß schlägt bei einem flachen bäuerlichen Gebäude die klapprigen Läden einer kleinen Tür oder eines großen Fensters auf: die Öffnung dahinter ist zugemauert – ein Bild für Beziehungsunfähigkeit. Solche Fenster hatte Tarkowskij in Berlin an der Mauer reihenweise sehen können.

Immerhin hatte er in den Mommsenstraße ein denkwürdiges Zusammentreffen mit Alexander Kluge, mit dem er einen Film über den Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, genauer: über dessen phantastische Spekulationen zur Akasha-Chronik machen wollte. Kluge berichtet darüber amüsant67. Während Kluge ein eher bescheidenes Dokumentarprojekt im Auge hatte, träumte Tarkowskij von Dreharbeiten im Hindukusch. Kluge deutet vorsichtig an, dass eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ schwierig zu werden versprach… Durch Mittelsmänner gingen Kommunikationen noch eine Weile hin und her, aber nach Tarkowskijs Erkrankung gab es für ihn dringlichere Vorhaben.

Da wir Kluge erwähnt haben, stellt sich die Frage, wie Tarkowskij zum deutschen Film stand. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte mit Ausnahme einer Bemerkung zu Rainer Werner Fassbinder. In einem italienischen Interview nach den Filmfestspielen von Venedig 1982, bei der er zur Jury gehörte, kommentierte er Fassbinders Querelle (1982) entgeistert, räumte aber ein, dass Fassbinders frühere Filme sehr viel besser gewesen seien68.

Außerdem hat Tarkowskij in Berlin ein lang gehegtes Projekt die Hoffmanniana über E.T.A. Hoffmann zumindest als Text einer Veröffentlichung zugänglich gemacht69. Des „Gespensterhoffmanns“ (Goethe) Abneigung gegen den „gesunden Menschenverstand“ teilte Tarkowskij ganz sicher, auch die nach allen Seiten ausbrechende Phantasie. Im 19. Jahrhundert hatte die Literatur E.T.A. Hoffmanns ein starkes Echo in Russland70. Eine in Deutschland lebende und deutsch dichtende iranische Lyrikerin, Sara Ehsan, hat eine viel beachtete Arbeit über dieses Szenario geschrieben, dennoch will ich ungelegte Eier nicht zum Gegenstand meiner Untersuchungen machen71.

Besuche in der Nationalgalerie halfen Berlin erträglicher zu machen: laut Dokumentarfilm72 war Tarkowskij emotional sehr angesprochen von den Landschaften Caspar David Friedrichs.

Bei dem Greifswalder Künstler verband sich wohl „Weltschmerz“ mit einer westslawischen Unterströmung. Man tut allerdings gut daran, die Aussage des Moskauer Malerfreundes Tarkowskijs, Mikhail Romadin, der als Art Director bei Solaris mitgearbeitet hatte, in Erinnerung zu behalten, dass Tarkowskij insgesamt mehr die „klassische“ als die „romantische“ Kunst liebte73.

Vielleicht sollte man noch auf die Tatsache verweisen, dass Tarkowskij im Schlussbild von Nostalghia eine Komposition geschaffen hat, die einem Gemälde Caspar David Friedrichs frappant ähnlich ist: der Klosterruine von Eldena (1825). Eldena liegt nahe Friedrichs Geburtsort. Eine besondere Pointe ist, dass sowohl Eldena als auch San Galgano in der Provinz Siena, die von Tarkowskij gefilmte Ruine, im Mittelalter Zisterzienserklöster waren!

In Tarkowskijs Schlussbild lagert, seitlich auf den gestreckten Arm gestützt, der gestorbene Andrej Gortschakow mit seinem gleichfalls friedlich hingestreckten Schäferhund vor einer größeren Pfütze. Hinter ihm zwischen Obstbäumen die heimatliche Izba. Die langsam zurückweichende Kamera macht langsam auch die Gemäuer der umrahmenden Klosterruine San Galgano sichtbar. Zunächst war das Licht, das durch die leeren Laibungen der rückwärtigen, in Dreierordnungen gesetzten Spitzbogenfenster bricht, als Spiegelung in der Pfütze zu sehen. Ein federleichter Schneeschauer setzt ein, man hört fistelnde Stimmen wohl von Klageweibern, dann eine einsame Frauenstimme mit dem russischen Lied Kumushki, das von dem Brauch von Mädchen in Südrussland (Ukraine) handelt, Blumenkränze über die Donau (!) gleiten zu lassen, die den Geliebten erreichen sollten74. Es ist sicher kein Zufall, dass Tarkowskij ein Lied wählte, das die Donau besingt, die Ost- mit Mitteleuropa verbindet. Wasserläufe boten ihm immer wieder Anlass zu gefühlvollen Meditationen75.

Auch Friedrichs Gemälde zeigt ein kleines Haus in der zugewachsenen Klosterruine. Es ist ein Backhaus mit leicht rauchendem Kamin. Vor dem Haus steht ein Bäcker. „Das kleine Haus unter Bäumen am See./Vom Dach steigt Rauch./ Fehlte der Rauch/ Wie trostlos dann wären / Haus, Bäume und See.“ fand Brecht in einem seiner bekanntesten Gedichte. Bei Friedrich gibt es keinen See, aber bei Tarkowskij immerhin eine große Pfütze. Im Ernst, ich halte es nicht für zwingend, dass Tarkowskij das Gemälde des deutschen Romantikers als Vorlage für seine Komposition kannte. Dieses Schlussbild Tarkowskijs ist so wenig Zutat, ist so folgerichtig, poetisch folgerichtig aus dem ganzen Film entwickelt, dass ich eine völlig selbstständige Entwicklung dieser Idee durchaus für wahrscheinlich halte.

Die reiche (aber dürre, leblose) Formenwelt des Westens zusammengefügt mit dem „kleinen Haus unter Bäumen“ in Russland, das ist so etwas wie „die beiden Lungenflügel“ Europas, ein Bild mit dem der russische Gelehrte und Lyriker Wjatscheslaw Iwanow seine Situation beschrieb und das Papst Wojtyla gerne aufgegriffen hat76. Freilich ist Tarkowskij in der Gegenüberstellung von „innen“ und „außen“, Kultivierung der Innen- und der Außenwelt, spezifischer.

Sollte Tarkowskij dem Gemälde Friedrichs in Berlin begegnet sein, wird es ihn verblüfft und erfreut haben.

Das Opfer (1986)

In seinem letzten, in Schweden realisierten Film hat Tarkowskij sich unter anderem mit Friedrich Nietzsches Lehre von der „ewigen Wiederkehr“ auseinandergesetzt. Der Postillon Otto überbringt Alexander, der Geburtstag hat, ein Glückwunschtelegramm. Alexander, ein Intellektueller und ehemals bekannter Schauspieler, begleitet von seinem kleinen Sohn, unterhält sich mit Otto, der ihn auf seinem Fahrrad umkreist. Mit der Direktheit einfacher oder sonderbarer Leute rät Otto dem Intellektuellen, er solle nicht immerzu so düster sein, nicht auf irgendetwas warten: „Du sollst dich nicht sehnen nach irgendwas. Du sollst nichts erwarten, das ist das Wichtige. Man soll nichts erwarten.“ Alexander: „Was heißt ‚nichts erwarten’? Wer sagt denn, dass ich etwas erwarte?“ Otto: „Wir warten doch alle auf irgendwas. Nimm mich zum Beispiel. Mein ganzes Leben lang habe ich auf etwas gewartet. Mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, als würde ich auf einem Bahnsteig stehen. Und immer kam es mir so vor, als ob das, was gewesen ist, kein richtiges Leben gewesen ist, sondern ein – ein Warten aufs Leben, ein Warten auf etwas Wirkliches. Etwas Wichtiges. Geht’s dir nicht so?“ Alexander: „Doch. Wenn du’s so meinst, ja. …“

Dann kommt Otto auf Zarathustras Zwerg und die ewige Wiederkehr zu sprechen. Er

erklärt sich: „Hier leben wir, hier haben wir unsere Sorgen. Wir hoffen. Wir warten auf etwas. Wir hoffen, wir verlieren die Hoffnung, nähern uns dem Tode. Ja, und dann sterben wir schließlich. Dann werden wir wiedergeboren, aber wir wissen nicht, was gewesen ist. Ja, und dann fängt’s wieder an, alles von vorn! Nicht buchstäblich auf dieselbe Weise, ein klein, klein wenig anders… Aber doch so hoffnungslos. Und wir wissen nicht, warum. Ja. – Nein, übrigens doch präzise auf dieselbe Weise, buchstäblich genauso. Wie die nächste Vorstellung sozusagen. Ein bisschen komisch, was? Findest du nicht?“ Hier spielt Tarkowskij auf die Erfahrung des Films an, bei dem – im Unterschied zum Theater – eine Vorstellung der nächsten haargenau gleicht. Alexander, der sich über die philosophischen Neigungen des etwas verschrobenen Postboten wundert, nimmt dessen Ansichten nicht für voll. Er sieht darin den Versuch „ein Modell der absoluten Wahrheit“ zu konstruieren, also letztendlich den Versuch des Menschen, sich zu Gott zu machen. Otto hingegen verweist auf den „Glauben“: „Der Glaube, dass es euch gegeben ist und dass es euch so geschehen wird.“ Das lehnt sich vage an Worte über die Kraft des Glaubens aus dem Evangelium an (Mk 11,24, Mt 21,22). Hier sind die Aussagen Ottos etwas schillernd. Einerseits will er dazu bewegen, ja zu sagen zu einer Situation der Hoffnungslosigkeit und das ist vielleicht durchaus im Sinne Nietzsches. Andererseits taucht mit dem Glauben die Möglichkeit einer religiösen Bejahung des Schicksals auf. In der ersten Fassung dieser Geschichte77 sagt Alexander: „Sie sind mir ein schöner Swidrigailow…“ eine bewusst diffuse Anspielung auf einen abstoßenden Charakter in Dostojewskijs Schuld und Sühne. Gino Moliterno hat darauf hingewiesen, dass es bei Dostojewskij an anderer Stelle eine Ausführung zum Gedanken der ewigen Wiederkehr gibt. Es ist der Teufel höchstpersönlich, der spricht78 und zwar zu Iwan in Die Brüder Karamasow, im 4. Teil, Kap.12. „Du denkst immer nur an unsere jetzige Erde! Aber die heutige Erde hat sich ja vielleicht selbst schon billionenmal erneuert. Sie wurde altersschwach, vereiste, barst, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elementarbestandteile, dann war sie wieder Wasser über der Feste, dann ein Komet, dann eine Sonne, und zuletzt wurde sie aus der Sonne wieder eine Erde – diese Entwicklung hat sich ja möglicherweise schon unzählige Male wiederholt, und immer auf dieselbe Art und Weise, bis aufs I-Tüpfelchen. Eine geradezu unanständig langweilige Geschichte …“79 Moliterno wundert sich darüber, dass Tarkowskij auf Swidrigailow verweist statt auf die Brüder Karamasow, obwohl der weniger intellektuelle Swidrigailow nie von der ewigen Wiederkehr gesprochen hat. Nun, aus irgendwelchen Gründen mochte es Tarkowskij in diesem Fall nicht so direkt. Schließlich hat er ja sogar jeden Hinweis auf Dostojewskij ausgemerzt. Swidrigailow hat übrigens immerhin ein berückendes Bild von der Ewigkeit entworfen: „Uns erscheint die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen kann, als etwas furchtbar Großes! Aber warum muss sie unbedingt groß sein? Und denken Sie sich nur, wenn plötzlich statt alles dessen dort nur ein kleines Zimmer sein wird, so in der Art einer Badestube auf dem Lande, verräuchert, und in allen Ecken Spinnen, und das ist die ganze Ewigkeit. Wissen Sie, mir schwebt zuweilen so etwas vor.“ 80

Das Motiv des Kreises und des Umkreisens Alexanders durch Otto verweist auf den Bereich der Magie. „Jungchen“, Alexanders Sohn, unterläuft das auf seine Art. Er bindet Ottos Fahrrad unbemerkt mit seinem Lasso an einen Busch, was dem Rad einen Ruck gibt und den Postboten fast zu Fall bringt. Otto, der Spaß verstehen kann, macht in gespielter Wut einen Luftsprung. Dieser Ruck erinnert von Ferne an eine Szene aus dem Rubljow, bei der es zu einer Kollision von christlichem und heidnischem Weltbild gekommen war: das Christentum sieht die Geschichte linear als Heilsgeschichte, die auf einen Endpunkt der Entwicklung zuläuft, während das Heidentum einen solchen Zielpunkt nicht hat, sondern zyklisch denkt. Der Malermönch hatte sich bei einem heidnischen Fest beteiligt, das eine zirkuläre Weltsicht, den Zyklus der Jahreszeiten feierte. Beim Grauen des Morgens ist Andrej zu seinen Kameraden ans Flussufer zurückgekehrt. Er murmelt düster etwas vom Einerlei, den Wiederholungen im Leben dieser Menschen, was die Kommentierung eines Bildes kurz zuvor ist: eine trostlos starrende Alte in leicht vor und zurück schaukelnder Bewegung. Doch im gleichen Moment, in dem Andrej das sagt, tut es einen dumpfen Schlag: ein leicht rauchender kleiner Einbaum stößt gegen eines der Boote. Der Betrachter erkennt den Einbaum vom Vorabend wieder, der, mit einer Strohpuppe und einer brennenden Fackel versehen, von einem großen Spalier nackter Gestalten in den Fluss geleitet worden war. Es ging um das Ritual einer großen Überfahrt, einer leeren Transzendenz, von der nur erloschene Asche geblieben ist.

Als dann wenig später die junge Frau, die den Mönch in der Nacht zu verführen trachtete, sich vor den Häschern der Obrigkeit in den Fluss retten kann und ihn durchschwimmt, wird das demgegenüber zu einem Bild wirklicher Transzendenz, zu einem Bild der Taufe.

„Jungchen“ unterbricht also Ottos Kreisen auf dem Fahrrad mit seinem Streich. Etwas später, bei der Konversation während der Geburtstagsfeier im Haus, kommt Otto auf das ziellose Kreisen zurück, als er vom „Kakerlaken-Ritual“ spricht: „Hier kommt eine Kakerlake und läuft immerzu um den Teller herum und bildet sich ein, sie bewegt sich vorwärts, und das sehr zielstrebig.“

„Jungchen“ ist zum Schweigen verurteilt wegen einer kürzlich vorgenommenen Halsoperation, aber wir tun gut daran seine „Pantomime“ (die Alexanders pausenloses Reden begleitet) und die darin enthaltenen Anspielungen ernst zu nehmen. Denn die knüpfen an die Erwähnung Nietzsches an. Schon die Tatsache, dass der Junge sich eine zu große Strandmütze tief ins Gesicht gezogen hat, macht ihn geheimnisvoll und es liegt nahe, ihn mit dem erwähnten Zwerg aus Nietzsches Zarathustra in Verbindung zu bringen: der Geist der Schwere, den Alexander auf seinen Schultern trägt. Etwas später, als Alexander über die Verirrung der Menschheit spricht, über das Auseinanderklaffen von materiellem und spirituellem Fortschritt, tigert „Jungchen“ auf allen Vieren durch das hohe Gras. In einer Anwandlung von plötzlichem Mutwillen springt er den Vater hinterrücks an und holt sich dabei eine blutige Nase. Seine Mütze ist ihm vom Kopf gefallen und wir sehen zum ersten Mal, dass sein kurzes Haar blond ist. Ist hier nicht – in nur scheinbarer Harmlosigkeit – auf Nietzsches Verherrlichung der „blonden Bestie“ angespielt? Der Angriff auf den Vater Alexander würde zum Bild für die Auflehnung des Menschen gegen Gott, mit der der Mensch sich selbst verwundet.

Die Rebellion ist die kindliche Form einer Haltung, die beim Erwachsenen zur Gleichgültigkeit wird. Als Otto Alexander im Anbetracht der Floskeln auf einem Glückwunschtelegramm fragt: „’Gott gebe dir Glück’. Was hast du für ein Verhältnis zu Gott…eigentlich?“ antwortet der: „Ich fürchte, gar keins. Was meinst du damit?“

Später blättert Alexander im Geburtstagsgeschenk von Viktor, einem Bildband mit Ikonen, und murmelt: „Das ist wie ein Gebet. Und dann ist all das verloren gegangen. Jetzt können wir nicht mehr beten.“ Vage scheint er diesen Verlust als schmerzlich zu empfinden.

Düsenjäger fliegen dröhnend Unheil verkündend sehr tief über das Haus und lösen eine leichte Panik aus. Saubere Weingläser auf einem Tablett beben klirrend. Eine Glaskaraffe mit Milch zerschmettert auf dem Boden und die gesamte Leinwand ist mit auseinanderstiebenden Glasscherben und kaltem Weiß erfüllt.

Zu vorgerückter Stunde – und es ist durchaus möglich, dass das folgende nur geträumt ist – wird im Fernsehen eine stockende Mitteilung des Premierministers über eine hereingebrochene nukleare Katastrophe übertragen. Alexander zieht sich daraufhin in sein Obergemach zurück steht wie benommen vor der Reproduktion von Leonardos unvollendeter Anbetung der Könige (1483). Er ruft sich mit Mühe die Worte des Vaterunsers in Erinnerung und murmelt sie leise vor sich hin. Dann geht er in der Mitte des Raumes auf die Knie und ein verzweifeltes Gebet bricht aus ihm hervor. Es ist ein auch filmisch intensiver Moment: die dämmrige Ausleuchtung seines in „tierischem Schrecken“ verzerrten Gesichts in Großaufnahme. Er ist bereit alles zu opfern, was ihm lieb ist, „wenn alles wieder so wird wie zuvor, so wie heute Morgen, so wie gestern.“ Das ist die „Wiederkehr des Gleichen“, die Nietzsche vorschwebte aber als Abkehr von jeder Transzendenz, von Gott. Hier wird sie zum Gegenstand eines Gebets. Im Gebet gelingt die Bejahung des Lebens so wie es ist, nicht für sich selbst, denn Alexander will auf alles verzichten, sondern für die Anderen.

Der Film klingt auch mit einem Gebet aus, der Altarie „Erbarme Dich“ aus der Matthäus-Passion des Johann-Sebastian Bach. Wie angedeutet, war Tarkowskij der Musik dieses Komponisten verfallen, wie vielleicht E.T.A. Hoffmann der Musik Mozarts. In einem früheren Passus seines Buches nennt er Bach mit Leonardo und Tolstoj in einem Atemzug. Ihn fasziniert die Fähigkeit dieser durch Zeit und Art des Handwerks getrennten Künstler„ein Objekt von außen, von der Seite“ zu betrachten mit einem „überaus ruhigen Blick“81. Wahrscheinlich war es der Gegensatz zur eigenen extremen Subjektivität, der ihn anzog. Auch in einem seiner letzten Interviews (für den Figaro) hob er noch einmal die besondere Bedeutung dieser drei Figuren hervor, im Unterschied zu all den anderen, die ihn auch beeinflusst, beschäftigt und fasziniert haben: Puschkin, Dostojewskij, Shakespeare, Mann, Hesse, El Greco und wie sie alle heißen82. Seine Abneigung gegen bestimmte Aspekte der europäischen Musik schloss offenbar Bach nicht ein83.

Der sowjetische Filmmusiker Artemjew berichtete, dass Tarkowskij in jeder freien Minute die Musik Bachs hörte84. Wenige Monate vor seinem Tod hielt er sich etwa zehn Tage in der Anthroposophenklinik Öschelbronn auf. Zu Beginn des erwähnten deutschen Dokumentarfilms von Demant ist davon die Rede, dass er dort alte Musik hörte: immerzu „Bach, Bach, Bach“85. Das „heilignüchterne Wasser“86 dieser Musik scheint ihn bis zum Ende begleitet zu haben.

Vielleicht gibt es noch einen anderen Grund für das „Erbarme Dich“ Bachs an so prominenter Stelle.

Am 12. 8.1982 hat Tarkowskij, was selten vorkam, einen längeren Passus aus der Samizdat abgeschrieben, der in der deutschen Ausgabe der Tagebücher nicht enthalten ist:

„Nachdem jede Beziehung zur absoluten Quelle (kursiv in Tarkowskijs Text) der Menschenrechte verloren gegangen war und sie als etwas Implizites behauptet wurden, verfiel der rationalistische Humanismus in einen tragischen Widerspruch, dessen seine konsequentesten Nachfolger sich sehr bald bewusst wurden. Drei Männer: Marx, Nietzsche und Freud, jeder auf seine Weise, haben das erlaubt und keinen Stein auf dem anderen gelassen von dem blinden Glauben an die höchste Würde der Person. In ihnen hat die humanistische Revolte des Menschen gegen Gott ihre theoretische Vollendung gefunden. Der Totalitarismus in unserem Jahrhundert war nur die Anwendung der Theorie auf das Leben, der praktische Epilog des Humanismus“87. Drei Männer werden erwähnt, deren Muttersprache Deutsch war. So mochte es aus der Sicht Tarkowskijs als besonders sinnvoll erscheinen, dass die Bitte um Erbarmen in seinem Film auf Deutsch erklingt, obwohl das kirchenslawische Gospodi pomiluj der orthodoxen Liturgie kaum weniger ergreifend gewesen wäre.

Immer wieder mal erhob Tarkowskij die Forderung wahre Kunst müsse eine Katharsis, eine reinigende Wirkung entfalten88. Ob er dabei ein paar erschütterte Tränchen am Ende eines Kinobesuchs im Sinn hatte? Anderes und mehr etwas im Sinne eines anderen Slawen, des Polen Johannes Paul II, scheint er mir mit seiner Filmkunst zu ermöglichen: eine „Reinigung des Gedächtnisses“, zu der der Papst zur Jahrtausendwende eingeladen hat und die er mit seiner Kirche vorzuexerzieren versuchte mit den bekannten Bitten um Vergebung. Ob gerade wir Deutschen in dieser Hinsicht Nachhilfeunterricht brauchen? Schließlich ist immer wieder zu Recht hervorgehoben worden, wie anders in Deutschland nach dem Krieg mit Schuld umgegangen wurde als in Japan. Vielleicht hat das auch irgendwie mit dem christlichen Erbe zu tun. Und trotzdem bleibt leicht ein gefährlicher Rest, das Körnchen Wahrheit in dem ätzenden Witz: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.

Ich erinnere mich, wie mich im Film Tagebuch der Anne Frank (1959) die Überzeugung des holländischen Familienvaters getroffen hat, als immer deutlicher wurde, was die Nazis mit den Juden vorhatten: „Jetzt haben sie sich am Augapfel Gottes vergriffen!“ Vielleicht ist bei der Vergangenheitsbewältigung alles in allem Gott zu sehr aus dem Spiel geblieben. Geht das? Wie dem auch sei, ich empfehle allen Lesern, sich die wenigen Filme Tarkowskijs noch einmal anzuschauen, besonders seinen letzten.

1 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Übersetzung und Nachwort von Hans-Joachim Schlegel, Frankfurt-Berlin 1996, siehe besonders das Kapitel: Zum Verhältnis von Künstler und Publikum, S. 170- 181

2 Vida T. Johnson & Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Bloomington: Indiana University Press 1994, S. 18 “His sister remembers that the young Andrei was quiet only when reading.”

3 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 50

4 Johann Peter Eckermann , Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823 – 1832, Hg. Gustav Moldenhauer, Leipzig Reclam, o .J., 25. Januar 1830. Goethe macht sich gut gelaunt über den Dünkel vieler Leute lustig, die unvorbereitet philosophische oder wissenschaftliche Werke lesen und verstehen wollten als seien sie „ein Roman“. Dann kommt er allerdings zur zitierten epigrammatischen Zuspitzung. Unter der Hand wird bei Tarkowskij noch etwas ganz anderes daraus.

5 Tagebücher, 2.4.1972; aus praktischen Gründen werden die Tagebuchaufzeichnungen nur mit dem Datum angegeben. Im Allgemeinen beziehe ich mich auf die unvollständige deutsche Ausgabe, A. Tarkowskij, Martyrolog, Tagebücher 1970-1986. Frankfurt, Berlin 1989.

6 Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren (1916). In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen

Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hrsg. Von Jurij Striedter. 5. Auflage. München 1994

7 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 178

8 Das Glasperlenspiel begann Tarkowskij am 14. September 1970 zu lesen; er erwähnt das beiläufig am Ende eines langen Eintrags. Am 18. notiert er, er hab einem italienischen Regisseur, der eine Zusammenarbeit mit ihm wollte, empfohlen Thomas Manns Joseph-Tetralogie zu lesen (!).

9 Diesen Film wie auch die kurze Hemingway-Verfilmung The Killers kann man bei bei youTube finden

10 Der Slawist Robert Bird zitiert in diesem Zusammenhang ausführlich Pawel Florenskij, der in der Tatsache, dass es sich bei den apokalyptischen Reitern Dürers um ein Werk der Druckgraphik handelt, ein Indiz für seine Minderwertigkeit sieht. Allerdings fragt sich sehr, ob Tarkowskij zu diesem Zeitpunkt schon die Schriften Florenskijs kannte. Robert Bird, Andrei Tarkowsky: Elements of Cinema, University of Chicago-London 2008, S.95. Dürers Apokalypse hatte sehr bald überall in Europa Verbreitung gefunden, insofern ist Erwin Panofskys witziger Bemerkung zuzustimmen, die Apokalyptischen Reiter seien „inescapable“, unentrinnbar gewesen. Erwin Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, Ausgabe in einem Band, Princeton 1955, S. 59

11 Das ist eine inkorrekte Auskunft: es handelt sich um das Holzschnittporträt des Schweizer Erzkanzlers der kaiserlichen Reichsregierung Ulrich Varnbüler von 1522, eine herausragende Leistung Dürers. Vgl.: Ein kryptischer Text des Erasmus auf Dürers Varnbüler-Bildnis, http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7230/

12 “Da möchte sich ein trostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter, Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiß. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahrheit. Es gibt nicht Seinesgleichen.“ (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, zitiert nach Heinz Gockel, in Wagner – Nietzsche – Thomas Mann, Festschrift für Eckhard Heftrich, hrsg. von Heinz Gockel, Frankfurt a. M. 1993, S. 222

13 Erwin Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, a.a.O. S.153

14 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 114 f.

15 Olga Surkova. Tarkovsky and I, Moscow: Zebra E / Exmo / Decont +, 2002, S. 25. (О. Суркова. Тарковский и Я (Москва: Зебра Е / Эксмо / Деконт + , 2002, 25) Die russische Filmkritikerin berichtete in ihren Erinnerungen, dass dieses Bild: die Hand, die einen Apfel darreicht, ihrem Leben eine andere Richtung gegeben habe. Sie war 17 Jahre alt und offenbar ein sehr intelligenter Mensch: sie wollte Mathematik studieren. Nach diesem Film, nach diesem Bild wurde sie Kritikerin und hat lange Jahre mit Tarkowskij zusammengearbeitet, insbesondere bei der Erstellung des Buches Die versiegelte Zeit. Schon in der VGIK- Abschlussarbeit Die Straßenwalze und die Geige – Katok i skripka (1960) schenkt der kleine Musiker Sascha einem etwa gleichaltrigen Mädchen, wie er Musikschülerin im Konservatorium, einen Apfel; vgl.: Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Indiana University Press 1994, S. 66

16 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 35

17 Der deutsche Titel der programmatischen Schrift Die versiegelte Zeit bezieht sich auf die Apokalypse – in Anlehnung an Ingmar Bergmans Film: Das siebente Siegel.

18 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 117

19 http://www.kinematographie.de/HEFT39. Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963

20 http://www.kinematographie.de/HEFT39. Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963: „Der Zuschauer erblickt den Helden, der schon nicht mehr auf der Welt ist, und nimmt Bruchteile seines wirklichen und seines möglichen Schicksals in sich auf. Dieser letzte Traum – der Lauf über die Sandbank – wurde keineswegs deshalb gedreht, um das Finale des Films aufzuhellen (wie einige meinen); das wäre in einem Werk, in dem die Mehrzahl der Helden umkommt, falsch und geschmacklos (dass unsere Position als Filmschöpfer optimistisch ist, ist eine andere Sache.)“

21 Der Protagonist schießt mit der Maschinenpistole auf ein Bild Hitlers und es folgen darauf Bilder, die immer weiter zurückgehen zu den Anfängen des Naziwahnsinns. Am Ende sieht man ein Bild des Babys Hitler auf dem Schoß seiner Mutter. Hier hält der junge Partisan ein mit dem Schießen.

22 Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow. Die Novelle Berlin Frankfurt, Berlin 1991, S. 226 „ ‚Die Deutschen, die kennen keine Schwermut. Und wenn sie schwermütig sind, denken sie, sie wären krank’, sagte der Handwerker nachdenklich.“

23 Bei Wikipedia leider ohne Quellenangabe

24 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., auf S. 172 zitiert er Alexander Herzen: „Der Poet ist in seinen wahren Werken immer volkstümlich.“ u. S.178 „Die Formel ‚Das begreift das Volk nicht!’ hat mich schon immer ganz schrecklich empört.“ Im Kontrast dazu zitiert er auf S. 177 Puschkin: „Du bist der Zar. Leb einsam. Geh auf deinem freien Weg, wohin dein freier Geist dich treibt. Verwirkliche die Früchte deiner teuren Gedanken. Und fordere keine Belohnung für deine edle Tat. Sie liegt in dir selber. Du selbst bist dein höchstes Gericht: Strenger als alle andere vermagst du zu beurteilen dein eigenes Werk. Bist du mit ihm zufrieden, anspruchsvoller Künstler?“

25 Nostalghia.com, Topics, Tarkovsky and Japan, Kurosawa, Tarkovsky and Solaris

26 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O. S. 157 „Mit seinen wunderbaren blauen Kinderaugen entsprach Jarvet unseren Vorstellungen geradezu hervorragend.“

27 Die Klassifizierung „Herrenwitze“ ist vielleicht nicht ganz exakt, denn Herrenwitze sind mehrheitlich phallozentrisch.

28 In amerikanischen Filmen geht es sehr häufig um diese Naivität, das Böse mit Waffengewalt bekämpfen zu wollen. Im Fall Hitler-Deutschlands scheint es einmal ausnahmsweise funktioniert zu haben.

29 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O. S.114 f. Hier erläutert T. seine Sicht des Leonardo-Bildes. Robert Bird weist flüchtig auf Pavel Florenskijs Theologie der Ikone hin, die vielleicht einen Verständnisschlüssel bieten könnte; Robert Bird, Andrei Rublev, British Film Institute, London 2004, S. 79: die Ikone ist „a snapshot of the Apocalypse. It owes its truth not to the skill of the artist, but to the fullness of the reality it depicts, a reality which contains all of time, all of space, all of human endeavour and iniquity. It directs the viewer’s gaze towards eternity not as some distant future, but as the heart of today. “(Hervorhebung von mir.) Bird macht keine genauen Angaben dazu, wo er das bei Florenskij gefunden hat.

30 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O. Einleitung S.10-13

31 In diesem Sinne hat sich der Regisseur im Interview mit Charles H. de Brantes geäußert; John Gianvito, Andrei Tarkovsky Interviews, 2006, Mississippi University Press, Jackson Mississippi, S. 182

32 Wikipedia. In den Klammern Hinzufügungen von mir.

33 Als Tarkowskij in einem Interview das russische Gefühl der „Nostalghia“ erklären wollte, sprach er von einem Mitleiden mit den Mitmenschen, vgl.: S. 22 in: Enzo Natta, Andrej Tarkovskij –scolpire il tempo, S. 20 – 23, in Città Nuova, 10. Juli 1983.

34 Auch zu Beginn des Films stellt Tarkowskij eine Figur in den Mittelpunkt, die eigentlich nicht sympathisch ist: den aufdringlichen Arzt, der die Mutter in ein Gespräch zu verwickeln sucht. Übrigens wurde schon bei Tarkowskijs Abschlussarbeit von 1960 an der WGIK Die Straßenwalze und die Geige(Katok i skripka) moniert, dass der kleine Musikstudent nicht „sympathisch“ genug sei. Von Anfang an hat Tarkowskij Regeln des gesunden Menschenverstands für das populäre Medium des Films in den Wind geschlagen. Vgl. Artikel zu Katok i skripka in Nostalghia.com. Hier findet sich auch der vom WGIK festgehaltene Kommentar des Regisseurs: „I cannot use schematic language. I cannot take a positive hero through a positive external reality and make people fall in love with him instantly. I believe that it is not profound, not serious enough; art is not to be created in this way, it is not real. It is hackwork.“ Auch im Rubljow ist der junge Gehilfe Foma, dessen gewaltsamen Tod der Film eindringlich zeigt, eher eine Nervensäge, was im Widerspruch zu den Gepflogenheiten Hollywoods steht.

35 In Nostalghia.com, The Topics, Tarkovsky talks to Guerra, mainly on Stalker (1979)

36 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.53 f.

37 „Mehr oder minder handeln alle meine Filme davon, dass die Menschen nicht einsam und verlassen in einem leeren Weltbau hausen, dass sie vielmehr mit unzähligen Fäden der Vergangenheit und Zukunft verbunden sind…“ (A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.210)

38 Am 7. September 1970 legte Tarkowskij in seinem Tagebuch eine Liste möglicher Filme an. Der Film über Bormann stand an erster Stelle.

39 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 138 f.

40 Ebd. S. 139; es ist das Gedicht Leben, Leben!

41 Tarkowskijs Filme umgibt immer noch ein Halo genialischer Konfusion. Nicht nur wimmeln in Publikationen Bilder, „Stills“, die in den Filmen nicht vorkommen, auch existieren DVDs – ich nenne nicht das Unternehmen –, auf denen diese Musik schlicht nicht zu hören ist.

42 Tobias Pontara, Beethoven Overcome. Romantic and Existentialist Utopia in Andrei Tarkovsky’s Stalker, 19th – Century Music, Vol.34, No 3, (Spring 2011), S. 302-315, University of California Press

43 Maja Turowskaja u. Felicitas Allardt-Nostitz, Andrej Tarkowskij, Film als Poesie – Poesie als Film, Bonn 1981, S. 137

44 Castaneda wird in den Tagebüchern vier Mal erwähnt: 23. 12. 1978, 15. 4. 1979, 9. 6. 1980, 15. 4. 1982

45 Novalis selbst hat das übrigens klipp und klar gesagt: „Ich sehe dich in tausend Bildern,/ Maria, lieblich ausgedrückt./ Doch keins von allen kann dich schildern,/wie meine Seele dich erblickt.“ Eine bekannte evangelische Autorin und Theologin hat Maria eine Schrift gewidmet, die posthum veröffentlicht wurde. Dorothee Sölle: Maria. Eine Begegnung mit der Muttergottes, Freiburg u.a. 2005

46 Aus dem Prager Codex Speciálnik von 1510

47 Hugo von Hofmannsthal, Vorfrühling

48 Nostalghia.com, The Topics, Tributes and Homages

49 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 241

50 Maja Turowskaja, Tarkovsky. Cinema as Poetry, London 1989, S. 69: “Perhaps it is the openness, the un-Russian nakedness of his personal confession that is at fault. It is not at all in the tradition of our cinema.”

51 Nostalghia.com, The Topics, Remembering their Work with Tarkovsky, Layla Alexander Garrett, Andrey Tarkovsky –Enigma and Mystery

52 Nostalghia.com, The Topics, Featured Books, Tarkovsky vs. Tarkovsky by Olga Surkova, a preview;

Vgl. Hans-Joachim Schlegel, Der antiavantgardistische Avantgardist, München 1987, http://www.filmzentrale.com/essays/tarkowskijhjs.htm

53 Marius Schmatloch, Andrej Tarkowskijs Filme in philosophischer Betrachtung, Remscheid 2003

54 Nostalghia.com, The Topics, Tarkovsky speaks about his own movies, I am interested in the problem of inner freedom…, Stockholm interview, Jerzy Illg & Leonard Neuger

55 In dem immer noch vollständig auf youTube einsehbaren Dokumentarfilm von Ebbo Demant, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Andrej Tarkowskijs Exil und Tod, 1987, Segment 1/14, 4’ (Mitte Juli 1986)

56 Schon 1857 löste die Begegnung mit englischen Touristen in Luzern harte Gefühle bei dem 29-jährigen aus, als er die entschiedene Konventionalität der Gäste von der Insel beobachtete: „Dabei sind alle diese Menschen doch bestimmt nicht dumm und nicht gefühllos, sicherlich geht in vielen dieser erstarrten Menschen das gleiche innere Leben vor sich wie in mir. Weshalb berauben sie sich also einer der größten Freuden des Lebens – des Genusses aneinander, des Genusses am Menschen?“( http://www.derbund.ch/kultur/buecher/Das-Schlimmste-an-der-Schweiz-sind-die-Englaender/story/31095681) Bekanntlich ging dieses Ressentiment bei Tolstoj so weit, dass er einen Kreuzzug gegen Shakespeare anzettelte. 1906 erschien sein Essay über Shakespeare auf Englisch in New York. Bei aller Verehrung für Tolstoj hat sich Tarkowskij dessen Abneigung gegen Shakespeare durchaus nicht zu Eigen gemacht.

57 Leo Tolstoj, Der Tod des Iwan Iljitsch. Eine Erzählung, übersetzt von Rudolf Kassner, Frankfurt, Leipzig 2002. Schwarz wird von Tolstoj schon mit dem ersten Satz, in dem er ich erwähnt, abserviert: „Schwarzens Gesicht mit dem englischen Backenbart, seine hagere Gestalt im Frack hatten wie immer eine gewisse elegante Feierlichkeit, und diese Feierlichkeit, die stets im Widerspruch zu seiner guten Laune stand, hatte gerade hier ihren besonderen Reiz. So dachte Peter Iwanowitsch. ” (S.13 f.). Schwarz sieht beim Todesfall des Kollegen Iwan Iljitsch die abendliche Whistpartie in Gefahr und kennt keine größere Sorge. (S.16-19)

58 (Edward Artemiev: Interview TATYANA EGOROVA: “EDWARD ARTEMIEV: HE HAS BEEN AND WILL ALWAYS REMAIN A CREATOR…” http://www.electroshock.ru/eng/edward/interview/egorova/

59 Ebbo Demant, a.a.O., Ende Segment 7/14, Anfang Segment 8/14

60 Am 6. April 1982 in Rom, wahrscheinliche bei Arbeiten für Nostalghia, notierte Tarkowskij in seinem Tagebuch eine von Viktor Šklovskij überlieferte Aussage Tolstojs: „Große Kunst ist oft von ganz aktuellem Wert. Sophokles wurde dafür mit einer Strafe belegt, weil er Tausende von Zuschauern dadurch zum Weinen brachte, dass er ihnen die Lage ihre Landes vor Augen führte.“

61 Nach Solaris hat Tarkowskij konsequent Wolkenbilder vermieden, so auch hier, auch wenn er sich in einem ersten Interview lange vor Beginn der Dreharbeiten an Nostalghia von den atmosphärischen Veränderungen am italienischen Himmel sehr beeindruckt zeigte. Nostalghia.com. The Topics, Gian Luigi Rondi, A Talk with Tarkovsky (1980)

62 Roberto Calabretto hat Aufsätze über die Musik bei verschiedenen Regisseuren geschrieben. Der Aufsatz über Tarkowskij scheint mir eine eher lustlose Pflichtübung aus Höflichkeit zu sein. Zu der Behandlung Beethovens in dieser Szene ist Calabretto nichts Bemerkenswertes eingefallen. Roberto Calabretto, La musica nel cinema di Andrej Tarkovskij, S. 13-33, in L’aurora immortale. Le arti e il cinema, Hg. N. Novello, Bologna, 2004

63 Am Ende des ersten Teils des 4. Satzes, nachdem das Allegro assai alla marcia längst verklungen ist folgen einzelne Akkorde, die Tarkowskij in der Lautstärke überhöht und zerreißt.

64 Erwin Mayer: Friedrich Schiller und die Freimaurerei und seine Hymne „an die Freude“ nach Materialien aus dem Literatur-Archiv Marbach; in: Quator Coronati, Jahrbuch 36 (1999); Freimaurerische Forschungsgesellschaft e. V. Bayreuth

65 Chiara Lubich, Jesus der Verlassene und die Einheit, 2. Auflage,1992 München

66 Ebbo Demant, a.a.O, 9/14 48’’

67 Alexander Kluge, Die Brunnen der Götter. Akasha-Filmprojekt mit Andrej Tarkowskij, Chronik der Gefühle, Band I: Basisgeschichten, S. 472-478 Frankfurt a. M. 2000

68 „I’ve just come back from Venice, where I was on the festival jury, and I can testify to the complete decadence of current cinema. Venice was a piteous spectacle. To understand and accept a film like Fassbinder’s Querelle requires, I believe, a totally different type of spirituality.” Nostalghia.com, The Topics, Tarkovsky in Italy

69 Andrej Tarkowskij HOFFMANNIANA Szenario für einen nicht realisierten Film über Leben und Werk E.T.A. Hoffmanns 1976, München 1987

70 Aurélie Hädrich, Die Anthropologie E.T.A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung insbesondere für Frankreich, Russland und den englischsprachigen Raum, mit einem Ausblick auf das 20.Jahrhundert, Frankfurt 2001

71 Sara Ehsan, Intertextuelle Bezüge zum Werk E.T.A. Hoffmanns in Andrej Tarkowskijs Filmszenario „Hoffmanniana“, München 2008

72 Ebbo Demant, a.a.O., 9/14 2’25’’

73 Nostalghia.com, The Topics, Articles, M. Romadin, On Film and Painting

74 Bei youTube findet sich das Lied wie auch eine englische Übersetzung des Texts

75 „Es sind die Gewässer, die die Verbindungen halten durch die Zeitalter.“ paraphrasiert A.Kluge Tarkowskij in Die Brunnen der Götter, a.a.O., S. 477

76 Mit charakteristischer Gelehrtennaivität hat Karol Wojtyla oft nicht sehr deutlich hervorgehoben, dass dieses Bild nicht von ihm stammte, weil er das selbstverständlich als bekannt voraussetzte. Sein Nachfolger Papst Benedikt XVI. hat diese Information gewissermaßen als Fußnote bei seiner Ansprache aus Anlass der „TAGE RUSSISCHER KULTUR UND SPIRITUALITÄT IM VATIKAN“ am 10. April 2010 nachgereicht. http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2010/may/documents/hf_ben-xvi_spe_20100520_concerto-kirill_ge.html Das etwas Peinliche an der Aussage ist, dass Iwanow sie machte, als er schon zum katholischen Glauben konvertiert war: „Jetzt erst bin ich wirklich orthodox, früher atmete ich sozusagen nur mit einer Lunge.“

77 Andrej Tarkowskij, Opfer- Die Erzählung, S. 9-46 in: Andrej Tarkowskij OPFER Filmbuch, München 1987, S. 14

78 Gino Moliterno, Zarathustra’s gift in Tarkovsky’s The sacrifice, in: Screening the Past, an international refereed electronic journal of screen history, La Trobe University, Australia, Issue 12, March 2001, Fußnote 19

80 Fjodor Michail Dostojewskij, Schuld und Sühne, 2. Band, Vierter Teil, Kap. 21 bei Projekt Gutenberg http://gutenberg.spiegel.de/buch/2100/21

81 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O. S. 114

82 V. Loupan Tarkovski parle, interview, Le Figaro Magazine 25 Oct. 1986

83 Hermann Hesse, auf den Tarkowskij sich in Stalker bezog, hat auf sehr viel maßvollere Weise ähnliche Unterschiede gemacht: „Ich empfinde Beethoven absolut nicht zu Bach und Mozart gehörig, sondern als Beginn eines Niedergangs, einen grandiosen, heldischen, herrlichen Beginn, aber doch als etwas mit halb negativen Vorzeichen.“ (Brief an Ludwig Finckh, 1932) Leo Dorner, Hermann Hesse und die Musik, 1977, S. 8,

http://www.leo-dorner.net (Aufsatz) Hermann Hesse und die Musik.pdf

84Tatyana Egorova, Interview mit Edward Artemiev: “Whenever I came to his place there certainly Bach’s music was always heard. Without it Andrei just could not live. He knew by heart many of the works, collected records trying to acquire immediately all that was published in this country. His friends quite often brought records from abroad. I do not think I will violate the truth saying that Bach’s music accompanied him almost daily.” http://www.electroshock.ru/eng/edward/interview/egorova/index.html

85 Ebbo Demant, a.a.O., 1/14, 4’

86 Friedrich Hölderlin, Hälfte des Lebens

87 V.M. Borisov, Die nationale Wiedergeburt und die Nation-Persönlichkeit, Samizdat. Von mir aus der italienischen Version der Tagebücher übersetzt, A. Tarkovskij, Martirologio, Diari, Florenz 2002, S. 522

88 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 53, 197

Andrej Tarkowskij und die Kunst des Westens

Der russische Maler Romadin, der mit Tarkowskij bei verschiedenen Gelegenheiten zusammen gearbeitet hatte, berichtete einmal davon, wie ein bestimmtes Bild des venezianischen Quattrocento-Malers Vittore Carpaccio Solaris (1972) beeinflusst hat1. Die dabei gesuchten Beziehungen sind so unglaublich subtil und indirekt, dass man entmutigt sein könnte, eine so schwierige Untersuchung überhaupt zu beginnen. Aber ein Anfang muss gemacht werden und ähnlich wie bei meinem Aufsatz über Tarkowskij und die Ikonen ist der gewählte Ansatz denkbar schlicht: die in den Filmen zitierten Kunstwerke werden auf ihre bildliche Verwobenheit in die Filme hinein untersucht. Romadin erwähnte in dem genannten Text, Tarkowskij habe nichts davon gehalten, Filmbilder wie Gemälde zu komponieren. Das hat etwa Fellini versucht, oder später auch Stanley Kubrick, namentlich in Barry Lyndon(1975).

Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey(1968) haben sich Tarkowskij und Romadin vor Solaris genau angeschaut, um zu verstehen, was sie nicht wollten. Tarkowskij hat vermutlich besonders gründlich darüber nachgedacht, was die Eigenheit des Filmbildes ist. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, immer wieder auch bildhaft zu komponieren und Gemälde zu zitieren.

Iwans Kindheit (1962)

Der 12-jährige Iwan ist von einer gefährlichen Kundschaftermission hinter den deutschen Linien unter unglaublichen Gefahren und Strapazen über den Fluss ins russische Quartier zurückgekehrt. Am gesamten Frontabschnitt herrscht in dem vom Film gewählten Zeitraum trügerische Ruhe. Auch für den Jungen, der alle Angehörigen durch die Deutschen verloren hat und deshalb immer auf Rache sinnt, ergeben sich einige Tage erzwungenen Müßiggangs. Hauptmann Cholin fordert Leutnant Galzew auf, für Iwan ein paar illustrierte Hefte „mit vielen Bildern“ zu besorgen. Der kommt mit einer großen Holzkiste nach vorn und bietet Iwan verschiedenes an. Der Junge winkt mehr gelangweilt als belustigt ab: er hat im HQ drei Tage (!) die Zeit damit totgeschlagen, diese Illustrierten durchzuschmökern. Aber da ist doch etwas, was er noch nicht kennt: ein deutsches Kunstbuch mit Drucken von Albrecht Dürer. Das weckt das Interesse Iwans: „Mit Bildern?“

Man kann nur hoffen, dass sich diese Szene als prophetisch erweisen mag und das junge Kinopublikum, ermüdet von der üblichen Kinounterhaltung, die durchaus dem zerstreuten Durchblättern von Illustrierten vergleichbar ist, sich „nach ewig und drei Tagen“ der faszinierend fremden, schwarzweißen Welt etwa dieses Filmes zuwenden wird 2.

Es muss dahingestellt bleiben, wie wahrscheinlich es ist, dass sich ein solches Buch an die Front verirrt hatte und so als Beutegut in die Hände der Russen fallen konnte. Hoch anzurechnen ist dem russischen Regisseur, dass er inmitten der hasserfüllten Welt des Krieges ein solches Element einführt, bei dem die Deutschen, die „Fritz“, nicht nur als Feinde und Nazis, sondern als Kulturnation in den Blick kommen3. (Denn in den meisten Filmen über den zweiten Weltkrieg, die überall auf der Welt populär sind, nur in Deutschland aus verständlichen Gründen selten gezeigt werden, erscheinen Deutsche eher stereotyp als brutale und niederträchtige Hohlköpfe.) Freilich macht Tarkowskij so auch die Fallhöhe dieser Kultur deutlich. Die erste Abbildung, die sich Iwan eingehender anschaut, ist Dürers großer Holzschnitt zur Apokalypse (1498), Die apokalyptischen Reiter. Eine gewisse Komik kommt ins Spiel, weil Iwan die Druckgraphik prinzipiell nicht von Fotografien unterscheidet und behauptet, eine Gestalt wie den im Vordergrund auf einer klapprigen Mähre reitenden „Tod“ mal auf einem Motorrad gesehen zu haben. „Sieh nur wie sie auf den Leuten rumtrampeln!“ Auf Leutnant Galzews etwas lahmen Kommentar, dass sei nur ein Bild, stößt Iwan bitter hervor: „Ach ja? Ich kenne sie!“ Als Iwan erfährt, dass ein Porträt einen Schriftsteller darstelle4 meint er, dass könne nicht sein. Die Deutschen verbrennen Bücher, das habe er selbst gesehen. Lange danach sei noch die Asche in der Luft umher geflogen. Aber wenn der Mann vor 400 Jahren gelebt habe, dann vielleicht. Während dieser Bildbetrachtungen werden wir ständig abgelenkt: wir sehen Leutnant Galzew zu dem Tisch links hinüberspähen, an dem Cholin mit dem Soldaten Katasonow sitzt, der ein defektes Grammofon repariert. Sie besprechen die Einzelheiten ihrer bevorstehenden Expedition auf die deutsche Seite des Dnepr, bei der sie Iwan noch einmal auf eine Mission begleiten wollen. Zuletzt wird noch Dürers ominöses Blatt Ritter, Tod und Teufel, der Kupferstich von 1513, gezeigt – ohne jeden Kommentar. Es bleibt dem Betrachter überlassen, das Bild nachzuschlagen und sich über das dämonische Grinsen des Ritters zu wundern. Als Deutscher sollte man sich ob der Reverenz für Albrecht Dürer nicht von Rührung übermannen lassen, sondern diesen diskreten Hinweis zur Kenntnis nehmen, dass schon damals der Wurm bei uns drin war: in den Zeiten des Dr. Faust, der, wenn man Goethe Glauben schenken darf, „weder Tod noch Teufel“ fürchtete. Im national gesonnenen Deutschland des frühen 20.Jahrhunderts versuchte man sich damit zu beruhigen, dass immerhin „wir Deutsche Gott fürchten“, wenn auch sonst „niemanden auf der Welt.“ Wie sich dann bald erweisen sollte, war es auch mit der Gottesfurcht nicht so weit her.

Hauptmann Cholin und Leutnant Galzew schicken sich an den Raum zu verlassen, als vom Grammophon her die herrliche Stimme des Bass-Baritons Fjodor Schaljapin erklingt. Wie gebannt bleiben die Männer stehen. Katasonow verkündet mit sichtlicher Vorfreude, dass sie diese Schallplatte am Abend hören werden. Mit beidem, Bildern und Klängen, deutet Tarkowskij darauf hin, dass Film Kunst sein kann. Zuvor sahen wir wie Katasonow sachverständig an dem Grammofon hantiert, was indirekt auf den hohen Technikanteil auch des Mediums Film anspielt; und wie gesagt mündet das Hantieren in seelenvollen Gesang.

Der Dürer-Holzschnitt mit den apokalyptischen Reitern hat ein filmisches Nachspiel. Die Pferde treten das Volk in den Staub, aber wichtig für einen so empfindlich auf Textur reagierenden Künstler wie Tarkowskij sind auch die losgetretenen runden Steine überall am Boden. Das stellt eine Beziehung zu einer nicht allzu entfernten Bildersequenz her, einer poetisch verklärten Erinnerung an die unbeschwerte Zeit vor dem Krieg, die aber wie auch die anderen Traumerinnerungen nicht einfach nur sonnig ist. Wir sehen Iwan auf einem mit Äpfeln beladenen Lastwagen zusammen mit einem kleinen Mädchen, wahrscheinlich seiner Schwester. Es regnet und gewittert, aber davon unbeeindruckt sucht Iwan den schönsten Apfel, den er seiner Schwester schenken will5. Sie lehnt ab und er sucht weiter. In einem eigenartigen Reigen kommt mehrfach das Gesicht des Mädchens ins Bild, erst lachend, dann ernster und schließlich traurig. Dann die Katastrophe: ganz unvermittelt stürzt die Karrenladung Äpfel in den Sand am Strand. Hier also liegt die Beziehung zu den Steinen auf dem Holzschnitt im mit Äpfeln übersäten Sand. Der schwarze Kopf eines Pferdes ragt von rechts oben vor dem sonnenbeschienenen, nach dem Schauer dampfenden Strand ins Bild: wahllos nagt es an den Äpfeln, und so auch andere Pferde. Gerade im Gegensatz zu dem zuvor liebevoll Äpfel auswählenden Iwan (gewissermaßen eine Umkehrung der Geschichte von Adam und Eva) wird dies zu einem Bild für das fühllos waltende Fatum, für die zahllos im Krieg zerstörten jungen Leben. Tarkowskij selbst hat diese dunkle Dimension der Szene angedeutet6. Dessen ungeachtet sehen viele Betrachter sie einfach nur als zauberhaft und poetisch, was sie zweifellos auch ist (und Tarkowskijs oft sichtbare ästhetische Bewunderung für Pferde bestätigt dies), aber eben doch nicht nur. Ob der Verweis auf Dürers Apokalypse schon zu diesem frühen Zeitpunkt das spätere Interesse Tarkowskijs für die Thematik der Apokalypse ankündigt, wage ich nicht zu behaupten7. Diese ganze hier betrachtete Traumsequenz wäre dann so etwas wie die Menschheitsgeschichte gleichsam im Zeitraffer: von Adam und Eva bis zum Ende der Welt. Das Wetterleuchten der abwechselnd im Positiv und im Negativ erscheinenden Alleebäume stände für die Wechselfälle der Geschichte, der die Äpfel wählende Junge für die vom Eros beflügelte Suche nach dem Schönen. (In für Tarkowskij charakteristischer Weise ist das Mädchen auf der empfangenden Seite und spornt den jungen Mann durch hohe Ansprüche zu immer neuen Anstrengungen an.) Die zunehmende Trauer des Mädchens stände dann für das Wissen um den kommenden Tod. Tarkowskij wollte bekanntlich vom poetischen Bild, dass es die „Welt in einem Wassertropfen“ spiegelt8.

Am Ende des Films stellt Tarkowskij noch einmal eine relativ indirekte Korrespondenz zu dem Bild mit dem von Äpfeln übersäten Strand her. Nach der plötzlichen Überblendung zu Dokumentaraufnahmen von der sowjetischen Einnahme Berlins, bei der besonders die nach der Selbstverbrennung verkohlten Leichen von Goebbels und seiner ganzen Familie mit vielen Kindern schockiert, sehen wir Leutnant Galzew in einem zerstörten Gefängnis auf dem Boden verstreute Akten sichten. Man hatte mit bürokratischer Akribie Buch geführt über alle Untaten: „Erhängt.“ „Erschossen.“ „Erschossen.“ „Erhängt.“ usw. usw. Der mit Akten übersäte Boden ruft das etwas verharmlosende Bild des mit Herbstblättern bedeckten Waldbodens auf den Plan. Das ist wiederum die Brücke zu dem Traumbild mit dem von Äpfeln übersäten Strand: so viele vernichtete Leben. Dann eine schrille Fanfare, als Galzew die Akte mit dem Bild Iwans entdeckt, wobei uns der Regisseur mit charakteristischer Härte nichts erspart: unrealistischerweise „rollt“ der Kopf und wir sehen, als er anhält, Iwans hasserfüllten Blick in seinem geschundenen Gesicht. Das Schicksal eines Einzelnen hat der Film stellvertretend für viele andere vorgestellt. Eines der Wunder dieses Films bleibt für mich, dass die lichte Szene am Strand ganz zum Schluss die Furchtbarkeit der Szene in Berlin gewissermaßen aufwiegt und fast vergessen macht.

Andrej Rubljow (1966)

Man hat viel Aufhebens davon gemacht, dass Tarkowskij sich in dem Kapitel des Films Die Passion Andrej Rublows an den Gemälden Pieter Bruegels inspiriert habe. Ganz sicher ist die Tendenz, das gleichmütige Treiben der Welt im Vorder- und Hintergrund der Passion zu zeigen, etwas, was Tarkowskij bei dem Flamen aufgefasst haben kann. Aber andererseits ist das Wehklagen und die Devotion einiger der Augenzeugen (und besonders der Augenzeuginnen) doch so russisch-heftig, dass sich Betrachter wie Slavoj Zizek und der Autor der Cahiers du Cinéma, Antoine de Baecque, in ihren irreligiösen Gefühlen verletzt fühlten 9.

Andere Hinweise auf die Kunst des Westens konnte ich in diesem Film kaum finden. Doch gibt es so etwas wie einen Seitenhieb auf die moderne Kunst, der mit einem Streich die groß angelegten Bemühungen des CIA, Abstract Expressionism als die Kunst des freien Westens zu preisen, post festum desavouieren könnte10. Andrej Rubljow wird von Zweifeln blockiert: er soll das Jüngste Gericht malen, will aber nicht die Menschen mit Horror-Szenarien schrecken. Viel zu lange schon hat er nicht gemalt. Da kommt es in der Kirche, deren Wände in der Vorbereitung weiß getüncht worden waren, zu einem Ausbruch wilder Wut. Wie rasend steckt Rubljow die Hände in eine dunkle Flüssigkeit, beschmiert damit die Wand und verbirgt dann erschüttert sein Gesicht; wir sehen nur seine besudelte Hand zucken. Tarkowskij lässt die weiße Wand den gesamten Bildausschnitt füllen, das „Kunstwerk“ erscheint wie gerahmt. Das sieht sehr tachistisch oder wie Action Painting aus. Als Signatur hat Rubljow darüber einen Abdruck seiner Hand hinterlassen. Nun kommt eine (offenbar stumme) Schwachsinnige in die Kirche geirrt und bricht beim Anblick der verschandelten weißen Wand in Tränen aus. Es scheint als wolle sie diese Schmiererei ungeschehen machen: sie reibt darüber und schnuppert dann an ihren Händen, was den versteckten Humor des Regisseurs wittern lässt… Die Aussage ähnelt hier der des verrückten Domenico in Nostalghia (1983) bei seiner verworrenen Rede auf dem römischen Kapitol. Gegen Ende ruft er aus: „Aber was ist das für eine Welt, wenn ein Verrückter euch sagen muss, dass ihr euch schämen sollt!?“ Tarkowskij hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er die moderne Kunst der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts für eine Verirrung hielt11. Er wurde von dem Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegel auch deshalb als „Der antiavantgardistische Avantgardist“ apostrophiert12. Der Handabdruck („the myth of the fingerprints“, Paul Simon) ist die treffsichere Kennzeichnung einer Kunst, die nichts Höheres als die Bestätigung der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Egos kennt.

Solaris (1972)

Der Maler Mikail Romadin hat in dem eingangs erwähnten Artikel die indirekte Art erwähnt, in der Kunstwerke das Schaffen Tarkowskijs beeinflussten. Bei den Gemälden des venezianischen Malers Vittore Carpaccio (circa 1460 -1525/6) hatte Tarkowskij bei den vielfigurigen Gemälden aufgefasst, dass diese Menschen keine Notiz von einander nehmen, völlig in sich gekehrt sind. Das versuchte er in seinen Film dergestalt zu übertragen, dass der Protagonist, Kris Kelvin, zu Beginn des Films von dem strömenden Regen, in dem er steht, keine Notiz nimmt. Als der litauische Schauspieler Donatas Banionis dann doch unwillkürlich fröstelnd schauderte, war Tarkowskij enttäuscht und meinte die Aufnahme sei ruiniert. Dass Äpfel auf dem Tisch liegen (ein angebissener wird eingehend von einem Insekt inspiziert) und Regen die noch halbgefüllten Teetassen verwässert, lässt jede deutsche Hausfrau ungläubig den Kopf schütteln. Übrigens scheinen auch Iwan und seine kleine Schwester auf dem Lastwagen mit Äpfeln in Iwans Kindheit nicht im Geringsten von dem strömenden Regen in ihrer Seligkeit beeinträchtigt zu werden. Im Gegenteil: zunächst liegt das Mädchen auf dem Rücken mit in glückhafter Empfänglichkeit gespreizt nach oben gestreckten Armen. (Als das Mädchen schließlich düster dreinblickt, hat es aufgehört zu regnen und ihr Haar ist trocken!) Mir scheint, dass Tarkowskij bei dem Carpaccio-Gemälde eine Qualität auffasste, die er fortan an seinen Figuren akzentuiert hat. Eine bestimmte Art der emotionalen Introversion, die der Regisseur vielleicht als typisch russisch empfand und der Tendenz des westlichen Kinos, alles möglichst restlos zum Ausdruck zu bringen, entgegenstellte13.

Später in Solaris findet sich auf der Raumstation eine mit Kunstdrucken ausgestattete Bibliothek, die die Erinnerung an die Erde lebendig erhalten soll. Es sind ganz verschiedene Kunstgegenstände dort versammelt, aber am markantesten positioniert sind die Monatsbilder von Pieter Bruegel dem Älteren. Wirklich eingehend werden Die Jäger im Schnee betrachtet (1565, Öl auf Eichenholz, 117×162 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum) Bei einer ersten Betrachtung hören wir Hundegebell und allerlei unheimlich klirrende Geräusche. Akustisch wird also zunächst Fremdheit evoziert. Das Anheimelnde alter Bilder und insbesondere auch der Bilder Bruegels wird verfremdet. Die heimkehrenden Jäger fühlten sich nicht weniger kalt und unbehaust wie die Kosmonauten auf der Raumstation. Die drei Männer stapfen mit gesenkten Köpfen durch den Schnee, begleitet werden sie von einem Rudel dürrer Jagdhunde. Vor ihnen liegen Bauerngehöfte und ein Dorf, alles tief verschneit und in eisiger Kälte. Auf zugefrorenen Teichen vergnügen sich Schlittschuhläufer. Die Jagd war nicht erfolgreich, sie wird zu einem Bild für die Verirrung des Menschen. Bruegel schien das so zu sehen. Tolstoj, von dem Tarkowskij in seinem letzten großen Interview mit den polnischen Journalisten Jerzy Illg und Leonard Neuger sagte, dass er die für ihn bei weitem wichtigste Figur der russischen Tradition gewesen sei, war gegen die Jagd, obwohl er ihr in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, als er Krieg und Frieden schrieb, noch gefrönt hatte 14.

Wie angekündigt tritt dann eine Phase der Schwerelosigkeit ein. Der Protagonist Kris Kelvin und die wiederbelebte Hari scheinen zu den Klängen von Johann Sebastian Bachs Orgelpräludium zum Choral Ich ruf’ zu dir Herr Jesu Christ (BWV 639) eng umschlungen in das Bild hineinschweben zu wollen. Schon bei der Betrachtung des von Kris mitgebrachten Films mit Aufnahmen der nächsten Angehörigen war die gleiche Bach-Musik erklungen. Sie ist sicherlich geeignet die Sehnsucht nach Heimat und zugleich die Gewissheit der Heimkehr zum Ausdruck zu bringen. Erst diese Musik beseelt das Bild, unterstreicht seinen humanen Aspekt und gibt ihm eine Note der Zuversicht.

In den Schlussbildern des Filmes, die eine Fieberfantasie des Protagonisten zu sein scheinen, sehen wir ihn zum Haus des Vaters heimgekehrt. In der Einrichtung des Hauses können wir eine Anspielung auf das Jägerbild finden: ein Jagdhorn hängt an der Wand. Der Vater wird im Haus von Regen durchnässt (ein dezenter Hinweis auf Tränen?) Seine Jacke dampft im Regen und Sonnenschein – wieder die unmögliche Verbindung von Regen und Sonne, von Wasser und Feuer, die bei Tarkowskij in Iwans Gewittertraum zum ersten Mal aufschien und immer wiederkehren sollte. Kris Kelvin fällt vor dem Vater auf die Knie und sucht bei ihm Geborgenheit. Eine Geste, die in ihrer monumentalen Einfachheit eindeutig auf Rembrandts Bild von der Rückkehr des verlorenen Sohnes anspielt, das sich pikanterweise mitten in der Sowjetunion in der Eremitage von St. Petersburg, damals noch Leningrad, befand und befindet. (1668, Öl auf Leinwand, 262x 206cm)

Die Kamera fährt zurück und wir verstehen, dass das Vaterhaus mitten im Ozean von Solaris liegt.

Begreiflicherweise hatten die sowjetischen Behörden einiges an dem Film auszusetzen, man machte es dem Regisseur zur Auflage Anspielungen auf Gott und Christentum auszumerzen, aber Tarkowskij widerstand erfolgreich diesen Bevormundungen.

Der Spiegel (1975)

In diesem Film erscheint wie in Iwans Kindheit ein Kunstbuch, dieses Mal mit Reproduktionen von Werken Leonardo da Vincis. Der Meister der Hochrenaissance hatte für Tarkowskij eine immer größere Bedeutung. Neben dem Regisseur Robert Bresson, Johann Sebastian Bach und Leo Tolstoj war er eine der Persönlichkeiten, die ihn bis zu seinem Lebensende prägten15. Im Film blättert Andrej als kleiner Junge in diesem Kunstbuch, die Vorlieben von irgendjemandem sind angedeutet, indem ein getrocknetes Baumblatt eingelegt wurde, etwa bei der Studie für den Christus des Abendmahls.

Eine zentrale Bedeutung bekommt in dem Film das Porträt einer jungen Frau vor einem Wacholderstrauch, dessen Eigenhändigkeit umstritten ist. (die sogenannte Ginevra Benci, 1474-1478, Öl und Tempera auf Holz, 38,5x 36,7cm, National Gallery, Washington D.C.). In seinem Buch kommt Tarkowskij auf dieses Bild zu sprechen16. Er beschreibt die Ambivalenz der Wirkung dieses Porträts in eindringlichen Worten. „In ihr gibt es etwas unerklärlich Schönes und etwas ausgesprochen Teuflisches, was zurückschrecken lässt.“ Die bleibende Faszination liege darin, dass sich diese verschiedenen Momente nicht auseinanderdividieren lassen. Im Film erklingt dabei ein Bachrezitativ, wo es heißt: „Der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.“ Also wurde das Allerheiligste sichtbar. Im Film fällt dieses Zitat mit dem Augenblick zusammen, als der von der Front heimgekehrte Vater Sohn und Tochter in den Armen hält.

Das Porträt habe, so Tarkowskij, die Dimension des Ewigen in den Film eingeführt. Außerdem habe es eine Beziehung zur Protagonistin des Films, der Schauspielerin Margarita Terechowa, hergestellt, die ebenfalls anziehend und abstoßend zugleich sein konnte.

Vielleicht können wir hier verstehen wie der Film zum Spiegel werden konnte, denn der Betrachter lässt die Ambivalenz auf die Dauer nicht gelten, er entscheidet sich für eine Deutung des Ausdrucks. So soll der Film zur Spiegelung der eigenen Wirklichkeit werden. Der Film wird als Spiegel zum Gericht. Wieder gewinnt man den Eindruck, dass bei Tarkowskijs Kunstauffassung eine Dialektik im Spiel ist, die ihn in Widerspruch zu der offiziellen Kunstauffassung im Sozialismus treten ließ. Der Sozialismus verlangte von der Kunst Parteilichkeit. Im dialektischen Widerspruch dazu wollte Tarkowskij, dass seine Kunst das ganze Leben abbilde, ohne zu offenkundig Partei zu ergreifen: nicht einmal für das Gute und gegen das Böse, für das Licht und gegen die Finsternis. Ich muss gestehen, dass dies einer der Aspekte in der Kunstauffassung Tarkowskijs ist, bei denen mir Fragezeichen bleiben17. Bis zuletzt hat Tarkowskij bei der Komposition seiner Filmbilder diese „Tendenz gegen die Tendenz“ beibehalten. So kommt es, dass es bis zum heutigen Tage Interpretationen etwa von Tarkowskijs letztem Film Opfer gibt, die in ihm ein Plädoyer für Nietzsches Willen zur Macht und der ewigen Wiederkunft sehen. Wie es im Johannesevangelium heißt, wir werden nicht gerichtet, sondern wir richten uns selbst.

In einer anderen Episode des Films geht es um eine Schießübung bei der paramilitärischen Ausbildung von Jungen während des Krieges. Einer der Jungen, Asafiew, weigert sich zu funktionieren, widersetzt sich dem Ausbilder. Dieser Junge hat die Blockade von Leningrad überlebt und seine Angehörigen verloren. Mit der Attrappe einer Handgranate gelingt es ihm den Ausbilder und die Kameraden in Angst und Schrecken zu versetzen, sie gewissermaßen an seinen Erfahrungen Anteil haben zu lassen. Der klirrende Frost, in dem diese Szene spielt, vermittelt vor allem die emotionale Kälte, die Abwesenheit des Mütterlichen. Als die Handgranate über die Holzpaneelen rollt, werfen sich alle auf den Boden. Dem Ausbilder fallen die Mütze und auch ein Kunststoffschutz vom Kopf. Ihm fehlt offenbar ein Stück der Schädeldecke und wir sehen ein pochendes Pulsieren unter einer Narbe. Der so kalt und hartherzig wirkende Mann zeigt sich auf einmal selbst als verletzlich und schutzlos. Das allgemeine Mitleid, von dem Tarkowskij gelegentlich sprach18, kommt uns an.

Etwas später sehen wir diesen unglücklichen Jungen vor einer mit vielen Menschen belebten weiten Winterlandschaft. Diese Szene ist häufig als Zitat des Bruegel-Gemäldes, das in Solaris gezeigt worden war: Die Heimkehr der Jäger im Schnee (s.o.) angesprochen worden. Tarkowskij selbst hat bekannt, dass er in dieser Szene die Nähe zu Bruegel gesucht habe19. Ich möchte aber noch eine andere Beziehung hervorheben, die für Tarkowskij wichtig war und die weniger offensichtlich ist. In Die versiegelte Zeit spricht er von den vielfigurigen Bildern des venezianischen Meisters Vittore Carpaccio. Als das Besondere von dessen Kunst hat er die Tatsache hervorgehoben, dass jeder der vielen dargestellten Menschen Mittelpunkt des Ganzen sein könne20. Vielleicht sah er etwas Ähnliches auch bei Bruegel. Genau darum scheint es in dieser Szene zu gehen: ein Sperling fliegt herbei und setzt sich auf den Kopf des Jungen. Ein poetischer Hinweis darauf, dass er gemeint ist, dass an ihn gedacht ist. Und das gilt auch für einen Jungen, dem das Leben alles versagt zu haben scheint, der nicht hübsch oder sympathisch ist21. In der nur für diesen Film Tarkowskijs typischen Collagetechnik ist diese Szene unmittelbar umgeben von Bildern weltgeschichtlichen Schreckens: die Leiche Hitlers, eine schrecklich vervielfältigte Maobüste, Atompilze. Offenbar muss man das als Behauptung verstehen, dass diese Aufmerksamkeit für den Einzelnen trotz all dieser Schrecknisse besteht22. Im Film Stalker (1979) wurde, wie schon gezeigt, die Dreifaltigkeitsikone wichtig. Die Kunst des Westens kommt nur sehr am Rande vor, wie die Reproduktion vom Johannes dem Täufer am Genter Altar des Jan van Eyck und Rembrandts Radierung mit den drei Bäumen als Anspielung auf die Dreifaltigkeit, die von Wasser bedeckt in der Zone herumliegen. Die Deesis des Genter Altars mit Maria und dem Täufer zu Seiten des Pantokrators schlägt die Brücke zur byzantinischen Kunst, zur Kunst des Ostens.

Nostalghia (1983)

Zu diesem Film liegt eine Dissertation von Julia Selg vor, die nachzuweisen sucht, wie vielfältig Tarkowskij hier die Kunst der alten Meister zitiert.23 Mein Eindruck ist sehr zwiespältig. Einerseits geht die Autorin mit einer Genauigkeit der Beobachtung an den Film heran, der Maßstäbe setzt, andererseits überzeugt mich nicht, Tarkowskij habe kryptisch und „dislozierend“ zitiert. Man könnte sagen, der Film Nostalghia nehme eine Sonderstellung ein, weil er in Italien realisiert wurde und die Meister der Renaissance allgegenwärtig sind. Gerne gebe ich zu, dass Eugenia als Typ mit ihrer rötlich-blonden Lockenpracht an die Renaissancekunst Italiens erinnern soll. Als sie ihr Haar hochgesteckt in einem Barett verborgen hat und sich vor einem rundbogigen Türrahmen ins Profil wendet um Sosnofskijs Brief zu lesen, erinnert das von ungefähr an eine Madonna (alias Lucrezia Buti) von Filippo Lippi (freilich seitenverkehrt: 1465, Florenz Uffizien), bei der die unendliche Zärtlichkeit, mit der fra Filippo Lippi ihren Kopfschleier gestaltet hat, noch sehr viel von der feinen Geistigkeit des Mittelalters enthält. Möglicherweise aber steht auch die lesende junge Frau des von Tarkowskij so bewunderten Carpaccio im Hintergrund. (Das Bild in der National Gallery of Art, Washington DC, konnte er nur als Reproduktion kennen, aber nachweislich beeindruckten ihn auch Reproduktionen.) Er hat hier eher so etwas wie eine Synthese von Renaissanceeindrücken geschaffen. Vielleicht geht es noch an, ein Zitat von Botticellis Venus in der Szene zu sehen, als Eugenia am Fenster in Gortschakows Hotelzimmer ihre Brust entblößt24, aber in Eugenias misslungenem Versuch in der Krypta niederzuknien Anspielungen auf Matthias Grünewalds Verkündigung vom Isenheimer Altar und zwar sowohl auf den Engel als auch auf Maria zu sehen, geht zu weit25.

Bei der Madonna del Parto Piero della Francescas öffnen zwei Engel weit das die Madonna überwölbende Zelt. Die hochschwangere Madonna scheint sich analog dazu anzuschicken vor ihrem Leib das blaue Gewand zu öffnen, hinter dessen langen von der Brust bis zur Scham reichenden Spalt das weiße Untergewand sichtbar wird. Das ist eine Anspielung auf ihren sich zur Geburt öffnenden Leib, die wegen ihrer elementaren Direktheit einen starken Eindruck hinterlässt. Genau dieses Motiv des Öffnens eines zugenähten, oder zugeknöpften Gewandtuches greift Tarkowskij vor dem Gnadenbild auf. Eine der in der Bittprozession versammelten Frauen öffnet den das Gnadenbild verhüllenden Vorhang mit leichter Gewalt und dann schwirren zwitschernde Vögel hervor: „la veloce fiamma dei passeri“ wie es in einem frühen Gedicht von Mario Luzi heißt: „die schnelle Flamme der Sperlinge“26. Um zu erfahren, ob die von den Frauen gemurmelte Litanei, die die Segen der Mutterschaft beschwört, auf eine Vorlage zurückgeht oder ein Werk Tarkowskijs ist, müssen wir die weiteren Veröffentlichungen des Istituto Andrej Tarkowskij in Florenz abwarten.

Sehr viel später im Film wird noch einmal eine hochpoetische Beziehung zur Madonna del Parto hergestellt. Als der Verrückte Domenico auf der Piazza del Campidoglio seine wirre Ansprache beendet hat, findet er in seiner Manteltasche einen Zettel und er bemerkt, dass er noch etwas vergessen hat. Er ruft aus: „O Madre, o Madre! L’aria è quella cosa leggera che ti gira intorno alla testa. E diventa più chiara quando ridi. (Oh Mutter! Oh Mutter! Die Luft ist jene leichte Sache, die sich um deinen Kopf dreht. Und sie wird noch heller, wenn du lachst!)“ Wenn man sich im Film Nostalghia umschaut, worauf sich diese Aussage beziehen könnte, kommt meines Erachtens nur eine Nahaufnahme der Madonna del Parto in Frage, die direkt nach dem „Wunder“ in der Krypta eingefügt ist27. Sie zeigt Piero della Francescas überaus subtil gestaltetes Licht auf dem Gesicht der Madonna. Zunächst wirkt Domenicos Formulierung alles andere als poetisch. Die ungreifbare, unsichtbare Luft mit „quella cosa“ zu bezeichnen, teilt ihr eine ungelenk wirkende Sperrigkeit mit. Tarkowskij hat den Nimbus der Madonna über ihrem Kopf, dem vom Renaissancemaler eine tellerartige Solidität gegeben wurde (für den von Rubljow kommenden Russen vielleicht der Anfang spiritueller Barbarei), und das auf ihrem Haar in schwingenden Kurven gewundene helle Band zum Ausgangspunkt für eine Vorstellung genommen, die die Luft um den Kopf in Bewegung bringt und in einer noch größeren Helligkeit kulminiert, wenn sie lacht. Die sonnenklare Nüchternheit und feine Geistigkeit der Madonna del Parto wird so unverhofft überhöht. Im Anbetracht der Melancholie, die gerade diesen Film durchtränkt, und der Tatsache, wie die Szene auf dem Kapitol beklemmend absurd in einer Verzweiflungstat mündet, nimmt dieses Intermezzo mit dem in der Manteltasche vergessenen Zettel doch sehr wunder. Vielleicht stoßen wir hier wieder auf die Aussage Gortschakows über Domenico: „Er ist nicht verrückt, er hat Glauben.“ Schon in Iwans Kindheit findet sich am Ende die extreme Entgegensetzung der furchtbaren Montage von Iwans rollendem Kopf, dem Foto mit seinem von Misshandlungen entstellten Gesicht und dem hasserfüllten Blick auf der einen Seite gegenüber den verklärenden Bildern vom Versteckspielen am Strand und dem Lauf ins von Licht flirrende Wasser – in meiner Deutung ein Hinweis auf den Glauben an die Unsterblichkeit28.

Wohl etwas voreilig war ich zu der Überzeugung gekommen, dass Tarkowskij in Nostalghia in keiner Weise auf Michelangelos Gestaltung der Piazza di Campidoglio Bezug genommen hat. Aber ist es wahrscheinlich, dass jemand wie er ohne wenigstens einen kurzen Gruß in Richtung des verantwortlichen Meisters diesen Platz betritt? Michelangelo hat das antike Reiterstandbild des stoischen Philosophenkaisers Mark Aurel, das in der antikenfeindlichen Zeit und im Mittelalter nur überdauern konnte, weil man in ihm irrtümlich Kaiser Konstantin zu erkennen glaubte, ins Zentrum des Platzes gerückt und diesen zum Symbol der weltlichen Macht im caput mundi gemacht. Da hat Tarkowskij seinen Helden Domenico gern hinauf geschwungen, und man staunt wie er die Erlaubnis dazu bekommen haben mag. Das Reiterdenkmal, das man mittlerweile vor Abgasen in Sicherheit gebracht hat, war damals zu Restaurierungszwecken mit Metallrohren eingerüstet, was aber den poetischen Höhenflug des Russen nicht aufhalten konnte. Im Gegenteil: als der Wirrkopf Domenico nach seiner angeblich tagelangen und deshalb laut Eugenia an Fidel Castro erinnernden Predigt schließlich unbeirrbar Feuer an sich legt und hinter dem wegweisenden Kaiser stehend in Flammen aufgeht, erinnert das Ensemble für einen Augenblick an einen mit Feuerzungen beflügelten Pegasus. Ein utopischer Slogan vom Pariser Mai 68 war somit für die Nachwelt gerettet: „Die Phantasie an die Macht!“

Das Stichwort Slogan leitet über zu dem wirklichen Anknüpfungspunkt mit Michelangelo. Ich meine nicht die paar kleinen Pappkartons, deren Aufschriften, wie an anderer Stelle erörtert, zum Teil Zeugnis geben von Tarkowskijs grimmig-zärtlichem Humor, sondern das eigenartige Spruchband, das über den ganzen Platz der Länge nach verhängt ist. Auf den ersten Blick könnte man meinen, man habe hier langärmelige weiße Unterhemden vor sich, die an den Ärmeln miteinander verknotet sind. Dem ist wohl nicht so. Aber diese Anmutung ist wichtig, greift sie doch eine Aussage aus der Rede Domenicos auf, der seine Zuhörer auffordert: „Ihr so genannten Gesunden und ihr so genannten Kranken müsst Hand in Hand gehen…“ was in zerreißendem Gegensatz steht zur Vereinzelung und Erstarrung der auf Platz und Treppen Versammelten. Michelangelo kommt ins Spiel mit dem genialen Entwurf der geometrisch auf die leicht ansteigende Platzmitte mit dem Denkmal hin geordneten Musterung durch weiße Steinbänder. Diese ovale Musterung ist ästhetisch so faszinierend, dass sie etwa auf der italienischen 50-Cent-Münze nach einem Volksentscheid von 1998 unters Volk gebracht wurde. Für Jahrhunderte war sie nur auf einem Kupferstich des Étienne Dupérac von 1568 zu bewundern. Bedenklich stimmen mag, dass sie just 1940, im Zeitalter imperialer Machtträume Italiens, auf dem Platz durchgesetzt wurde. Tatsächlich erinnert sie mit den einander durchdringenden Bögen, die sternförmig in Spitzbögen auslaufen und mit den zu den Rändern wachsenden, viereckigen, kristallin klaren dunklen Feldern an moderne Vorstellungen von Kraftfeldern. Mark-Aurel, der Philosophenkaiser, der, wie Joseph Brodsky bemerkte, „von allen römischen Kaisern die beste Presse hat“29, erscheint so im Zentrum der Macht, eben eine Versinnbildlichung Roms als Haupt(stadt) der Welt. Die von Tarkowskij eingeführte Lesart geht gegen den Strom des faschistischen Fahrwassers. Denn die sich überschneidenden weißen Steinbänder erinnern gleichermaßen an ein Netz. Und genau darauf spielen Tarkowskijs verknotete „Hemdsärmel“ über dem Platz an: ein Netzwerk von Gesunden und Kranken. Er bietet sozusagen einen linken Leseschlüssel, wie überhaupt die ganze Aktion etwas ausgesprochen Zeitgenössisches hat, als sei Tarkowskij bei Performance-Künstlern in die Schule gegangen30. Bemerkenswert, wie ganz anders die Tuchfühlung mit den beiden anderen im Schlusschor der Neunten Symphonie herbeizitierten Genies Schiller und Beethoven ausgefallen ist. Nachdem Tarkowskij die Kühnheit begangen hatte immerhin die europäische Hymne ins Spiel zu bringen, blieb ihm aus Zeitgründen fast keine andere Wahl, als sie zu misshandeln, sie intelligent zu brechen31. In seinem Kommentar zu Michelangelo hingegen wird die Vollkommenheit des Musters durch den Kontrast zum hässlich zerfetzten Transparent noch gesteigert. Der Regisseur stellt die Beziehung überaus lässig, low-key her. Er hätte den Platz aus der Vogelperspektive zeigen können, die er in anderen Filmen gerne eingeführt hatte. Nichts dergleichen. Das kunstvolle Pflaster des Platzes kommt nur am Rande ins Bild. Wieder vertraute der ungemein sichere Regisseur auf die Langzeitwirkung seines Films. Eine der wirren Forderungen Domenicos lautet in etwa, man müsse die Seele ausdehnen wie ein weißes Tuch über die ganze Welt. Das erinnert zum einen an die berühmte Pokrov-Ikone, die in seinem früheren Film Andrei Rubljow wichtig geworden war32, bei der Maria ein meist weißes Tuch „zum Schutz“ der Menschen über ihren ausgebreiteten Armen trägt. Gemeinsam mit dem verknoteten Tüchern und Michelangelos Muster ruft es freilich auch zu einem weltweiten und seelenvollen Netzwerk auf.

Aber ist die Beziehung zwischen dem verknoteten Spruchband und der Platzmusterung tatsächlich so zwingend? Sie drängt sich sicher nicht auf, schließlich habe ich mehrere Jahrzehnte leben können, ohne sie wahrzunehmen. Doch sind solche kaum merklichen Fingerzeige Denkzettel für uns Westeuropäer, die ich nicht missen möchte.

Schon 1970 hatte Tarkowskij von einer solchen Protestaktion in seinem Tagebuch geschrieben. Die plakativen Aussagen sind merkwürdig unpolitisch, fast zeitlos. Auf einem der Schilder steht schlicht: Pensate! Denkt! Wirkliches, eigenständiges Denken scheint zu allen Zeiten Mangelware gewesen, aber seine Dringlichkeit in der Gegenwart besonders geboten zu sein. Auf einem anderen ist unauffällig das ostasiatische, taoistische Yin und Yang-Symbol angebracht, das dann in Tarkowskijs letztem Film Opfer wichtiger wurde. Und, wie gesagt, dann auch eine unfreiwillig komische Ankündigung des Endes der Welt. Das Spruchband können wir überhaupt nur ganz allmählich entziffern, weil die Kamera langsam zurückweicht und das Blickfeld sich weitet. Auf die rechteckigen Tuchfetzen sind Wortfetzen geschrieben, zuerst liest man: MATTI SIAMO –Verrückt sind wir. Schließlich wird daraus: NON SIAMO MATTI – SIAMO SERI „Wir sind nicht verrückt – wir sind ernst.“ Schon die Aufnahmen von Ikonen am Schluss von Andrei Rubljow hatten in ähnlicher Weise als Metapher für den ganzen Film gewirkt, denn unverständliche Nahaufnahmen schlossen sich dann zum großen Gesamtbild zusammen. So auch hier: es braucht Zeit, Distanz, damit sich der Sinn des Ganzen erschließt. Mit Verrücktheit und Ernst sind die beiden Qualitäten benannt, mit denen Tarkowskij aneckte. Ich erinnere mich an das Urteil eines von mir sehr geschätzten Mannes mit vielleicht dem Manko einer etwas einseitig rationalistischen Tendenz und einer zu rückhaltlosen Verehrung des so genannten „gesunden Menschenverstandes“, der damals als dieser Film in die Kinosäle kam, allen Ernstes meinte, der Regisseur sei verrückt. Und Tarkowskijs Ernst lässt ihn als einen Fremdling unter den müde witzelnden Damen und Herren der Postmoderne erscheinen, deren unentwegtes Gegluckse Neil Postman schon vor etlichen Jahren vergeblich geißelte33. Er konnte sich auf einen der bekannten Weherufe berufen: Wehe euch, wenn ihr jetzt lacht… Dass Verrücktheit und Ernst hier als Alternativen erscheinen, kann kaum Tarkowskijs Ernst gewesen sein. Denn die Szene auf dem Kapitolsplatz beginnt mit bedrückenden Nahaufnahmen von wirklichen Kranken, deren Gesichter zum Teil von Trostlosigkeit gezeichnet sind.

In der Schlussmontage von Nostalghia sehen wir das Holzhaus in der russischen Heimat umgeben von der Ruine der Zisterzienserabtei San Galgano bei Siena. Es ist auf die große Nähe zu einem Bild von Caspar-David Friedrich Die Klosterruine von Eldena (1825, Alte Nationalgalerie, Berlin) hingewiesen worden. Die Ruine bei Friedrich ist völlig zugewachsen, aber in ihrer Mitte geht das Leben weiter. Man sieht Bewohner vor einem Bauernhaus. Der in Amerika lehrende Brite Robert Bird kommentierte diesen Sachverhalt etwas verständnislos34, was nicht sehr überrascht. Dieses Ineinander von Natur und Kultur, Natur und Geschichte, das als Heimat erlebt wird, ist etwas für Old Europe Typisches. Freilich bin ich gar nicht sicher, ob man davon ausgehen muss, dass Tarkowskij dieses Bild Caspar David Friedrichs gekannt hat. Im erwähnten Dokumentarfilm von Ebbo Demant35 ist von einem Besuch in der Alten Nationalgalerie in Berlin die Rede und die gefühlsbetonte Begegnung mit den Werken Caspar-David Friedrichs wird hervorgehoben, doch das war nachdem Tarkowskij Nostalghia schon fertig gestellt hatte. Außerdem tut man gut daran die Aussage des russischen Malerfreundes Romadin in Erinnerung zu behalten, der ausdrücklich hervorgehoben hat, dass für Tarkowskij in der bildenden Kunst die klassische Tradition mehr bedeutete als die romantische36. In einem Interview 1985 mit zwei polnischen Journalisten37, für die der Tradition ihres Landes entsprechend der Begriff der Romantik viel bedeutete, hat Tarkowskij mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, dass mit diesem Begriff nichts Wesentliches über die russische Tradition gesagt sei und er sich nicht als Romantiker sah. Andererseits ist verständlich, dass Caspar-David Friedrich auf ihn stark gewirkt hat wohl wegen der Melancholie seiner Kunst, die vielleicht mit einer östlichen, westslawischen Unterströmung zu tun hat. (In Tarkowskijs und Andrej Kontschalovskijs „Novelle“ Andrej Rubljow 38 heißt es im Gespräch einmal, dass „die Deutschen die Schwermut nicht kennen.“ Das wird als eine exotische Kuriosität erwähnt.)

Die Schlusseinstellung von Nostalghia ist von Tarkowskij selbst in seiner Schrift mit dem Vorbehalt kommentiert worden, dass dieses Bild etwas leicht Literarisches an sich habe39. Wie meist ist das Bild mindestens doppeldeutig: einerseits kann es die Zerrissenheit des russischen Protagonisten bedeuten, die zwangsläufig zu seinem Ende führt, andererseits kann es auch ein Sinnbild sein für eine untrennbare Einheit von russischer Innerlichkeit und den altehrwürdigen Formen der europäischen, insbesondere der italienischen Kultur. Diese Einheit wäre auseinander geschlagen worden, so Tarkowskij, wenn Gortschakow nach Russland zurückgekehrt wäre. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, dass Tarkowskij unabhängig von dem Gemälde des deutschen Romantikers zu diesem Schlussbild gefunden haben könnte, aus der inneren, poetischen Anlage seines Filmes heraus.

Opfer (1985)

In Tarkowskijs letztem Film Opfer kommt einem unvollendeten Werk des Leonardo da Vinci eine herausragende Bedeutung zu, der Anbetung der Könige (1481-82). Dem Dokumentarfilm Regie Andrej Tarkowskij (1988) von Michal Leszczylowski ist zu entnehmen, dass dieses Bild erst relativ spät Eingang gefunden hat in den Film. Zuvor hing die Kopie eines Rundreliefs Michelangelos, des Tondo Pitti (1503-04), an der Wand, bzw. später Leonardos wiederum unvollendeter Büßender Hieronimus (1480-82). Dessen ungeachtet ist der Beitrag der Anbetung der Könige zum Film keineswegs beiläufig. Im Vorspann des Films erklingt die Altarie aus Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion Erbarme Dich (BWV 244, entstanden 1727 oder 1729) und die Kamera konzentriert sich auf einen Ausschnitt des Bildes, der einen auf die Knie gefallenen greisen Magier zeigt, wie er dem göttlichen Kind eine Schatulle reicht. Das Kind greift sehr verständig nach dem Knauf des Deckels, wohl um die Schatulle zu öffnen. Die kelchartige Schatulle könnte das schmale Œuvre des Regisseurs als DVDs enthalten. Zur Zeit der Entstehung des Films gab es noch keine DVDs, was nur wieder ein Hinweis auf die prophetische Dimension im Werk Tarkowskijs sein könnte. Scherz beiseite, dieses zu Beginn des Films lang gezeigte Detail macht zusammen mit der Arie deutlich, dass Tarkowskij diesen Film (wie vielleicht sein ganzes Werk) als Gebet verstand. Tarkowskijs Denken kreiste um die letzten Dinge, die Apokalypse, worauf auch der deutsche Titel seines Buches Die versiegelte Zeit hindeutet40. Die Filme sind versiegelte Zeit und der von Tarkowskij immer viel beachtete und bedachte Ingmar Bergman hat in Anlehnung an die Apokalypse einen seiner bekanntesten Filme Das siebente Siegel (1957) genannt. Man kann das unbescheiden finden, aber Tarkowskij war in seiner Kunst immer auch „unmittelbar zu Gott“.

Im Innern des Films spielt die Reproduktion des Leonardobildes hinter spiegelndem Glas auch noch eine Rolle. Der Postbote Otto, eine leicht zwielichtige und verwahrloste Figur (Jacke und Hose dunkel mit weißen Socken in schwarzen Sandalen, was irgendwie an die Flügelschuhe des Götterboten Hermes erinnert) besucht abends Alexander, die Hauptfigur des Films im Obergemach des Hauses. Im Fernsehen war schon die Schreckensnachricht vom Ministerpräsidenten über eine hereinbrechende Atomkriegs-Katastrophe zu hören. Wir sehen ihre alarmiert und irgendwie verstört wirkenden Gesichter in Richtung des nur undeutlich zu erkennenden Leonardobildes blicken. Otto findet das Bild sehr düster und gibt seinem tiefen Erschrecken vor Leonardo Ausdruck. Er ziehe Piero della Francesca vor. Offenbar haben wir es hier mit einer einigermaßen rätselhaften Selbstkommentierung Tarkowskijs zu tun. In Nostalghia nimmt, wie gezeigt, Piero della Francesca einen Ehrenplatz ein. Andererseits hat Tarkowskij oft genug gesagt, dass seine rückhaltloseste Bewunderung Leonardo da Vinci galt. Was ist an diesem Bild Leonardos so erschreckend, und warum soll Piero beruhigender sein? Das Bild der Anbetung wird im Film nie vollständig und deutlich gezeigt; der selbstbewusste Regisseur vertraute wieder darauf, dass sein engagiertes Publikum selbstständig seinen Fingerzeigen nachginge.

Leonardo hat das Bild als Dreißigjähriger unvollendet zurückgelassen, als er 1482 Florenz in Richtung Mailand verließ. Vielleicht blieb das Bild unvollendet, weil verschiedene seiner Einzelheiten den Mönchen, die diesen Auftrag gegeben hatten, nicht ganz geheuer waren. Es herrscht ein beträchtliches Getümmel, links im Hintergrund sehen wir Ruinen teils eingestürzte, teils von Bäumen bewachsene Gewölbebögen. Das findet sich ähnlich auf Sandro Botticellis etwas früherer Anbetung der Könige (Florenz Uffizien, ca. 1475, 111cm x 134cm, Öl auf Holz) und ist so zu deuten, dass die alte Zeit zerfällt, während mit Christus eine neue Welt anbricht. Eine besondere Pointe bei Leonardo sind die Treppen, die auf das eingestürzte Gemäuer hinauf und so gewissermaßen ins Leere führen. Es wird die Vergeblichkeit des Hochhinauswollens konstatiert, also eine Behauptung getroffen, die auch für die eigene Gegenwart gelten soll. Rechts hinten erkennt man undeutlich Rosse und Reiter im Kampf; auch unter den Ruinen links ist ein Getümmel von Reitern angedeutet. Vor einer kleinen mit einem Baum bewachsenen Kuppe sitzt die Madonna mit dem Kind, umringt von wohl höfisch gekleideten Menschen. Einige alte Männer, die Magier, sind in Furcht und Schrecken auf die Knie gefallen oder einer hält sich die Hand über die Augen, als sei er geblendet. Es ist eine alte Tradition, dass der älteste der Könige vor dem Kinde kniet, was ein besonderes Pathos mit sich bringt. Hier sind gleich mehrere alte Männer niedergestürzt und die teils ausgezehrten Gesichter haben etwas von jener terribilità, für die etwa dreißig Jahre später der jüngere Michelangelo bekannt wurde. Seit den Tagen Piero della Francescas, als die selbstgewisse Sonne der Renaissance noch unbehelligt strahlte, hat sich der Himmel unversehens verdüstert. Es ist als habe Leonardo, mit jener divinatorischen Witterung, die gerade Tarkowskij den großen Künstlern zuschrieb, die in den 90er Jahren heraufziehende Krise in Florenz mit dem Regiment des dominikanischen Bußpredigers Girolamo Savonarola vorausgespürt. Für Tarkowskij kamen in diesem Bild einige wichtige Aussagen zusammen: dass Gott sich mit einem kleinen Kind identifiziert, zum Kind wurde, macht den Greisen deutlich, dass all ihr Streben und Trachten grundverkehrt ist, dass sie umkehren, klein werden müssen. Es sei hier an eine Aussage aus dem Tao Te King (§76) des Laotse erinnert, die im Film Stalker wichtig wurde: „Der Mensch, wenn er ins Leben tritt, ist weich und schwach, und wenn er stirbt, so ist er hart und stark.
Die Pflanzen, wenn sie ins Leben treten, sind weich und zart, und wenn sie sterben, sind sie dürr und starr. Darum sind die Harten und Starken Gesellen des Todes, die Weichen und Schwachen Gesellen des Lebens.“ (Übersetzung Richard Wilhelm)

Außerdem wird so etwas wie eine historische Aussage versucht. In Nostalghia ruft Domenico auf dem Kapitolsplatz aus, man müsse an jenen Punkt zurückkehren, „an dem ihr in die falsche Richtung gegangen seid.“ Dieser Punkt lag nach Tarkowskij vermutlich in der Renaissance, in der Zeit Leonardos41.

Die Widmung am Ende des Films: Dieser Film ist meinem Sohn Andrusja gewidmet – mit Hoffnung und Vertrauen schlägt noch einmal den Bogen zum Bild am Anfang: nicht allein dem Christusknaben möchte Tarkowskij sein Werk überreichen, sondern auch dem eigenen Sohn und mit ihm der kommenden Generation.

1 Mikhail Romadin, On Film and Painting, zuerst veröffentlicht in: About Andrei Tarkovsky, Memoirs and Biographies, Moskau 1990, hier von der Homepage Nostalghia.com, (Artikel übersetzt von Maureen Ryley). Im Abschnitt über Solaris wird davon noch die Rede sein.

2 Tarkowskij sagte einmal Ende der 70er Jahre, dass sein eifrigstes Publikum in der Sowjetunion junge Heranwachsende waren und nicht etwa „zur Vernunft gekommene“ Erwachsene.

3 Der amerikanische Slawist Robert Bird zitiert in diesem Zusammenhang ausführlich Pawel Florenskij, der in der Tatsache, dass es sich bei den apokalyptischen Reitern Dürers um ein Werk der Druckgraphik handelt, ein Indiz für seine Minderwertigkeit sieht. Allerdings fragt sich sehr, ob Tarkowskij zu diesem Zeitpunkt schon die Schriften Florenskijs kannte. Robert Bird, Andrei Tarkowsky: Elements of Cinema, University of Chicago-London 2008, S.95

4 Das ist eine falsche Auskunft: es handelt sich um das Holzschnittporträt des Schweizer Erzkanzlers der kaiserlichen Reichsregierung Ulrich Varnbüler von 1522, eine herausragende Leistung Dürers. Vgl.: Ein kryptischer Text des Erasmus auf Dürers Varnbüler-Bildnis, http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7230/

5 Olga Surkova. Tarkovsky and I, Moscow: Zebra E / Exmo / Decont +, 2002, S. 25. (О. Суркова. Тарковский и Я (Москва: Зебра Е / Эксмо / Деконт + , 2002, 25) Die russische Filmkritikerin berichtete in ihren Erinnerungen, dass dieses Bild: die Hand, die einen Apfel darreicht, ihrem Leben eine andere Richtung gegeben habe. Sie war 17 Jahre alt und offenbar ein sehr intelligenter Mensch: sie wollte Mathematik studieren. Nach diesem Film, nach diesem Bild wurde sie Kritikerin und hat lange Jahre mit Tarkowskij zusammengearbeitet, insbesondere bei der Erstellung des Buches Die versiegelte Zeit. Schon in der VGIK- Abschlussarbeit Die Straßenwalze und die Geige – Katok i skripka (1960) schenkt der kleine Musiker Sascha einem etwa gleichaltrigen Mädchen, wie er Musikschülerin im Konservatorium, einen Apfel; vgl.: Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Indiana University Press 1994, S. 66

6 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Frankfurt-Berlin 1996, S. 35

7 Der deutsche Titel der programmatischen Schrift (Andrej Tarkowskij Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, München 1984) bezieht sich auf die Apokalypse – in Anlehnung an Ingmar Bergmans Film: Das siebente Siegel.

8 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 117

9 Antoine de Baecque Andrei Tarkovski, Cahiers du Cinéma, Paris 1992, S. ; Slavoj Žižek, Lacrimae rerum,

10 Frances Stonor Saunders, Who Paid the Piper: The CIA and the Cultural Cold War (London: Granta Books 1999)

11 Man kann ihn freilich nicht als Zeugen gegen das Projekt der Moderne insgesamt anrufen, wie das gelegentlich versucht wurde. Am 16. 12. 1981 schreibt er in seinem Tagebuch von einem Museumsbesuch in St. Petersburg (damals Leningrad) mit seinem zehnjährigen Sohn: „Wir waren mit Tjapus im Haus Puschkins, danach im Magazin des Russischen Museums und haben außerordentliche Werke von Filonow, Malewitsch, Kandinskij, Petrow-Wodkin, Kusnetsow und noch anderer gesehen.“ (Dieser etwas irrationale Eifer, mit dem einem Zehnjährigen die Segnungen der Kultur nahe gebracht wurden, ist vielleicht auch sehr russisch.)

12 Hans-Joachim Schlegel, Der antiavantgardistische Avantgardist in Andrej Tarkowskij, Reihe Film Band 39, hrsg. von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte, München Wien 1987

13 Eine Ausnahme ist Robert Bresson, den Tarkowskij wohl auch aus diesem Grunde bewunderte. In diesem Zusammenhang sind die Aussagen des schwedischen Schauspielers Erland Josephson interessant. In dem Dokumentarfilm von Ebbo Demant, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Andrej Tarkowskijs Exil und Tod, 1987. (Der Film ist vollständig bei Youtube im Internet.) sagte er, Tarkowskij habe immer gewollt, dass er beim Schauspielen dem Betrachter ein Geheimnis lasse. Josephson kam aus der Schule Ingmar Bergmans (männlicher Hauptdarsteller in Szenen einer Ehe) und tendierte dazu, seinen Charakter immer psychologisch so überzeugend, und das hieß für ihn so deutlich wie möglich wiederzugeben.

14 „Thus I feel much closer to Tolstoy as a character. As a type of artist – closer than, say, Dostoievsky or anybody else. As a type, as a model.“

15 Im Oktober 1986, zwei Monate vor seinem Tod hat Tarkowskij noch der französischen Tageszeitung Le Figaro ein Interview gegeben, das ich in der italienischen Übersetzung von Donata De Bartolomeo zitiere: „Ci fu un tempo in cui io potevo chiamare miei ex-maestri, le persone che hanno avuto un’influenza su di me. Adesso, nella mia coscienza, si conservano soltanto dei ‘personaggi’, per meta santi, per meta folli. Questi ‘personaggi’ sono forse un po‘ invasati ma non dal diavolo; si potrebbe dire che sono ‘i pazzi di Dio’. Tra i vivi cito Robert Bresson. Tra i morti, Lev Tolstoj, Bach, Leonardo da Vinci… In fin dei conti, tutti costoro erano pazzi. Perché non hanno assolutamente cercato nulla nella loro testa. Hanno creato senza il concorso della testa… Essi mi spaventano e mi ispirano. Non e assolutamente possibile spiegare la loro creazione. Sono state scritte migliaia di pagine su Bach, Leonardo e Tolstoj ma, in conclusione, nessuno ha potuto spiegare nulla. Nessuno, grazie a Dio, ha potuto trovare, sfiorare la verità, toccare l’essenza della loro creazione! Questo dimostra ancora una volta che il miracolo è inspiegabile…”

16 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.114 f.

17 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 57: “Mit erstaunlicher Treffsicherheit vermerkte Leo Tolstoi am 21. März 1885 in seinem Tagebuch: ‚Das Politische schließt das Künstlerische aus, da ersteres einseitig sein muss, um etwas erreichen zu können!’ Natürlich ist dem so. Das künstlerische Bild kann aber nicht einseitig sein: Um sich tatsächlich wahrhaftig nennen zu können, muss es die dialektischen Widersprüche der Erscheinungen in sich vereinen.“

18 Als Tarkowskij in einem Interview das russische Gefühl der „Nostalghia“ erklären wollte, sprach er von einem Mitleiden mit den Mitmenschen, vgl.: S. 22 in: Enzo Natta, Andrej Tarkovskij –scolpire il tempo, S. 20 – 23, in Città Nuova, 10. Juli 1983.

19 In Nostalghia.com, The Topics, Tarkovsky talks to Guerra, mainly on Stalker (1979)

20 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.53 f.

21 Auch zu Beginn des Films stellt Tarkowskij eine Figur in den Mittelpunkt, die eigentlich nicht sympathisch ist: den aufdringlichen Arzt, der die Mutter in ein Gespräch zu verwickeln sucht. Übrigens wurde schon bei Tarkowskijs Abschlussarbeit von 1960 an der WGIK Die Straßenwalze und die Geige(Katok i skripka) moniert, dass der kleine Musikstudent nicht „sympathisch“ genug sei. Von Anfang an hat Tarkowskij Regeln des gesunden Menschenverstands für das populäre Medium des Films in den Wind geschlagen. Vgl. Artikel zu Katok i skripka in Nostalghia.com. Hier findet sich auch der vom WGIK festgehaltene Kommentar des Regisseurs: „I cannot use schematic language. I cannot take a positive hero through a positive external reality and make people fall in love with him instantly. I believe that it is not profound, not serious enough; art is not to be created in this way, it is not real. It is hackwork.“ Auch im Rubljow ist der junge Gehilfe Foma, dessen gewaltsamen Tod der Film eindringlich zeigt, eher eine Nervensäge, was im Widerspruch zu den Gepflogenheiten Hollywoods steht.

22 „Mehr oder minder handeln alle meine Filme davon, dass die Menschen nicht einsam und verlassen in einem leeren Weltbau hausen, dass sie vielmehr mit unzähligen Fäden der Vergangenheit und Zukunft verbunden sind…“ (A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.210)

23 Julia Selg, Andrej Tarkovskij und die Gegenwart der Alten Meister, Kunst und Kultus im Film „Nostalghia“ Stuttgart 2009

24 Julia Selg, a.a.O., S.209f.

25 Ebda S.48f.

26 „Nach einem alten Brauch soll man an dem Tag (Ostern)Vögel aus den Käfigen freilassen. Das Gedicht von Alexander Puschkin zum Brauch Vögel frei zu lassen, lautet wie folgt:

Heilig ist mir in der Fremde
der vertraute Brauch aus alter Zeit:
Beim lichten Fest des Frühlings
entlasse ich ein Vöglein in die Freiheit.
Ich bin empfänglich geworden für diesen Trost;
weswegen sollte ich gegen Gott murren,
da ich doch immerhin einer seiner Kreaturen
die Freiheit schenken konnte.“ (http://www.rsvostschweiz.ch/)

27 Freilich sehen wir Gortschakows dunkelhaarige Frau kurz einmal wunderbar lächelnd in Nahaufnahme. Aber wie sollte sich Domenico auf sie als „Mutter“ beziehen?

28 In einem Interview unmittelbar nach Fertigstellung von Iwans Kindheit hatte Tarkowskij auf die Frage, ob er mit diesen letzten Bildern gewollt habe, dass der Film mit einer leichten Note ende, in der schroffen Art, die zeitlebens in Interviews immer wieder mal aufblitzte, geantwortet, das wäre doch wohl etwas banal. Nur um sogleich hinzuzufügen, dass Kunst allerdings ihrem Wesen nach optimistisch sei. Das sagte er, als sei das eine Selbstverständlichkeit, über die allgemeine Einigkeit bestünde. Dabei stand er mit dieser Überzeugung in der zeitgenössischen Kultur ziemlich allein auf weiter Flur. Denn der Optimismus, den er meinte, hatte wahrlich tiefere Wurzeln als der für die Sache des Sozialismus. http://www.kinematographie.de/HEFT39. Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963: „Der Zuschauer erblickt den Helden, der schon nicht mehr auf der Welt ist, und nimmt Bruchteile seines wirklichen und seines möglichen Schicksals in sich auf. Dieser letzte Traum – der Lauf über die Sandbank – wurde keineswegs deshalb gedreht, um das Finale des Films aufzuhellen (wie einige meinen); das wäre in einem Werk, in dem die Mehrzahl der Helden umkommt, falsch und geschmacklos (dass unsere Position als Filmschöpfer optimistisch ist, ist eine andere Sache.)“

29 Alexander Liberman, Campidoglio. Michelangelo’s Roman Capital, with an essay by Joseph Brodsky, New York, Random, 1994

30 Mal ganz abgesehen davon, dass Tarkowskij in diesem Film als ein unerwarteter Bundesgenosse Michel Foucaults und dessen subversiven Diskurses über die Ausgrenzung der Geisteskranken erscheint. Michel Foucault, Histoire de la folie à l’âge classique – Folie et déraison, Paris 1961

31 Das habe ich an anderer Stelle analysiert. Ursprünglich hatte Tarkowskij an Musik aus Richard Wagners „Tannhäuser“ gedacht.

32 Siehe das Kapitel über die Ikonen, S.

33 Neil Postman, Amusing Ourselves to Death, 1985 deutsch: Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt am Main 1994

34 “The finale of Nostalghia directly references Caspar-David Friedrich’s hyper-romantic ‘Ruin at Eldena’”. S.66 in: Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema London 2008

35 Siehe Fußnote 13

36 Siehe Fußnote 1

37 Jerzy Illg e Leonard Neuger, I’m interested in the problem of inner freedom, Nostalghia.com; auf Polnisch: Z Andriejem Tarkowskim rozmawiają Jerzy Illg, Leonard Neuger, in Res Publica (1), Warsaw 1987, pp. 137–160

38 Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow. Die Novelle, aus dem Russischen von Ute Spengler Berlin 1992.

39 Andrej Tarkowski, Die versiegelte Zeit, S. 216 f.

40 In anderen europäischen Sprachen heißt das Buch Scolpire il tempo, bzw. Sculpting in Time. Der deutsche Titel, dem der spätere französische entspricht, dürfte kaum ohne ausdrückliche Zustimmung des Autors zustande gekommen sein.

41 In den italienischen Diari. Martirologio, Florenz 2002, heißt es am 25. April 1980: Gestern habe ich Franco Terilli gebeten, mir eine russische Übersetzung von Spenglers Der Untergang des Abendlandes zu suchen.