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Andrej Tarkowskij und die Deutschen

September 29, 2014

Iwan

Andrej Tarkowskij wäre in diesem Jahr achtzig Jahre alt geworden. Der große russische Regisseur starb Ende 1986 in Paris an Lungenkrebs und konnte so die Wandlungen in seiner Heimat nicht mehr miterleben. Sein schmales Œuvre von nur sieben vollgültigen Filmen, die buchstäblich und im übertragenen Sinn überwiegend dunkel sind, verdient weitere Erhellungsbemühungen.

Der vorliegende Aufsatz ist das Nebenprodukt einer jahrelangen Beschäftigung mit Tarkowskij, ein Nebenprodukt aus aktuellem Anlass. Ein deutsch-russisches „Kreuzjahr“ 2012/2013 ist anberaumt worden, und der besondere Name bezeichnet die Crux des Unternehmens: bei der Aussöhnung mit Frankreich nach dem Krieg wagte man immerhin von „Freundschaft“ zu reden, wenn auch nicht immer mit vollster Überzeugung. Mit Russland ist das anders. Nach den Ungeheuerlichkeiten des Krieges (und im Anbetracht der politischen Großwetterlage) ist man doch etwas weniger forsch. Diese Untersuchung ist zu verstehen als ein Beitrag dazu, sich mit der Vorstellung der Befreundung anzufreunden.

Der Stil der Darstellung ist mehr erlebnishaft-emotional als diskursiv und reicht, vielleicht von Tarkowskijs Stil ermutigt, vom Plakativen bis zum Subtilen, verlangt also dem Leser einiges an Geduld ab. Beschreibungen können bestenfalls so evokativ sein, Bilder in Erinnerung zu rufen, aber selbstverständlich das eigene Anschauen der Filme nicht ersetzen. Schon allein aus diesem Grunde werden dienende Texte dieser Art nie die Auflagenstärke von Romanen erreichen. Tarkowskij wollte, dass der Betrachter seine Filme mit der eigenen inneren Welt in Beziehung setzen sollte, was aber nicht als Einladung zu einer völligen Beliebigkeit des Diskurrierens missverstanden werden darf1.

Explizit ist das Thema der Begegnung mit den Deutschen in Tarkowskijs erstem Film Iwans Kindheit (1962), der vom Kampf der Roten Armee gegen die deutsche Wehrmacht handelt. Thema ist in diesem Film der Hass eines Kindes auf die Deutschen. Und doch bleibt nicht nur Bitterkeit am Ende des Filmes. Der Film wurde bekanntlich bei der Biennale von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet und Tarkowskij wurde über Nacht zu einer Berühmtheit. Koryphäen der westeuropäischen Linken wie Jean-Paul Sartre (pro) und Alberto Moravia (contra) kreuzten seinetwegen die Klingen.

Andrej Rubljow, Tarkowskijs opus magnum, kann man, mit Ausnahme des vorletzten Kapitels, gleich zur Seite legen. Die Episode über das Gießen einer großen Glocke scheint von Schiller zumindest angeregt zu sein. Da eine andere wichtige Episode, die große historische Schlacht auf dem Kulikowo Pole, nicht gefilmt werden konnte, wurde die Episode mit der Glocke noch bedeutsamer. Denn die siegreiche Schlacht auf dem Schnepfenfeld (1380) hatte die Russen gegen die mongolische Streitmacht vereint und war ein Symbol für die Einheit der Nation (nachdem die Zwietracht der Russen im Film sehr drastisch zur Darstellung kommt). Umso wichtiger wurde der Glockenguss, eine friedliche Unternehmung großen Stils, die auch Eintracht symbolisieren konnte.

In Solaris (1972) gibt es einen halben Witz über Luther und zwei halbe Sätze zu Goethes Faust. Wenn man sich vor Augen hält, dass ein anderer Russe, der von Tarkowskij geschätzte Alexander Sokurow, einen ganzen Film über Faust (2011) mit deutschsprachigen Schauspielern realisiert hat, ist das eher dürftig. (In der Tat würde Sokurows Film eine eigene Untersuchung notwendig machen.) Dennoch meine ich, dass auch beiläufige Bemerkungen Tarkowskijs, selbst wenn sie ursprünglich nicht einmal von ihm stammten, unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verdienen. Im autobiographischen Spiegel (1975) wird wieder, wie in Iwans Kindheit, das Schicksal eines Kindes als eine der furchtbarsten Spuren des Krieges zum Thema gemacht. Die Musik von Johann Sebastian Bach beginnt eine größere Rolle zu spielen. Im Unterschied zu Sokurow, der in dem kurzem Dokumentarfilm Sonate für Hitler (1979) mit der Musik Bachs sarkastisch eine Diskrepanz, eine schneidende „Dissonanz“ in der deutschen Kultur aufzeigt, hätte Tarkowskij vermutlich die Musik Bachs nie dazu hergegeben; bei ihm wird sie immer mehr zur „Medizin“.

Für Stalker (1979) wurde eine Beziehung zur deutschen Romantik behauptet. Die Beziehung zu einem Nachfahren der deutschen Romantik, zu Hermann Hesse, scheint mir in diesem Film bedeutsamer.

Unserer Thematik entsprechend beschränkt sich unsere Untersuchung des sehr komplexen Films Nostalghia (1983) darauf, wie Tarkowskij an prominenter Stelle mit einem anderen großen deutschen Komponisten, mit Ludwig van Beethoven, umgesprungen ist.

In seinem letzten Film Offret (1986) nimmt Friedrich Nietzsche mit der Lehre von der ewigen Wiederkehr einen zentralen Raum ein. Das letzte Wort hat aber einmal wieder Bach.

Biographisches wird keine große Rolle spielen, denn hier interessiert, wie deutsche Menschen und deutsche Kultur in die Filme, in die Kunst eingegangen sind. Nur so viel vorab. Schon in der Kinderzeit wurde dem vielseitig begabten Jungen von der allein erziehenden, literarisch gebildeten Mutter die russische Literatur nahe gebracht. Der Vater, der Lyriker und Übersetzer war, hatte weitläufige Kenntnisse nicht nur in der Literatur Europas, d.h. vor allem auch der griechischen und römischen Antike, sondern auch in der Literatur der asiatischen Völker der damaligen Sowjetunion.

Marina, die Schwester, sagte von ihrem Bruder, dem kleinen drahtigen Kerl, der fast immer unter Strom stand, oder der, wie man heute sagt, „hyperaktiv“ war, nur beim Lesen habe er stillhalten können2. Das erinnert an die romantische Forderung Rimbauds, ein Buch müsse so in den Bann schlagen, dass man sogar einen eventuellen Orkan über seinem Kopf vergisst. (Ich habe das vor rund 40 Jahren beim Herumblättern in einer Buchhandlung gelesen und in späteren Jahren, als ich es suchte, nicht mehr finden können.) In den erzwungenen, langen Pausen zwischen seinen Filmprojekten hat Tarkowskij viel und intensiv lesen können. Was waren seine Vorlieben in der deutschen Literatur? Wie hielt er es mit unseren Dichterfürsten? Meine steile These ist wie gesagt, dass im Rubljow Schillers Lied von der Glocke beim vorletzten Kapitel des Films Die Glocke Pate gestanden hat. Der Faust, nicht Goethe, wird in Solaris beiläufig erwähnt. In seinem Buch: Die versiegelte Zeit3 zitiert Tarkowskij ein rätselhaftes Goethewort, das sich nicht so ohne weiteres finden lässt. Goethe habe Recht, wenn er sage, es sei so schwer ein gutes Buch zu lesen, wie eins zu schreiben. Tarkowskij wollte das auf die Filmkunst übertragen wissen. Die etwas plumpe Schmeichelei, die um geneigte, nicht eingenickte Leser seiner Filmwelt wirbt und einen gewissen Grad der Verzweiflung verrät, klingt nicht sehr nach dem Olympier, der sich auf ein gerütteltes Maß an deutscher Nüchternheit verlassen konnte und sich kaum eine solche Blöße gegeben hätte. Eine verbürgte Aussage des alten Goethe lässt wegen ihrer sarkastischen Schärfe aufhorchen: „Die guten Leutchen wissen nicht, was es einem an Zeit und Mühe kostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dafür gebraucht und kann auch jetzt nicht sagen, dass ich am Ziel wäre.“4

Des Weiteren findet sich eine Aussage Goethes, dass man die Grammatik verlernen müsse, um gut zu schreiben5. Das ist bezeichnend für Tarkowskijs Vorliebe für „Dialektik“ und das, was von dem russischen Formalisten Viktor Šklovskij vor allem bei Puškin und Tolstoj das Prinzip der ostranenie, „Defamiliarisierung“ genannt wurde, begegnet in Tarkowskijs Filmen auf Schritt und Tritt6. Außerdem ein Satz, den Tarkowskij sicher gern Interview-Partnern als Denkzettel mit auf den Weg gegeben hätte: Um eine kluge Antwort zu bekommen, muss man eine kluge Frage stellen7. In seinen Tagebüchern finden sich weitere, vereinzelte Goethe-Zitate, von denen unklar ist, wie er zu ihnen gekommen ist. Ein eigentlicher Goethe-Leser scheint er nicht gewesen zu sein. Am 27.1.1976 notierte er folgendes Zitat Goethes: „Ein Werk ist umso besser, desto unzugänglicher es für die Vernunft ist.“ Das hätte man auch gerne ausfindig gemacht, zumal es eher etwas untypisch wirkt. Schließlich noch die etwas schlichte Weisheit, um einen Dichter zu verstehen, müsse man sein Land kennen, die aber Tarkowskij sehr wichtig war. (28.4.1978) Er hat später oft gegen einen oberflächlichen Optimismus gewettert, der sich das Verständnis einer anderen Kultur zu leicht vorstellte.

Besonders anfangs nimmt in den seit 1970 geführten Tagebüchern die Lektüre von Hermann Hesses Glasperlenspiel und von Thomas Mann die Joseph-Tetralogie breiten Raum ein. Letztere wollte der Russe für längere Zeit tatsächlich verfilmen8. Früher schon am, 15. August, erwähnte er, dass er „wieder“ Thomas Mann lese, einen „genialen Schriftsteller“. Der Tod in Venedig sei grandios, trotz des etwas absurden Sujets. Nicht nur Thomas Mann, auch andere literarische Schwergewichte, vor allem Dostojewskij, hatte sich der Russe für mögliche Verfilmungen ausersehen. Warum eigentlich? Dem von ihm sehr geschätzten georgischen Kollegen Otar Iosselani wäre so etwas nie in den Sinn gekommen. Hier kann man nur Vermutungen anstellen. Vielleicht suchte er instinktiv nach einem starken „Kontrahenten“, um nicht restlos seiner eigenen, wild wuchernden Subjektivität anheim zu fallen. In der „dialektischen“ Auseinandersetzung mit der Vorlage blieben ohnehin nur Trümmer davon übrig. Das hat Stanislaw Lem, der polnische Autor von Solaris, leidvoll erfahren müssen. In der alttestamentarischen Gestalt des von seinen neidischen Brüdern gehassten „Träumers“ Joseph mochte Tarkowskij sich selbst wieder erkennen. In den folgenden zehn Jahren bewahrheiteten sich auch Neid und Hass der Kollegen.

Wie den Tagebüchern zu entnehmen ist (10.3.1973), war Tarkowskij einmal Anfang der 70er Jahre mit einer sowjetischen Kulturdelegation in Ost-Berlin und hat neben dem Pergamon-Museum einige Theater-Aufführungen zu sehen bekommen, zu denen er trocken bemerkte, dass die Langeweile sicher nicht nur mit seinen mangelnden Sprachkenntnissen zu tun gehabt habe. Nicht nur Ost-Berlin, aber vor allem, war damals Bert-Brecht-Country (mit höflicher Verneigung in Richtung Heiner Müllers). Es gibt kein direktes Zeugnis einer Stellungnahme Tarkowskijs zu Brecht. Außer Genie und Kleinwüchsigkeit hatten die beiden Männer wenig gemein. Brecht muss sich in den Augen Tarkowskijs disqualifiziert haben, weil er gläubiger Marxist war.

Unter Tarkowskijs Filmen ist vor allem ist Iwans Kindheit (1962) zu nennen. Erwähnen möchte ich allerdings vorher einen Film, den Tarkowskij als Student gemeinsam mit Alexander Gordon, seinem späteren Schwager, 1959 „Сегодня увольнения не будет..Heute gibt es keinen Feierabend“ realisiert hatte9. Der Film ist einige Jahre zum Jahrestag des Sieges im sowjetischen Fernsehen gezeigt worden. Es ging um nichts weniger als die Evakuierung der Stadt Kursk, weil ein gewaltiges Arsenal von aus dem Krieg übrig gebliebenen deutschen Bomben unschädlich gemacht werden musste. (Der Name Kursk hat zumindest im Ohr von Militärhistorikern einen besonderen Klang. Denn am so genannten „Kursker Bogen“ kam es im Sommer 1943 zur größten Panzerschlacht des Krieges und damit aller Zeiten.) Bei dieser Arbeit war noch keine Spur von Tarkowskijs späterem, visionärem Stil zu finden. Doch gehe ich davon aus, dass für den Traumtänzer auch diese Aktion eine tiefere Bedeutung hatte. Sein Film Iwans Kindheit kann als ein Versuch gedeutet werden, geistige „Blindgänger“, zurückgebliebene Bomben zu entschärfen.

Iwans Kindheit (1962)

Der junge Regisseur übernahm die Regie von einem Kollegen, der das Projekt vorläufig in den Sand gesetzt hatte. Das erinnert von ferne an Michelangelo, der seinen David aus einem Block schuf, der von Vorgängern verhauen worden war. Vielleicht sollte auch das von Tarkowskij später für die Filmkunst gebrauchte Bild von der „gemeißelten Zeit“ in diese Richtung weisen. Der Film basierte auf einer literarischen Vorlage von Iwan Bogmolow, die in dokumentarisch nüchternem Stil von den Großtaten minderjähriger sowjetischer Spione hinter den feindlichen deutschen Linien berichtete. Tarkowskij nahm von vorne herein einschneidende Änderungen vor, indem er der düsteren Kriegsszenerie sonnendurchflutete Traumsequenzen gegenüberstellt, die vor allem glückliche Kindheitserinnerungen des 12-jährigen Iwan zum Inhalt haben. Der Film beginnt mit der Rückkehr Iwans nach unvorstellbaren Strapazen von der deutschen Seite des Dnepr, der damals den Frontverlauf bildete. Das Leben des schmächtigen blonden Jungen ist vom Krieg, genauer gesagt von den Deutschen zerstört worden, er hat seine ganze Familie, Vater, Mutter und kleine Schwester verloren. Der Hass, mit dem sein ganzes Sinnen und Trachten auf Rache an den Deutschen geht, bekümmert die Männer der Truppe um ihn herum. Am gesamten Frontabschnitt herrscht zurzeit trügerische Ruhe. Da nicht ganz klar ist, was mit Iwan weiter geschehen soll, ergeben sich für ihn einige Tage erzwungener Untätigkeit. Hauptmann Cholin fordert Leutnant Galzew auf, für Iwan ein paar illustrierte Hefte „mit vielen Bildern“ zu besorgen. Der kommt mit einer großen Holzkiste nach vorn und bietet Iwan verschiedenes an. Der Junge winkt mehr gelangweilt als belustigt ab: er hat im HQ drei Tage lang (!) die Zeit damit totgeschlagen, diese Illustrierten durchzuschmökern. Aber da ist doch etwas, was er noch nicht kennt: ein deutsches Kunstbuch mit Drucken von Albrecht Dürer. Das weckt das Interesse Iwans: „Mit Bildern?“

Man kann nur hoffen, dass sich diese Szene als prophetisch erweisen mag und das junge Kinopublikum, ermüdet von der üblichen Kinounterhaltung, die durchaus dem zerstreuten Durchblättern von Illustrierten vergleichbar ist, sich „nach ewig und drei Tagen“, so wie Iwan den Holzschnitten Dürers, der faszinierend fremden, schwarzweißen Welt etwa dieses Filmes zuwenden wird.

Es muss dahingestellt bleiben, wie wahrscheinlich es ist, dass sich ein solches Buch an die Front verirrt hatte und so als Beutegut in die Hände der Russen fallen konnte. Hoch anzurechnen ist dem russischen Regisseur, dass er inmitten der hasserfüllten Welt des Krieges ein solches Element einführt, bei dem die Deutschen, die „Fritz“, nicht nur als Feinde und Nazis, sondern als Kulturnation in den Blick kommen10. Freilich macht Tarkowskij so auch die Fallhöhe dieser Kultur deutlich. Die erste Abbildung, die sich Iwan eingehender anschaut, ist Dürers großer Holzschnitt zur Apokalypse (1498), Die apokalyptischen Reiter. Eine gewisse Komik kommt ins Spiel, weil Iwan die Druckgraphik prinzipiell nicht von Fotografien unterscheidet und behauptet, eine Gestalt wie den im Vordergrund auf einer klapprigen Mähre reitenden „Tod“ mal auf einem Motorrad gesehen zu haben. „Sieh nur wie sie auf den Leuten rumtrampeln!“ Auf Leutnant Galzews etwas lahmen Kommentar, dass sei wohl bildhaft gemeint, stößt Iwan bitter hervor: „Ach ja? Ich kenne sie!“ Als Iwan erfährt, dass ein Porträt einen Schriftsteller darstelle11 meint er, dass könne nicht sein. Die Deutschen verbrennen Bücher, das habe er selbst gesehen. Lange danach sei noch die Asche in der Luft umher geflogen. Aber wenn der Mann vor 400 Jahren gelebt habe, dann vielleicht. Hier hat sich Tarkowskij vielleicht eine poetische Freiheit erlaubt. Mir ist nicht bekannt, dass sich Wehrmacht oder SS in den besetzten Gebieten noch mit Quisquilien wie Bücher-Verbrennungen abgegeben haben.

Während dieser Bildbetrachtungen werden wir ständig abgelenkt: wir sehen über dem Bild Leutnant Galzews Augenpaar zu dem Tisch links hinüberspähen, an dem Cholin mit Katasonow sitzt, der ein defektes Grammofon repariert. Sie besprechen die Einzelheiten ihrer bevorstehenden Expedition auf die deutsche Seite des Dnepr, bei der sie Iwan noch einmal auf eine Mission begleiten wollen. Zuletzt wird noch Dürers ominöses Blatt Ritter, Tod und Teufel, der Kupferstich von 1513, gezeigt – ohne jeden Kommentar. Man sollte sich von der Beiläufigkeit dieses Zitats nicht täuschen lassen. Tarkowskij war – an seinen guten Tagen – ein so selbstbewusster Künstler, dass er davon ausging, seine Filme würden Gegenstand vertiefter Studien werden. Außerdem sind sich Tarkowskij und seine Freunde darin einig, dass solche bildhaften Bezüge viel wichtiger sind als die Handlung des Films, von der der Regisseur nur scheinbar viel Aufhebens macht. Es bleibt also dem Betrachter überlassen, das Bild nachzuschlagen und sich über das dämonische Grinsen des Ritters zu wundern. Die Abbildung des berühmten Meisterstichs wird zunächst vor unseren Augen „vom Kopf auf die Füße gestellt“, was wohl kein Marxzitat ist, sondern auf die generelle Widerständigkeit von Kunst hinweisen soll, bei der man sich um die richtige Einstellung bemühen muss. In ähnlicher Bedeutung wird im Andrej Rubljow (1969) dem Besucher Kyrill der große Ikonenmaler Theophanes der Grieche vorgestellt. Er liegt in seiner verlassenen Werkstatt mit dem Kopf uns entgegen auf einer Bank.

Der Stich Ritter, Tod und Teufel ist in der deutschen Tradition durchaus prominent. Friedrich Nietzsche machte ein Exemplar ausfindig, schenkte es Richard Wagner 1870 zu Weihnachten und sah in dem Ritter einen Schopenhauer, der keine Hoffnung habe, also in gewisser Weise seinen „heroischen Nihilismus“ vorgebildet12. Nicht von ungefähr hat Erwin Panofsky in seiner berühmten 1943 in den USA publizierten Dürer-Monographie gerade auch für dieses Werk beträchtlichen akademischen Aufwand getrieben, um es für die Sache des Humanismus zu retten. Eine Trumpfkarte, die er spielen konnte, ist das Enchiridion militis Christiani des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam von 1503. Es spricht einiges dafür, dass die Schrift Dürer, der kein Latein las, von seinem engsten Freund, dem Humanisten Willibald Pirckheimer, nahe gebracht worden ist. In dieser Schrift heißt es, dass der christliche Krieger sich von Schreckgespenstern nicht beirren lässt. Freilich kann ich mir nicht helfen, das Lächeln des Ritters befremdet in dieser Umgebung. Panofsky sprach von „almost sardonic self-assurance“13. Was ist daran so christlich oder humanistisch? Außerdem hat das Blatt eine zwielichtig-finstere Ausdrucksqualität, die sich sogar den Tieren mitteilt. Das Ross weist voraus auf die behexten Pferde in den Kupferstichen von Dürers Schüler und Freund Hans Baldung Grien.

Eine bestimmte Tradition sieht in diesem Meisterstich eine Darstellung der „vita activa“, während der Hieronimus im Gehäus die „vita contemplativa“ darstelle. Der argentinische Dichter Jorge Luis Borges, der unter dem Vorwurf litt ein Bücherwurm zu sein, besang den germanischen Tatmenschen (Faust: „Am Anfang war die Tat!“) „…Eres valiente Y no serás indigno ciertamente, Alemán, del Demonio y de la Muerte.” Nicht unwürdig des Teufels und des Todes… Borges konnte gut schwärmen, kam doch zur historischen noch die geographische Distanz. Von einem Russen wird man sich diese Art der Unbeschwertheit nicht erwarten können, hat man doch dort wiederholt die “christlichen Krieger” aus deutschen Landen kennen gelernt. Sergej Eisensteins Alexander Newskij (1938), der die berühmte Schlacht der Russen gegen die Ritter des Deutschen Ordens auf dem Peipussee zum Gegenstand hat, war Tarkowskij selbstverständlich vertraut.

Auch Goethes Faust, Zeitgenosse von Dürers Ritter, fürchtete “weder Hölle noch Teufel”, was dann aber zur Kumpanei mit Mephisto führte. Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass Tarkowskij von tief ambivalenten Bildwerken angezogen war, die widersprüchliche Reaktionen hervorrufen. Mit seiner Stellungnahme spricht der Betrachter gewissermaßen sich selbst das Gericht. Tarkowskij hat das in einem rätselhaften Passus seines Buches Die versiegelte Zeit zu einem dem Leonardo zugeschriebenen weiblichen Bildnis, der sogenannten Ginevra de’Benci ausgeführt14.

Der Dürer-Holzschnitt mit den apokalyptischen Reitern hat ein filmisches Nachspiel. Die Pferde treten das Volk in den Staub, aber wichtig für einen so empfindlich auf Textur reagierenden Künstler wie Tarkowskij sind auch die losgetretenen runden Steine überall am Boden. Das stellt eine Beziehung zu einer nicht allzu entfernten Bildersequenz her, einer poetisch verklärten Erinnerung an die unbeschwerte Zeit vor dem Krieg, die aber wie auch die anderen Traumerinnerungen nicht einfach nur sonnig ist. Wir sehen Iwan auf einem mit Äpfeln beladenen kleinen Lastwagen zusammen mit einem Mädchen, wahrscheinlich seiner jüngeren Schwester. Es regnet und gewittert, aber davon unbeeindruckt sucht Iwan den schönsten Apfel, den er seiner Schwester schenken will15. Sie lehnt ab und er sucht weiter: gewissermaßen eine poetische Interpretation männlicher Kulturanstrengungen. In einem eigenartigen Reigen kommt mehrfach das Gesicht des Mädchens ins Bild, erst lachend und regenüberströmt, dann ernster und schließlich trocken und traurig. Dann die Katastrophe: ganz unvermittelt stürzt die Karrenladung Äpfel in den Sand am Strand. Hier also liegt die Beziehung zu den Steinen auf dem Holzschnitt im mit Äpfeln übersäten Sand. Der schwarze Kopf eines Pferdes ragt von rechts oben vor dem sonnenbeschienenen, nach dem Schauer dampfenden Strand ins Bild: wahllos nagt es an den Äpfeln, und so auch andere Pferde. Gerade im Gegensatz zu dem zuvor liebevoll Äpfel auswählenden Iwan (gewissermaßen eine Umkehrung der Geschichte von Adam und Eva) wird dies zu einem Bild für das fühllos waltende Fatum, für die zahllos im Krieg zerstörten jungen Leben. Tarkowskij selbst hat diese dunkle Dimension der Szene angedeutet16. Dessen ungeachtet sehen viele Betrachter sie einfach nur als zauberhaft und poetisch, was sie zweifellos auch ist (und Tarkowskijs oft sichtbare ästhetische Bewunderung für Pferde bestätigt dies), aber eben doch nicht nur. Ob der Verweis auf Dürers Apokalypse schon zu diesem frühen Zeitpunkt das spätere Interesse Tarkowskijs an der Thematik der Apokalypse ankündigt, wage ich nicht zu behaupten17. Diese ganze hier betrachtete Traumsequenz wäre dann so etwas wie die Menschheitsgeschichte im Zeitraffer: von Adam und Eva bis zum Ende der Welt. Das Wetterleuchten der abwechselnd im Positiv und im Negativ erscheinenden Alleebäume stände für die Wechselfälle der Geschichte, der die Äpfel wählende Junge für die vom Eros beflügelte Suche nach dem Schönen. (In für Tarkowskij charakteristischer Weise ist das Mädchen auf der empfangenden Seite und spornt den jungen Mann durch hohe Ansprüche zu immer neuen Anstrengungen an.) Die zunehmende Trauer des Mädchens stände dann für das Wissen um den kommenden Tod. Tarkowskij wollte bekanntlich vom poetischen Bild, dass es die „Welt in einem Wassertropfen“ spiegelt18.

Der Unterstand der Russen ist in einem ausgedienten Kirchlein untergebracht. In für die Deutschen besseren Zeiten diente es offenbar als Gefängnis. Jemand hat folgende Sätze in die Decke gekratzt: „Wir sind acht. Keiner von uns ist über 19. In einer Stunde werden wir erschossen. Rächt uns!“ Einmal allein in der Höhle, gellen diese Worte Iwan in den Ohren. In einer Rachefantasie schleicht er sich an einen an der Wand hängenden, vermeintlichen Wehrmachtsmantel an, der im Licht seiner Taschenlampe zu beben scheint. Aber in Wirklichkeit ist es Iwan, der zittert. Und das sagt schon alles: in wildem Schluchzen bricht seine Anklage zusammen.

Ein von Tarkowskij und seinem Kameramann nach langer Suche in Moskaus weiterer Umgebung endlich gefundener Birkenhain19 steht im Film u. a. für die Sehnsucht nach einem lichteren Leben. Die Sanitäterin taumelt nach einem unverhofften Wiedersehen mit einem jungen Soldaten (kein geringerer als Andron Michalkow-Kontschalowskij) selig im Walzerrhythmus durch den Hain. Dann ein harscher Bruch in der Musik und der jähe Einbruch der grausamen Realität des Krieges wird mit dem nächsten Bild gezeigt:

Am gegenüberliegenden Ufer haben die Deutschen zwei an einem Ast aufgeknüpfte russische Späher aufrecht hingesetzt mit einem Schild davor, auf dem in fehlerhaftem Russisch: „Willkommen!“ steht. Es ist der von KZ-Toren („Arbeit macht frei“) sattsam bekannte Sinn für Humor, der im Naziregime wirklich nicht mehr als eine Fußnote war, für den man sich aber als Deutscher auch schämen kann.

Hauptmann Cholin und Galzew bringen Iwan in einer Nacht und Nebelaktion ans andere Ufer. Eine Patrouille Deutscher nähert sich. Man hört die knarrenden Stimmen zweier Landser und einen der wenigen Sätze, die auch im Original deutsch sind: „Das Denken soll man den Pferden überlassen.“ Im Anbetracht all dessen, was noch kommen sollte, könnte man das als eine beherzigenswerte Redensart vom Volk der Dichter und Denker deuten.

Nach ihrer Mission entspannen sich Cholin und Galzew am leise lodernden Ofen und eine beklemmende Stille stellt sich ein. Plötzlich schleudert Cholin einen Hocker in Richtung Zuschauerraum. In der nächsten Szene ausgelassene Siegesgesänge sowjetischer Soldaten in Berlin und wir sehen von unten wie einer von ihnen in die Höhe geschleudert wird: man lässt ihn hochleben. Der Film hat einen gewaltigen Satz ans Kriegsende gemacht. Tarkowskij will seine Zuschauer erschüttern und macht das buchstäblich hier: indem er einen Hocker nach ihnen schleudert und sie im nächsten Moment in die Luft wirft. Es folgen seltene Dokumentaraufnahmen aus sowjetischen Archiven. Ein älterer Herr zeigt den Russen die Leichen von Goebbels und seiner Familie. Dr. Goebbels hat sich mit Benzin übergießen und anzünden lassen, sein Kopf ist völlig verkohlt, aber in den Proportionen unverkennbar. Seine Frau und die vergifteten sechs Kinder, die Musterfamilie des Reiches, sind säuberlich neben ihm aufgereiht. Obwohl in Film und Fernsehen unablässig gemordet wird, kommt man der Faktizität des Todes selten so nahe. Andere Dokumentaraufnahmen zeigen direkt das Einschussloch am nackten Körper eines Kindes. Ein Nazi, der sich gehängt hat, erinnert an den hängenden „Wehrmachtsmantel“ im Unterstand. Im Vordergrund ein gestürzter Reichsadler aus Gips und der Blick geht aus einem leeren gotischen Spitzbogenfenster hinaus. Vielleicht übertreibt man, wenn man daran erinnert, dass Goethes Faust ein Studierzimmer mit gotischem Gewölbe hatte. Vermutlich wollte Tarkowskij nur allgemein auf das exotisch-deutsche historische Ambiente hinweisen, mit einem Zitat, das im Falle Berlins nur neugotisch sein konnte. Unablässig rieselt Asche von oben: „schwarzer Schnee“ (Maja Turowskaja), der auf Iwans Schilderung der Bücherverbrennung zurückverweist. Eigentlich erinnert es mehr an zu Boden taumelnde Falter. In Iwans erstem, wunderschönem Traum, mit dem der Film anhebt, verfolgt er den Flug eines Schmetterlings und beginnt selbst zu fliegen.

Dann folgt eine nicht dokumentarische Szene in einem völlig zerstörten Gefängnis der Gestapo. Einige Russen, unter ihnen der uns vertraute Leutnant Galzew, sichten überall wüst verstreute Akten mit Fotos von Hingerichteten. „Erschossen, erschossen, erhängt, erhängt.“ Über alle Mordtaten hat man akribisch Buch geführt. „Sic transit gloria mundi.“ Es ist vor allem Preußens Gloria, die da in Fetzen liegt. Das alles ist furchtbar deutsch und auch furchtbar lächerlich: Für wen dieser ganze bürokratische Überschwang? Hitler, die schlampige Künstlernatur, interessierte sich sicher nicht dafür. Dann eine schrille Fanfare, als Galzew die Akte mit dem Bild Iwans entdeckt, wobei uns der Regisseur mit charakteristischer Härte nichts erspart: das höhnische Geleit der Schergen zur Hinrichtung hören wir und, unrealistischerweise, rollt Iwans Kopf wie ein gefallener Kreisel. Wir sehen, als er anhält, Iwans hasserfüllten Blick in seinem geschundenen Gesicht.

Der von Aktenpapieren übersäte Boden erinnert an gefallenes Laub, und das wiederum stellt eine Beziehung her zu den ausgestreuten Äpfeln. Wir haben nur das Schicksal eines Jungen näher kennen gelernt, von so vielen anderen wissen wir nichts.

Dann noch mal eine sonnendurchflutete Traumsequenz, die keine sein kann. Kinder stehen im Kreis am sandigen Strand vielleicht des schwarzen Meeres und Iwan zählt ab. Nacheinander fallen sie in den weißen, warmen Sand und Iwan bleibt übrig. Sie spielen Verstecken und der Anschlagpunkt ist ein dicker, knorriger, wohl hohler Baum mit expressiv verdrehten Ästen, den Tarkowskij wer weiß wo aufgetrieben hat. Iwan versucht die Versteckten ausfindig zu machen und entdeckt schließlich sein Schwesterchen hinter dem Wurzelwerk eines liegenden Baumes. Er scheint sie zu verfolgen, beide rennen und lachen selig. Dann sehen wir ihren Lauf aus der Ferne, er holt sie ein und überholt sie: zu verführerisch flirrt das Wasser im Sonnenlicht. Das Religiöse hat den Regisseur schon früh fasziniert. Einigermaßen unvermittelt taucht dann das Ziel des toten Baumes auf und das Bild wird schwarz: Ende. Nach meinem Eindruck eine einfache Verrätselung, weil Tarkowskij sich nicht in die Karten seiner religiösen Sehnsucht schauen lassen wollte. Er hat in einem Interview kurz nach Fertigstellung des Films auf die Frage, ob er den Film auf einer „leichten Note“ enden lassen wollte, mit der Schroffheit, die bei ihm immer wieder mal aufblitzte, geantwortet, dass das doch wohl etwas banal sei. Bei Fernsehnachrichten war es vor einiger Zeit üblich geworden, nach besonders grausigen Berichten irgendeine amüsante Bagatelle folgen zu lassen, die aufheitern sollte. Das hinterlässt immer einen faden Nachgeschmack, weil es in der Tat banal ist. Doch war Tarkowskij davon überzeugt, dass Kunst allerdings ihrem Wesen nach optimistisch sei. Das sagte er, als sei das eine Selbstverständlichkeit, über die allgemeine Einigkeit bestünde. Dabei stand er mit dieser Überzeugung in der ihm zeitgenössischen Kultur ziemlich allein auf weiter Flur. Denn der Optimismus, den er meinte, hatte wohl tiefere Wurzeln als der für die Sache des Sozialismus20. Die Kinder fallen beim Abzählen in den Sand: ein Bild für den Tod; man spielt Verstecken und findet sich wieder! Das ist den säuberlich aufgereihten Kinderleichen der Familie Goebbels gegenübergestellt, deren Tod über jeden Zweifel erhaben ist…eine unerhörte Kühnheit!

Vergleicht man Iwans Kindheit mit dem sehr viel späteren Film von Elem Klimow: Komm und sieh, (Иди и смотри 1985), der aus der Perspektive eines minderjährigen Partisanen in Weißrussland erzählt wird, so muss man sagen, dass Tarkowskij beim Entschärfen der Bomben sorgfältiger vorgegangen ist. Bei youTube kann man ein Interview mit dem vornehmen Klimow einsehen, bei dem er mit müden und uneitlen Handbewegungen zu diesem Film Rede und Antwort steht. Ursprünglich sollte der Film Töte Hitler! heißen und gemeint sei der „Hitler in uns“. Aber das ist wohl doch mehr ein frommer Wunsch; lediglich die allerletzte Einstellung des Films wirkt in diese Richtung21. Ansonsten bleibt doch sehr viel Hass auf die Deutschen, oder in unserem Fall, deutscher Selbsthass übrig. Klimow hatte als Kind furchtbare Kriegserlebnisse. Tarkowskij zeigt nie die deutschen „Frontschweine“, freilich hat seine Behandlung der Thematik eine Tiefendimension, die auch hier und da nah an den Nerv kommt. Iwans Leben ist vom Hass zerstört und das ist neben dem hoffnungsvollen Ausblick die Botschaft des Films.

Andrej Rubljow (1969)

In der von Andrej Tarkowskij gemeinsam mit dem bald in die USA emigrierten Regisseur Andrej Michalkow-Kontschalowskij verfassten literarischen Vorlage für den Rubljow-Film gibt es eine Randbemerkung über die Deutschen, die keinen Eingang in den Film gefunden hat. Die Deutschen kennen die Schwermut nicht, heißt es da: eine exotische Kuriosität für die Russen22. Da wird mancher Deutsche bass erstaunt sein und mancher deutsche Trauerkloß schmollen. Immerhin war es ein Deutscher (Jean Paul), der den Begriff „Weltschmerz“ geprägt hat. Aber das war ein gesamteuropäisches, geistesgeschichtliches Phänomen, sozusagen ein nachchristlicher Katzenjammer, der sich an Dichtern – wie alle Künstler Seismographen – als ersten zeigte. Die slawische Schwermut ist dagegen wie das tägliche Brot meist selbstverständlich. Im Unterschied zum „Weltschmerz“ verträgt sich diese Melancholie durchaus mit einem tief sitzenden Optimismus, wie gerade Tarkowskijs Filme zeigen können.

Die Glocke ist der Titel vom letzten Kapitel in Tarkowskijs Rubljow, mit fast vierzig Minuten ein Film im Film, der überdies an der Oberfläche mit dem Ikonenmaler nichts zu tun hat, sondern das Abenteuer eines jungen Glockengießersohnes erzählt, der verwegen vorgab das Geheimnis der Glockengießerkunst zu kennen und beim Wort genommen wird.

Bedienstete des Großfürsten sind zu Pferd unterwegs in entlegenen, von der Pest entvölkerten Dörfern, um nach Glockengießern zu suchen. Der Junge wittert die Möglichkeit, dem verpesteten Nest zu entkommen und behauptet, von seinem Vater auf dem Sterbebett das Geheimnis der Glockengießerkunst erfahren zu haben. Um nicht ganz unverrichteter Dinge zum Fürsten zurückzukehren, nehmen die Männer ihn mit. Boriska verschafft sich mit zähem, unbeugsamem Willen bei den anderen herbeigeholten Handwerkern, fast alle viel älter und erfahrener als er, allmählich Respekt und schmiedet die Gruppe im Laufe eines Jahres (wir sehen den ganzen Zyklus der Jahreszeiten vorbeiziehen) mit seinem nie verlöschenden Eifer zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammen.

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Tarkowskij Schillers berühmtes Lied von der Glocke kannte und davon für seinen Film angeregt wurde. Schillers Gedicht war immens populär und schon Mitte des 19. Jahrhunderts in etliche europäische Sprachen, unter anderen eben auch auf Russisch, übersetzt worden. Tarkowskij ist in einem literaturbeflissenen Haushalt aufgewachsen und war auch mit vergleichsweise entlegeneren Provinzen der deutschen Literatur vertraut.

Schiller ging fast zehn Jahre um mit dem Projekt dieses Liedes, das erst 1799 veröffentlicht worden ist. Er wollte ein Symbol der noch längst nicht erreichten Einheit der deutschen Nation schaffen: die Glocke hieß Concordia. Die Geschichte hat Schiller recht gegeben: 150 Jahre lang war das Gedicht ein Kernstück des Kanons deutscher Literatur und ist mit vielen „geflügelten Worten“ in die Umgangssprache eingegangen. In seiner unnachahmlichen Ironie bemerkte Thomas Mann einmal angesichts eines Hofschauspielers, der bei einer Festveranstaltung Die Glocke rezitierte: „Er war der Einzige im ganzen Saal, der in der Glocke nicht ganz sicher war.“23

Schiller wollte volksnah sein auch um den Preis gelegentlicher Trivialität, wofür ihn andere ihm zeitgenössische Literaten verlachten. Erst nach dem 2.Weltkrieg und dem darauf folgenden „Kahlschlag“ in der Literatur ist es wirklich still geworden um Schillers Glocke.

Auch Tarkowskij wollte volksnah sein, und die Glocke als einfaches, einprägsames Bild für die nationale Einheit hat ihn fasziniert. Er hat von Schiller eigentlich nur das Stichwort aufgegriffen.

In den voraus liegenden Stunden des Films hat er den Brudermord, den Mord von Russen an Russen eindringlich geschildert. In der Sowjetunion wurden Glocken in Waffen umgegossen. Hier die Umkehrung. Auch in dieser Hinsicht wird die riesige Glocke am Ende des Films zum weithin hallenden Symbol, zum Appell für den Frieden.

Wir wollen hier nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Freilich mache ich kein Hehl daraus, dass ich mich lieber an Tarkowskijs Birnen halte. Es gibt unvergessliche Szenen: wie Boriska unter strömendem Regen nach einer unsanften Rutschpartie durch den Schlamm endlich den richtigen Lehm findet; die für Tarkowskij ganz unvermeidliche Feuersbrunst um den Lehm zu brennen. Rhythmisch mitreißend, synkopisch, schlagen, hämmern die Gießer mit an Stöcken befestigten Klingen auf die gebrannte Form ein, um die Glocke daraus zu befreien.

Eine große Menge Volkes ist zusammengeströmt. An zahllosen Tauen wird mit vielen helfenden Händen die riesige Glocke in die Höhe gehievt. Der Großfürst und Teil seines Hofstaats kommen hoch zu Ross heranstolziert; das Volk bückt sich tief. Zur Feier des Tages sind sogar ausländische Gesandte erschienen. Ein Alter ruft aus: „Mutter Gottes, was für ein Tag!“

Bekanntlich hatte Schiller bei seiner Glocke den Klöppel vergessen, was, Psychoanalyse hin oder her, eine Peinlichkeit ist. In Tarkowskijs Film spielt der Klöppel eine wichtige Rolle, denn die alles entscheidende Frage ist nun: Klingt die Glocke oder nicht? Da Boriska sich selbst nicht dazu in der Lage fühlt, wird ein sehr starker Mann aufgefordert, den Klöppel in Schwingung zu bringen. In der relativen Stille der nun folgenden Sekunden steigert sich die Spannung ins Unerträgliche, bei Tarkowskij eher eine Seltenheit. Unterdessen kommentieren die venezianischen Diplomaten das Geschehen im Vertrauen darauf, nicht verstanden zu werden, mit unverhohlener Geringschätzigkeit. Dann der erlösende Klang. Der junge Boriska hat sich davongestohlen und ist etwas abseits zusammengebrochen, die Spannung ist von ihm gewichen, er schluchzt. Der alt gewordene Mönch Andrej Rubljow, der sich nach allen Irrungen und Wirrungen ein unsinniges Schweigegelübde auferlegt hatte, hat den jungen Glockengießer die ganze letzte Zeit beobachtet. Nun hebt er ihn auf, mit dem Klang der Glocke hat sich seine Zunge gelöst: „Wir werden gemeinsam durchs Land ziehen. Du gießt Glocken und ich male Ikonen.“ Nach zweieinhalb Stunden wechselt der Film jetzt von Schwarzweiß in Farbe und endlich sehen wir die berühmten Ikonen Andrej Rubljows.

Die von Rubljow vorgeschlagene audiovisuelle Zusammenarbeit spiegelt Tarkowskijs großen sozialistischen Traum vom Kino als Kunst für die Massen: die künstlerische Tiefendimension der Ikonen mit der Breitenwirkung der Glocke zu verbinden. Die Glocke mit den rundum sich ausbreitenden Schallwellen ist das Pendant zu dem Bild von der gespiegelten „Welt im Wassertropfen“ als allseitiger Konzentration. Der Tropfen, der ins Wasser fällt, zieht Kreise.

Dieser sozialistische Traum hatte schon seine Diplomarbeit inspiriert: Die Straßenwalze und die Geige Каток и скрипка (1960) In seinen späteren Filmen hat sich Tarkowskij mehr und mehr in seine eigene Welt eingesponnen, aber die Sehnsucht nach seinem „Volk“ blieb immer lebendig, was zu einem guten Teil seine Zerrissenheit ausmachte24. Hier unterschied er sich von den meisten seiner westlichen Künstlerkollegen.

Solaris (1972)

Man hoffte nach den Scherereien mit dem Rubljow, dass Tarkowskij mit einem Sujet aus der Science Fiction vernünftig würde. Es gibt einen amüsanten Augenzeugenbericht des berühmten japanischen Regisseurs Akira Kurosawa (von Tarkowskij sehr bewundert), der einmal die Studios von Mosfilm zur Zeit der Dreharbeiten für Solaris besuchte. Tarkowskij erscheint da nicht so sehr als verfolgter Künstler, sondern eher als verwöhntes Enfant terrible, alle mit seinen Kapricen in Sorge versetzend25.

In dem Film Solaris, der von einer bekannten literarischen Vorlage des polnischen Autors Stanislaw Lem seinen Ausgang nimmt, gibt es einige kleine Seitenhiebe auf unsere ganz großen Deutschen, die aber weitgehend auf das Konto Lems gehen. Ich will diese Aperçus aber nicht verschweigen, auch weil sie durch Tarkowskijs Akzentsetzungen noch an Treffsicherheit gewinnen.

Der Psychologe Kris Kelvin wird zu einer Raumstation geschickt, die über dem unheimlichen Ozean Solaris errichtet worden ist, der die Eigenschaft hat, Bewusstseinsinhalte zu materialisieren. Der Leiter der Station, Gibarian, hat sich aus Verzweiflung umgebracht. Kelvin findet die Wissenschaftler Snaut und Sartorius vor. Snaut scheint etwas zu verheimlichen. Am Ende von Kelvins erstem Besuch bei Snaut sieht man plötzlich ein Ohr aus einer Hängematte hervorlugen. In der Nacht erscheint Kelvin seine ehemaligen Frau Harey, die sich das Leben genommen hatte: eine Begegnung, die zunächst eher anheimelnd als unheimlich verläuft. Dennoch versucht sich Kelvin dieses ungebetenen Besuchs zu entledigen, indem er Harey in eine Rakete steigen lässt und sie in den Weltraum jagt. Danach schaut Snaut vorbei. Tarkowskij schrieb in seinen Aufzeichnungen26, wie wichtig es ihnen war für die Rolle des Snaut einen Schauspieler mit „einem naiven, verschreckten und verstörten Blick“ zu finden – aus Gründen, die wahrscheinlich nur Tarkowskij selbst kannte. Snaut erscheint zunächst nur als ein harmloser Schwätzer wie es sie viele gibt. Er belustigt sich darüber, dass Kelvin sich beim Raketenabschuss die Kleider versengt hat: „Ihr seid ja ganz schön übereinander hergefallen!“ Wenn man der deutschen Synchronisation Glauben schenken darf, erlaubt sich Tarkowskij hier einen kleinen Ausflug ins Reich der Herrenwitze. Bei den englischen Untertiteln in anderen Versionen findet sich freilich keine Spur davon27. Dann fragt Snaut spöttisch: „Hast du vielleicht auch mit dem Tintenfass geworfen, wie Luther?“ Die Legende, derzufolge Luther auf der Wartburg ein Tintenfass nach dem Teufel geschleudert haben soll, ist so sehr Teil der internationalen Lutherfolklore, dass man so leicht nicht auf die Idee käme, sie zu ironisieren. Man muss aber doch zugeben, dass ein solches Verhalten zwar sicher mutig gewesen wäre, aber auch zumindest in spiritueller Hinsicht eine gewisse Naivität verriete. Das personifizierte Böse wäre so etwas wie ein „Schandfleck“ schlechthin, um eine Luthersche Wortprägung zu gebrauchen. Warum sollte man ihn mit Ruhm oder Tinte bekleckern? Außerdem hat der arme Teufel auch nur Nerven und würde mit Sicherheit zurückwerfen. Vermutlich um 5.45 Uhr.-

Im Umfeld von Solaris, im Kontakt mit dem Unheimlichen ist nie ganz klar, ob man es mit dem Göttlichen oder dem Teuflischen zu tun hat. Diese Ambivalenz liebte Tarkowskij. Dabei wird klar, dass im Umgang mit spirituellen Phänomenen eine Schusswaffe noch weniger sinnvoll ist als ein Tintenfass. Deshalb wird Kelvins Pistole lächerlich gemacht, sie kitzelt Harey am Fuß und wird beiseite geschoben28.

Der Wissenschaftler Sartorius ist eiskalt und hat für Kelvins wachsende Anhänglichkeit an Harey nur Spott übrig: es sind aus Neutrinos zusammengesetzte Phänomene, die sich immer wieder regenerieren können. Das Problem des Faust, die Unsterblichkeit sei damit gelöst, heißt es beiläufig. In Lems Romanvorlage nennt Snaut Sartorius einen „umgedrehten Faust“, weil er für die unsterblichen Neutrino-Materialisierungen einen Anihilator erfindet, um sie zu vernichten. Goethes Faust geht es nach Tarkowskij um beides, sowohl Sterblichkeit als auch Unsterblichkeit manipulativ zu erreichen, Herr über Leben und Tod zu sein. Mit anderen Worten, denen am Ende des prometheischen Knurrgebets:

„Hier sitz‘ ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!“

Interessant ist, dass in Tarkowskijs letztem Film Opfer(1986), ein ähnlicher Widerspruch wieder auftaucht. Alexander betet darum, dass alles wieder so werden soll wie heute morgen. Der Postbote Otto verspricht ihm dagegen im Traum von einer intimen Begegnung mit der Dienstbotin Maria, dass dann „alles aufhört“.

Goethes Faust hat mit dem Teufel paktiert und nach vielen Seiten Lektüre oder nach einer endlosen Theateraufführung, nach Goethes ganzem Dichterleben wird ihm von drei Engeln beschieden: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Strebertum als Ausweg und Rettung. Luthers Lehre hat sich in ihr weltzugewandtes Gegenteil verkehrt. Sehr dazu angetan dem „deutschen Wesen“ Auftrieb zu geben, hatte der Ausspruch als Zierrat mit Eichenlaub in deutschen Sonntagsreden ein langes, erst in nach-wilhelminischer Zeit verwelktes Nachleben.

Der Spiegel (1976)

Wie schon in Solaris macht sich in Der Spiegel Tarkowskijs Bewunderung für die Musik von Johann Sebastian Bach bemerkbar. Das Präludium aus dem Orgelbüchlein: „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ!“ (BWV 639) wird in Solaris zweimal gespielt und elektronisch nahezu endlos variiert.

Im Spiegel wird der Vorspann des Films von einem anderen Präludium aus dem Orgelbüchlein untermalt: „Das alte Jahr vergangen ist“ (BWV 614) Die elegische Grundstimmung des unwiderruflich Vergangenen teilt sich den dann folgenden Kindheitserinnerungen mit.

Der autobiographische Film handelt unvermeidlich auch vom „großen, vaterländischen Krieg“, aber bezeichnend ist, wie er davon handelt. Nebenhin bemerkt: als Tarkowskijs Vater einmal von der Front heimkommt, ist es dem Regisseur wichtig die Tapferkeitsauszeichnung des Vaters zu zeigen.

Diese Szene ist darüber hinaus überaus rätselhaft. Denn das schon erwähnte Leonardo zugeschriebene Frauenbildnis (Ginevra de’Benci) wird eingeblendet, vermischt mit blendendem Sonnenlicht; dazu erklingt ein Rezitativ aus Bachs Matthäus-Passion: „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebete und die Felsen zerrissen, und die Gräber täten sich auf und stunden auf viel Leiber der Heiligen…“ (Mt 27,51f.) Auch hier muss sich der nicht-deutsche Betrachter den Text übersetzen, was wieder einmal bestätigt, dass sich der Regisseur über das Ex-und-hopp-Kino hoch erhaben fühlte. Wenn man den Text des Rezitativs versteht, wird die Szene nicht weniger rätselhaft, eher im Gegenteil. In dieser Hinsicht ist die Tarkowskij-Forschung noch in den Kinderschuhen29. Der Regisseur zeigt sich wieder hin und her gerissen zwischen einem Film für alle (gerade auch auf diesen Film hat er positives Echo von einfachen Leuten bekommen, womit Tarkowskij sein Buch begonnen hat30) und dem Bekenntnis zur Rätselhaftigkeit seiner Kunst in einem der letzten Interviews31.

Relativ breiten Raum nimmt die Episode einer paramilitärischen Übung auf einer Schießanlage ein. Man spürt die klirrende Kälte am unterm Schritt hart knirschenden Schnee, am gefrierenden Atem der Beteiligten; sie teilt sich auch der „Meditation“ über das Funktionieren des Gewehrs mit. Der Ausbilder, ein düsterer, mürrischer Mann, lässt die Jungen die Bestandteile des Gewehrs aufzählen, während die Kamera langsam an Schaft und Lauf entlang gleitet, um dann am unheilvollen Mündungsloch zu verharren. Einer der Jungen, Asafiew, weigert sich zu funktionieren, widersetzt sich dem Ausbilder. Dieser Junge hat die Blockade von Leningrad überlebt und alle seine Angehörigen verloren. Die Blockade von Leningrad wird nur beiläufig erwähnt, in Russland weiß vermutlich ohnehin jeder, worum es geht. Wir Deutschen täten auch gut daran, uns an diesen Schandfleck zu erinnern. „Die Blockade (блокада Ленинграда) dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 (!). Schätzungen gehen von etwa 1,1 Millionen zivilen Bewohnern der Stadt aus, die in Folge der Blockade ihr Leben verloren (!). Die Einschließung der Stadt durch die deutschen Truppen, mit dem Ziel, die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen, war eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Krieges gegen die Sowjetunion.“32

Mit einer nicht funktionierenden Handgranate gelingt es Asafiew den Ausbilder und die Kameraden in Angst und Schrecken zu versetzen, sie gewissermaßen an seinen Erfahrungen Anteil haben zu lassen. Als die Handgranate über die Holzpaneelen rollt, werfen sich alle auf den Boden. Der so kalt wirkende Ausbilder stürzt sich zum Schutz der Kinder auf die Handgranate, Mütze und auch ein Kunststoffschutz fallen ihm vom Kopf. Ihm fehlt offenbar ein Stück der Schädeldecke und wir sehen ein pochendes Pulsieren unter einer Narbe. Er zeigt sich verletzlich und schutzlos. Das allgemeine Mitleid, von dem Tarkowskij gelegentlich sprach33, kommt uns an.

Wie in Iwans Kindheit ist es wieder ein Kind, an dem die Schrecken des Krieges gezeigt werden. Im Unterschied zu Iwan, der, wenn er sich freute, hinreißend sein konnte, ist dieser Junge nicht sympathisch gemeint. In seinem herben Realismus zeigt Tarkowskij uns ein eher hässliches Knäblein, dem das Leben fast alles versagt hat34. Etwas später sehen wir diesen unglücklichen Jungen vor einer mit vielen Menschen belebten weiten Winterlandschaft. Diese Szene ist häufig als Zitat des Bruegel-Gemäldes, das in Solaris gezeigt worden war: Die Heimkehr der Jäger im Schnee angesprochen worden. Tarkowskij selbst hat bekannt, dass er in dieser Szene die Nähe zu Bruegel gesucht habe35. Ich möchte aber noch eine andere Beziehung hervorheben, die für Tarkowskij wichtig war und die weniger offensichtlich ist. In Die versiegelte Zeit spricht er von den vielfigurigen Bildern des venezianischen Quattrocento-Meisters Vittore Carpaccio. Als das Besondere von dessen Kunst hat er die Tatsache hervorgehoben, dass jeder der vielen dargestellten Menschen Mittelpunkt des Ganzen sein könne36. Vielleicht sah er etwas Ähnliches auch bei Bruegel. Genau darum scheint es in dieser Szene zu gehen: ein Sperling fliegt herbei und setzt sich auf den Kopf des Jungen. Ein poetischer Hinweis darauf, dass er gemeint ist, dass an ihn gedacht ist. In der nur für diesen Film Tarkowskijs typischen Collagetechnik ist diese Szene unmittelbar umgeben von Bildern weltgeschichtlichen Schreckens: Panzer, Luftkrieg, Atompilze. Offenbar muss man das als Behauptung verstehen, dass diese Aufmerksamkeit für den Einzelnen trotz all dieser Schrecknisse besteht37. Die kurze Dokumentaraufnahme von Hitler ist gewissermaßen ein Nachtrag zu Iwans Kindheit: die Leiche des Führers mit zu Häupten Trümmern eines wohl gipsernen Reichsadlers, der angeblich schon früh hinter vorgehaltener Hand „Pleitegeier“ genannt wurde. Übrigens war es ein lange gehegtes Vorhaben Tarkowskijs über den Martin-Bormann-Prozess in Jerusalem einen Film zu machen38.

Zuvor wird ausführlich Wochenschaumaterial vom Vormarsch der Roten Armee gezeigt im zweiten Weltkrieg: Dokumentaraufnahmen über den endlosen Marsch von Soldaten durch den Siwasch-See, dem so genannten Asowschen Meer. Für Tarkowskij waren diese Aufnahmen nach seinen eigenen Worten gewissermaßen das Rückgrat des Films. In seinem Buch beschreibt er die unbändige Begeisterung, als er nach einer gleichfalls fast endlosen Sichtung von Wochenschau-Dokumentationen auf einmal dieses Material entdeckte39. Man sieht in aufgelöster Ordnung Männer, zum Teil schwer beladen, einer ungewissen Zukunft entgegen wanken. (Aufnahmen von Militärparaden wären leicht zu finden gewesen. Andrej Michalkow-Kontschalowskij machte in der Siberiade von 1979 Gebrauch von ihnen.) Der Horizont verschmilzt mit der hellen, endlosen Wasser- und Schlammwüste. „Es war unmöglich, auch nur für eine Sekunde an die Sinnlosigkeit dieser Leiden zu glauben. Dieses Material sprach uns von der Unsterblichkeit, und das Gedicht Arsenij Tarkowskijs verlieh dieser Episode einen Rahmen, vollendete sie sozusagen.“40 . Bezeichnend ist, dass die russischen Soldaten nicht im Feindkontakt, sondern in ihrer Leidensfähigkeit, ihrer schier unglaublichen Ausdauer und Zähigkeit gezeigt werden.

Am Schluss kommt der Film noch einmal auf Bach zurück, und zwar im großen Stil. Zuerst sehen wir das heiß geliebte Haus der Kindheit und die jungen Eltern, die davor im Gras liegen. Er fragt sie: Möchtest du lieber einen Jungen oder ein Mädchen? Sie lächelt etwas kokett, wird dann aber zu Tränen bewegt und schaut hinaus auf das im Abenddämmer blühende Buchweizenfeld, durch das sie selbst als alte Frau eiligen Schritts mit den beiden kleinen Kindern wandert: eine chronologische Absurdität und vielleicht Zusammenschau ihrer Ängste und Sehnsüchte. Dazu die unruhigen, dissonierenden ersten Akkorde vom Beginn der Johannes-Passion mit dem dann anbrandenden Chor: „Herr, unser Herrscher!“ Die Kamera wandert über die Erde, filmt allerlei, was das so krabbelt, nichts Spektakuläres, aber auch Zivilisationsmüll. Als der Chor verebbt, singen nur noch die Grillen. Dann bleibt der kleine Andrej etwas zurück und stößt einen gellenden Schrei aus. Das vorläufig Letzte, was wir von ihm hören. Der Kamera weicht von der Lichtung zurück in den dunklen Wald. Am Ende des Films ein Spiel mit Anfängen: dem Anfang der Johannes-Passion und dem Anfang von Dantes Divina Commedia, auf den im Film spielerisch Bezug genommen wurde: „Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura ché la diritta via era smarrita.“

War der Film eine Wanderung durch Jenseitiges? Der Film wird noch angeschaut werden, wenn alle gefilmten Menschen längst gestorben sind. Tarkowskij war der Überzeugung, dass sie immer noch leben. Der Film endet mit einem Gebet, das aber irgendwie unartikuliert ist. Man erinnert sich an „das unaussprechliche Seufzen“ des Geistes, von dem Paulus sprach; es ist die Schöpfung selbst, die stöhnt (Römer 8, 22-26).

Stalker (1979)

Am 20. September 1970 kopierte Tarkowskij in sein Tagebuch einen Passus aus Hermann Hesses Glasperlenspiel, das er damals mit großer Begeisterung las. Es geht um eine berühmte altchinesische Abhandlung zum Wesen der Musik: „Darum ist die Musik eines wohlgeordneten Zeitalters ruhig und heiter und die Regierung gleichmäßig. Die Musik eines unruhigen Zeitalters ist aufgeregt und grimmig, und seine Regierung ist verkehrt. Die Musik eines verfallenden Staates ist sentimental und traurig, und seine Regierung ist gefährdet.“

Etwas weiter unten notierte er einen anderen Satz, der vielleicht auch auf Musik bezogen werden kann und der in meiner Sicht für den Film Stalker bedeutsam werden sollte: „Was du Leidenschaft nennst, ist nicht Seelenkraft, sondern Reibung zwischen Seele und Außenwelt…“

Zu Beginn des Films wird die Familie: Stalker, seine Tochter, seine Frau, schlafend in einem Messingbett gezeigt. Ein Zug fährt in großer Nähe vorbei, so dass das Nachttischchen erschüttert wird. Die Kamera tastet die Gesichter der schlafenden Mutter und Tochter ab, der Stalker liegt schon wach. Man hört im Lärm des fahrenden Zuges undeutlich einige Takte der Marseillaise. Das Glas auf dem Tablett auf dem zitternden Nachttisch beginnt sich wie von Geisterhand zu bewegen und das Wasser darin zu schaukeln: ein Sturm im Wasserglas.

Gegen Ende des Films, mitten in der Zone, wiederholt sich etwas unmotiviert dieses Motiv des vorbeiratternden Zuges, freilich mit einem bedrohlichen Bild. Offenbar auf dem Grund des innersten Raumes, der unter Wasser steht, liegt der zylindrische Teil einer unschädlich gemachten Bombe. Von rechts oben nähert sich ein Fisch, ein Karpfen. Von links unten schwappt ein schwarzer Ölfilm ins Bild, um es alsbald gänzlich zu überziehen. Dazu der Rhythmus des fahrenden Zuges und Klänge aus Maurice Ravels Bolero. Ökologen würden darin vor allem eine Warnung vor einer Umweltkatastrophe, einer Ölpest sehen. Ebenso sehr bezeichnet es eine Bedrohung des Christentums. Der Fisch, χθύς, ist ein frühchristliches Geheimzeichen für Christus: „Ιησούς Χριστός Θεού Υιός Σωτήρ – Jesus Christus Gottes Sohn, Erlöser“. Ravels Musik gerät dabei in einen unvorteilhaften Zusammenhang.

Ganz am Ende des Films liest Stalkers gelähmte Tochter Monkey („Äffchen“) ein Gedicht Tschutschews über den Kuss und den sengenden Blick einer leidenschaftlich Liebenden, ein Gedicht, von dem ungewiss ist, wie viel die Zwölfjährige davon versteht. Sie beginnt dann drei Gläser nur mit der Kraft ihres Blicks zu bewegen: das parapsychologische Phänomen der Telekinese. Schließlich nähert sich wieder ein Zug, am linken Bildrand gerät ein wohl mit Tee halb gefülltes Glas heftig ins Schwappen und man hört, sehr gedämpft, den ekstatischen Chor vom Ende der 9. Sinfonie Beethovens: „Diesen Kuss der ganzen Welt!“41. In einer für Tarkowskij charakteristischen dialektischen Verschränkung wird deutlich, dass es sich beim Blick der Kleinen nicht um „Leidenschaft“, „Reibung zwischen Seele und Außenwelt“ handelt. Beethovens Musik bleibt merkwürdig in der Schwebe: ist diese Leidenschaft Seelenkraft? Ich gebe Tobias Pontara Recht, der hier eine kritische Distanzierung Tarkowskijs von Beethoven vermutet42.

Tarkowskij ging es in dieser Schlussszene nicht primär darum, uns seinen Glauben an parapsychologische Phänomene zu vermitteln. Vielmehr wird die Telekinese zum Bild für „Seelenkraft“.

Stalker ist relativ früh Gegenstand ernsthafter akademischer Beschäftigung geworden.

Man hat versucht, Beziehungen zum frühromantischen Helden „Heinrich von Ofterdingen“ des Novalis herzustellen43. Gewiss, Heinrich muss im Traum durch einen kristallklaren Teich schwimmen, bevor er die blaue Blume entdeckt. In der Zone müssen die drei Männer auch eine Art Taufe bestehen, einen tiefen Graben durchwaten, bevor sie vor der geheimen Kammer angelangen. Für die kristallene Klarheit des Wassers würde ich nicht meine Hand in den Sumpf legen. Im Gegenteil ist es mir gerade wichtig, dass dieser modernere Heinrich mit den sehr viel trüberen Wassern des ausgehenden 20. Jahrhunderts gewaschen ist. Und sicher würde mich der Film nicht dazu bewegen, den Roman des Novalis noch einmal hervorzukramen. Der Titel des Films Stalker spielt vielleicht auf das russische Starez (старец) für „Seelenführer“ (eigentlich: „der Alte“) an, stellt aber vor allem eine viel engere Beziehung zu den indianischen „Pirschgängern“ in Carlos Castanedas Don Juan her44. Das wäre Thema einer Untersuchung der Beziehung Tarkowskijs zu den Amerikanern.

In diesem Zusammenhang soll freilich ein kompromittierender Traum nicht verschwiegen werden, von dem Tarkowskij allerdings berichtet, als Stalker schon im Kasten ist, am 9. Juli 1979. Angeblich einer von zwei Träumen, die ihn ein Leben lang begleitet haben. Es geht, oh Wunder, um blaue Blumen. „Gott, was für einen wunderbaren Traum ich hatte!“ Er beginnt rätselhafter Weise aber gar nicht nur idyllisch: „Sonne, leichter Wind. Ich gehe spazieren, aber ich gehe rasch, so als hätte ich ein Ziel. Ich nehme einen Weg, den ich nie zuvor gegangen bin. Und gelange bald an einen wunderschönen, einfach paradiesischen Ort, wo, unberührt vielerlei Blumen blühen. Aus der Ferne dringt Geschrei zu mir, es hört sich an, als balgten sich welche im Gras – bald reißendes Zerren, bald Stöhnen: den Stimmen

nach zu urteilen eine Schlägerei auf Leben und Tod. Ich gehe den herrlichen Waldweg weiter, und nach einer Biegung zum Feld hin erblicke ich zwei sich auf dem Wege bekämpfende Kinder. Dorfkinder. Am Wegrand sitzt eine junge Frau oder ein Mädchen und werkelt etwas. Ich sage zu ihr: ‚Sie werden sich totschlagen.’ ‚Sie tun ihm leid! Solltest besser mit dem Mädchen Mitleid haben. Geh weiter, geh weiter, die schlagen sich schon nicht tot’ hörte ich da jemand sagen.“ Von weitem erinnert dieser Kamp auf Leben und Tod an eine der Pinturas Negras Francisco Goyas in der Quinta del Sordo: zwei Männer, wie mit dem Boden verwachsen und heroisch gegen den Himmel projiziert, dreschen mit Knüppeln aufeinander ein, was etwas beinahe Absolutes bekommt und deshalb wie eine satanische Eingebung des „Anklägers“ der Menschen wirkt. Etwas ins Burleske gewendet gibt es in Tarkowskijs Rubljow ähnliches: in strömendem Regen und Schlamm versuchen sich zwei volltrunkene Bauern mit Baumstämmen zu erschlagen. Aber im Traum geht es sehr viel schöner weiter: „Der Spaziergang dauert nur kurz. Ich schaue mich um und halte inne, um nicht einen Abhang hinunterzufallen. In der Schlucht rauscht ein schöner, breiter, reiner Fluss, seine Oberfläche ist leicht gekräuselt, auf dem Hang gegenüber Gras, Laubbäume, Stille, Frieden! Wieso ich bloß diesen Ort früher nicht kannte! Ich lege mich dicht am Abhang ins Gras. Vor meinen Augen (längs des Weges) frisches Gras, eine kleine, ganz mit blauen Blumen übersäte Wiese, in der Ferne schließt sich das Bild (ob teilweise durch Nadelbäume?) zu einem dunklen Ort, und am Ende die Wiese mit zwei riesigen blauen Blumen in der Tiefe.“ Realistischerweise bemerkt er in Klammern dazu: „sie sehen aus, als wüchsen sie dicht vor meinen Augen und gleichen den Veilchen, die vor meinem Fenster wachsen.“ Dass der Russe die blaue Blume doppelt sieht, kann man erheiternd finden, und flugs wandelt sich der wunderschöne Traum, als habe ein Rabe nach dem (den) Rechten gesehen, in einen deutschen Nachtmahr der zweiten Klasse: zwei tiefblaue, schreckhaft geweitete Fettnäpfchen.

Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich des Verdachts nicht erwehren, dass sich hinter der romantischen „blauen Blume“ die Sehnsucht verbirgt nach der großen Abwesenden in weiten Teilen der deutschen Kultur nach der Reformation: Maria45. Novalis alias Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg entstammte streng pietistischem Milieu. Jedenfalls fällt mir bei der „blauen Blume“ zu allererst Stephan Lochners Madonna im Rosenhag ein (1450 Köln) mit ihrem meerblauen Faltenwurf von rosenblättriger Beschaffenheit. Freilich stand die Entdeckung dieses duftigsten der altdeutschen Maler erst am Ende einer Suchbewegung, die von der Romantik ihren Ausgang nahm. Nebenbei bemerkt, bietet sich hier wieder ein Anknüpfungspunkt an Tarkowskijs Stalker. Es geht um die Geschichte des musikalischen Themas für diesen Film, bei dessen Entwicklung Tarkowskij Eduard Artemjew, dem Pionier der elektronischen Synthesizer-Musik in der Sowjetunion, ein Äußerstes an Geduld und Selbstverleugnung abverlangt hatte. Tarkowskij wollte eine Musik, die in sich die Spannung zwischen Ost und West vereinigte, in gewisser Weise sogar im Sinne Rudyard Kiplings die Unvereinbarkeit von Europa und Asien widerspiegelte. Tarkowskij sah die russische Seele, wie die russischen Lande, ausgespannt zwischen Orient und Okzident. Nach langem Suchen hatte Artemjew einen wirklich alten Hymnus vielleicht aus dem 15. Jahrhundert von anonymer, wahrscheinlich italienischer Autorschaft ausgegraben: Pulcherrima Rosa46. Dieser lateinische Hymnus von unnennbarer Süße und Wehmut, den man heute ohne weiteres im Internet ausfindig machen kann, richtet sich an Maria. Tarkowskij fehlte der Osten. Artemjew experimentierte mit orientalischen Instrumenten. Es half alles nichts. Dann behalf Tarkowskij sich mit einem bildhaften Ausdruck und gebrauchte eine Formulierung aus einem Gedicht seines Vaters: die Musik solle sein wie „in Schichten starres Wasser“. Für einen Künstler ist das vielleicht eine hilfreiche Instruktion. Zu guter Letzt hatte Artemjew die modifizierte Melodie der Flöte, die mitunter zu einem „schluchzenden Schrei“47 aufgipfelt, mit metallisch hallenden Tarklängen unterlegt. Diese Musik, die im Gegensatz zur Zone extreme Weiträumigkeit suggeriert, klingt im Laufe des Films immer wieder auf und schlägt immer wieder in den Bann. Stalker ist unter anderem auch eine Meditation über das Wesen der Musik und es wird Zeit, dass sich auch einmal die Musikwissenschaft seinem Werk widmet. Eine wie singuläre Erscheinung Tarkowskij war, lässt sich auch daran ablesen, dass ihm mehrere, sehr verschiedene zeitgenössische Komponisten Werke gewidmet haben: Arvo Pärt, Luigi Nono und Toru Takemitsu48.

Nostalghia (1983)

In seinem vorletzten Film kam Tarkowskij an prominenter Stelle auf Beethovens Choral vom Ende der 9. Sinfonie zurück. Zuvor wird Tarkowskijs Zerrissenheit zwischen Ost und West in Sachen Musik noch einmal deutlich. In Bagno Vignoni, einem mittelalterlichen Thermalbad in Mittelitalien, werden wir Zeugen einer scheinbar belanglosen Konversation zwischen gediegenen Badegästen, die bis zum Hals im von Dunstschwaden bedeckten Schwefelwasser stehen. Ein glatzköpfiger, Zigarre paffender General wird nach der seltsamen Musik gefragt, die er jeden Tag im Hotel hört. Die anmaßende Stimme des Generals ertönt: „Chinesische Musik – hundert Mal besser als Verdi!“ Der Herr mit Hut erwidert: „Lassen Sie Verdi aus dem Spiel! Das sind doch nur Chinoiserien.“ „Das ist eine andere Zivilisation. Keine sentimentalen Klagen! Die Stimme Gottes, der Natur!“ Zunächst wirkt das als purer Snobismus. Die ganze Szene ist ironiegetränkt und man fragt sich, ob der dichte Dunst, mit dem sich die Kurgäste umnebeln, nur von der Zigarre des Generals herrührt oder nicht vielmehr Bild des allgemeinen Geschwafels ist; nicht von ungefähr spricht man neudeutsch von „Dampfplauderern“.

Wenig später hören wir im Hotel den tatsächlich sehr fremdartigen, rituellen chinesischen Gesang. Eine ältere Dame, die vermutlich seit längerem hier Obdach gefunden hat, schwört verzweifelt im Treppenhaus, dass sie sich nicht rausekeln lassen wird, was einer der wenigen humoristischen Akzente im Film ist.

Die Konversation im Thermalbecken wird von einem einsamen Einzelgänger kommentiert, der sich mit seinem Schäferhund unterhält. Er distanziert sich von dem Gerede, meint aber auch: „Man muss gut zuhören, denn man kann immer etwas lernen.“ Gegen Ende der Dreharbeiten zu Nostalghia notierte Tarkowskij am 8.2. 1983 im Tagebuch: „Die gesamte Musik des Westens ist am Ende nichts als dramatische Wucht: ‚Ich will, beanspruche, wünsche, fordere, leide’ Die östliche dagegen (China, Japan, Indien): ‚Ich will nichts, ich bin nichts’ – eine völlige Auflösung in Gott, in der Natur. Der Orient: übrig gebliebene Fragmente antiker Kulturen, authentisch zivil, dem Westen entgegengesetzt, dem Zentrum einer in die Irre gegangenen, tragischen technologischen Zivilisation. In Rebellion gegen Gott, gierig, rationalistisch, pragmatisch. Eben weil Russland sich zwischen Orient und Okzident vorfindet, nimmt man in ihm eine andere Substanz wahr als die des Westens, die dem Untergang geweiht und verkehrt ist.“ Auch am Ende seines Buches kommt er darauf zurück und man würde hoffen, dass er sich in der Öffentlichkeit maßvoller auszudrücken sucht – weit gefehlt: „Wie gern möchte man sich zuweilen ausruhen, sich irgendeiner anderen Auffassung vom Sinn der menschlichen Existenz zuwenden. Der Osten war der ewigen Weisheit stets näher als der Westen, die westliche Zivilisation aber hat den Osten mit ihren materiellen Lebensansprüchen verschlungen. Man vergleiche nur einmal östliche und westliche Musik.

Der Westen schreit: Hier da bin ich! Schaut auf mich! Hört, wie ich zu leiden und zu lieben verstehe! Wie unglücklich und glücklich ich sein kann! Ich! Ich! Ich!!! Der Osten sagt kein einziges Wort über sich selbst! Er verliert sich völlig in Gott, in der Natur, in der Zeit, und er findet sich selbst in allem wieder. Er vermag alles in sich selbst zu entdecken. Taoistische Musik – China, sechshundert Jahre vor Christi Geburt.“49 Es ist nicht ganz leicht, hier als Abendländer mit einem Minimum an Selbstachtung ruhig zu bleiben. Zumal Tarkowskij selbst, nun ja, zuweilen auch sehr laut „Ich!“ schreit. Man denke an den Schluss des Rubljow, nachdem der Film vollends „staatstragend“ werden sollte, als der Glockenguss gelungen ist, da bricht aus dem schluchzenden Boriska hervor, dass ihm der Vater gar nicht wie angegeben auf dem Sterbebett das Geheimnis des Glockengusses verraten hat. Tarkowskij bringt damit den privatesten Kummer seiner unendlich komplizierten Vaterbeziehung zum Vorschein, hängt ihn gewissermaßen an die große Glocke. Er handelt hier von seinem Vater, dem er einerseits sehr viel von seiner Begabung verdankte, der aber die Familie früh im Stich gelassen hatte. Der Regisseur sah sich in der Rolle des unerfahrenen Glockengießerjungen. Doch hatte man ihm nicht die Aufgabe des Andrej Rubljow anvertraut, weil sein Vater ein (im Übrigen eher unbekannter) Dichter war, sondern weil er selbst in Venedig einen hoch angesehenen Preis gewonnen hatte. Dem Film Spiegel wurde vor allem angelastet, die eigene Person auf unerträgliche Weise in den Vordergrund zu stellen (in einer sehr „unrussischen“ Rückhaltlosigkeit und Nacktheit, wie die Kritikerin Maja Turowskaja bemerkte50). Und gegenüber einer Frau, die ihn als Übersetzerin bei seinem letzten Film geholfen hat, Layla Alexander Garrett, gab er die Maxime aus: „Wenn Sie im künstlerisch-kreativen Feld arbeiten wollen, fürchten Sie sich nie vor dem Personalpronomen ich.“51 Mit anderen Worten, es könnte sich um ein weiteres Kapitel in dem Buch Tarkovsky vs. Tarkovsky – Tarkowskij gegen Tarkowskij handeln, das die Kritikerin Olga Surkowa auf Russisch veröffentlicht hat, für das sie aber noch keinen englischsprachigen Verlag gefunden zu haben scheint52. Manchmal stellen wir uns die Künstlerpersönlichkeit als malerisch in tausend Widersprüchen zerklüftet vor. Selten begegnet ein so zerrissener Künstler wie Tarkowskij. War der von ihm so verehrte Bach zerrissen?

Man wird sich an den Anfang des Zitates in seinem Buch erinnern müssen: „Wie gerne möchte man sich zuweilen ausruhen…“ Die Sehnsucht nach Asien ist eine Art von Eskapismus. Tarkowskij hat als sehr tiefer Mensch ein klares Bewusstsein der eigenen Ich-Verfallenheit, und davon möchte er erlöst werden. Marius Schmatloch hat eine Dissertation zu Tarkowskij geschrieben, in der er ein Oszillieren des Künstlers zwischen einem völlig in sich verschlossenen „Autismus“ und der Sehnsucht nach extremem Altruismus nachweist53.

Im März 1985, als Tarkowskij schon an seinem letzten Film in Schweden arbeitete, hat er noch einmal zwei polnischen Journalisten ein längeres Interview gegeben, auch weil er damals an den politischen Entwicklungen in Polen lebhaft Anteil nahm54. Tarkowskij lehnte es schroff ab mit der Romantik in Verbindung gebracht zu werden (ein weiteres Kapitel in Tarkovsky vs. Tarkovsky…in Ebbo Demants Dokumentarfilm heißt es er habe sich „deutsche Romantiker“ in die Klinik Öschelbronn bringen lassen55) und behauptete dann lapidar, polnische oder russische Autoren hätten nicht so viel von sich selbst gesprochen wie „Novalis, Kleist, Byron, Schiller, Wagner“. Dann zog er noch mal zur Musik vom Leder. Diesmal nannte er Namen und es bestätigt sich, was wir schon dunkel geahnt hatten: er hat dabei auch an Ludwig van Beethoven gedacht! „…sieh, wie arm ich bin, wie elend, ganz in Lumpen, ein wahrer Hiob…, ich leide wie der antike Prometheus…“usw.

Zugegeben, Tarkowskijs Interviews sind nicht immer als Gute-Nacht-Lektüre geeignet, auch weil man spürt, dass vielleicht ein Körnchen Wahrheit darin ist. Im Moment dieses Interviews war ihm allerdings anscheinend entfallen, dass die grausame Schicksalsironie im Leben eines Komponisten, dem das Hören verging, durchaus keine Bagatelle ist. Die sehr herbe Art Tarkowskijs erinnert an sein großes Vorbild Tolstoj, der etwa in der (relativ) kurzen Erzählung Die drei Tode die Tode einer vornehmen Dame, eines einfachen alterschwachen Kutschers und einer Esche vergleicht. Da ist einerseits ein naiver Herzton, bei dem viele sehr bald teils verstohlen, teils unverhohlen zu lächeln begännen, wäre da nicht auch eine schonungslose Härte, mit der Tolstoj das Ende der siechen Frau und selbstbezogenen jungen Mutter beschreibt, die im übrigen ein feingliedriges Inbild der von Nietzsche so gepriesenen „Wohlgeratenheit“ war. Mit anderen Worten: große Menschen, kleine Menschen – der Tod macht alle gleich.

Man könnte einwenden, dass sei eine etwas banale Binsen- bzw. Sensenweisheit. Um damit ans Ziel zu kommen, muss man allerdings emotionale Abwehrmechanismen umsensen. In Tolstojs Der Tod des Iwan Iljitsch (1886) hält ein Kollege des Iwan Iljitsch mit dem schönen deutschen Namen Schwarz die Tatsache des Todes kühl-ironisch und erfolgreich auf Abstand. Er wird zum Prügelknaben Tolstojs in seinem antiwestlichem Ressentiment, wobei die eigentliche Zielscheibe, wie man bei Tolstoj weiß, nicht so sehr das Deutsche, sondern das Angelsächsische ist56: Das Geheimnis des Erfolgs dieses Gentleman ist, um es etwas pointiert zu sagen, unter anderem ein Innenleben im handlichen Taschenformat. Es ist nur eine höfliche Unterstellung, vorauszusetzen, dass er überhaupt so etwas wie ein Innenleben hat57.

Der Filmkomponist Artemjew berichtete, dass der Maler Romadin Anfang der 70er Jahre Tarkowskij als Sensenmann porträtierte58. Ein schalkhafter Sensenmann führt am Ende von Ingmar Bergmans Das siebente Siegel (1957) einen makabren Totentanz an. In Nostalghia ist das „Memento mori“ Tarkowskijs zeitgemäßer: immer wieder hört man in der Ferne den monotonen Sirenengesang einer Kreissäge. Doch sollten wir Beethovens Freudensinfonie nicht gänzlich aus den Augen verlieren.

Man befürchtet Schlimmstes für die Behandlung von Beethoven. Freilich möchte ich doch einen Gewährsmann erwähnen, der den großen Respekt Tarkowskijs für Musik bezeugt hat. Claudio Abbado hatte in London mit Tarkowskij bei einer Inszenierung des Boris Godunow von Modest Mussorgskij zusammengearbeitet (1983) und glaubte behaupten zu können, dass Tarkowskij mehr Respekt für die Musik hatte als andere Regisseure59.

Bevor wir einen großen Sprung zum finale furioso des Films machen, fasse ich in wenigen Worten die ohnehin spärliche Handlung der ersten 90 Minuten zusammen. Ein russischer Intellektueller, Andrej Gortschakow, reist auf den Spuren eines russischen Musikers des 18. Jahrhunderts, der in Italien gelebt hatte. Der Russe ist von einer russischen „Krankheit“, dem verzehrenden Heimweh befallen, das zusehends alle Lebensgeister lähmt. Da lernt er Domenico kennen, ein ehemaliger Mathematiker und eine zwischen großem Idealismus und Wahnsinn schillernde Figur. Gortschakow besucht ihn in einer ausgedienten Fabrik und lässt sich von Domenico das Versprechen abnehmen, das Thermalbecken in Bagno Vignoni mit einer angezündeten Kerze zu durchqueren, eine angeblich bedeutungsvolle Handlung. Domenico lässt einige Akkorde aus dem Schlusschor Beethovens auf seiner Stereoanlage hören und macht geheimnisvolle Andeutungen, „sie“ hätten etwas Großes vor in Rom. Gortschakow fährt nach Rom und schickt sich an, sich für seinen Rückflug nach Moskau zum Flughafen fahren zu lassen. Doch ruft er noch einmal die Dolmetscherin Eugenia an. Von ihr erfährt er, dass Domenico schon seit Tagen auf dem Kapitolsplatz Reden schwingt „wie Fidel Castro“ und sie gefragt habe, ob er, Gortschakow, sein Versprechen gehalten hat. In einem Treuebeweis, der dem so genannten „gesunden Menschenverstand“ ins Gesicht fliegt, lässt sich der schwer kranke Gortschakow statt zum Flughafen nach Bagno Vignoni fahren, um sein Versprechen zu erfüllen.

Aus Restaurierungsgründen war das Reiterstandbild des Mark Aurel auf dem Kapitolsplatz damals eingerüstet. Domenico ist hinaufgeklettert und steht, von einem Fuß auf den anderen tretend, auf dem Rücken des Rosses. Wir hören letzte Kostbarkeiten seiner, wie gesagt, länger währenden und nicht wenig verworrenen Rede. Jemand hatte mal gefragt, flüchtig im Vorbeigehen die Stimme hörend, ob das der Papst sei. 1982 – war das nicht die Zeit als Papst Wojtyla noch eine kräftige Stimme hatte und auf dem nahen Petersplatz regelrecht schrie? In seiner Heimat Polen herrschte Kriegsrecht, der kalte Krieg steuerte auf eine neue Tiefstemperatur zu, und in den folgenden Jahren zitterten im Kreml kränkliche Greise kurz nacheinander durchs Rampenlicht. Domenicos Appell hat eine schneidende Dringlichkeit. Er brüllt, dass wir uns auf einen Abgrund zu bewegen. Auf der anderen Seite ist seine Rede ohne unmittelbar zugänglichen Zusammenhang wie ein hermetisches Gedicht. Sie scheint einen Knoten aus Fäden zu schürzen, die weit nicht nur in diesen, sondern auch Tarkowskijs andere Filme hineinreichen.

Eine große Zahl mehr oder minder Gleichgesinnter hat sich eingefunden, wobei nicht von allen klar ist, ob und wie weit sie als Irre qualifiziert sind. Die italienische Politik hatte damals beschlossen, psychiatrische Anstalten aufzulösen und die Patienten in die Gesellschaft zu integrieren60.

Von Anfang an war es für Italiener schwer, ihr bel paese in diesem Film wieder zu erkennen. Tarkowskij hat sich mehr an der düsteren Schattenwelt der pittura metafisica des Giorgio de Chirico orientiert als an Postkarten. Kein einziges Mal sehen wir auch nur ein paar Zentimeter blauen Himmel61. Sonnenlicht taucht nur sehr sporadisch als flüchtige Flecken auf. In de Chiricos Bildern sieht man auf düsteren Plätzen, die von starren, einsamen Gipsfiguren dominiert werden, zwei verlorene Gestalten einander verstohlen die Hand reichen. Bei Tarkowskij sind die nicht wenigen Statisten gleichmäßig auf die 124 Stufen der breiten Treppe von S. Maria in Aracoeli verteilt, auch auf eine andere an den Kapitolsplatz angrenzende Treppe, und alle sind starr und stumm. Nur dann und wann, hier und da steigt jemand die Stufen hinunter, was die Starre des Ganzen noch hervorhebt.

Der Regisseur hat sich für diese Szene ein sehr prägnantes Ambiente ausgesucht: er inszeniert ein Stelldichein der Titanen, denn kein Geringerer als Michelangelo hat diesen Platz konzipiert. Und auf der anderen Seite steht das deutsche Genie-Team Schiller und Beethoven. Der Kobold Tarkowskij turnt einigermaßen unerschrocken dazwischen herum. Es soll hier nicht unsere Sorge sein, wie er sich mit Michelangelo Buonarroti ins Benehmen setzt, sondern einzig und allein, wie er mit dem Musikstück, das immerhin der Europahymne zugrunde liegt, umging62.

Domenico hat seine Rede beendet und ruft: „Und nun die Musik!“ Etwas Bewegung kommt unter die Zuschauer, ein zotteliger Mann, vielleicht Mitte Dreißig, winkt einen Gehilfen herbei, der ihm eine geheimnisvolle silbrige Metallbox reicht, mit der er das Stangengerüst am Reiterdenkmal hinaufklettert. Im ersten Moment hatte ich das für eine Lautsprecherbox gehalten, weil von Musik die Rede war. Es ist ein Kanister voll Benzin, mit dem sich Domenico übergießt. Man wartet auf die Musik, etwas scheint nicht zu funktionieren. Oben auf einer der Treppen, in weiter Ferne, irrt jemand herum. Wir sehen Domenico von hinten, der sich von nichts aufhalten lässt: er versucht sein Feuerzeug zu zünden, einmal, zweimal, dreimal. Sein deutscher Schäferhund, an eine nahe Säule gebunden, beginnt ängstlich zu jaulen. Da springen plötzlich die Flammen an seinem schwarzen Mantel hoch und exakt gleichzeitig bricht schubweise, expressiv verzerrt, zerrissen und überlaut die Musik hervor, die filmische Darstellung einer Synästhesie, und nach kurzer, relativ stiller Pause setzt der ekstatische Chor ein63. Wir sehen Domenico in der Totalen von der Seite hinter dem Mark Aurel in Flammen stehen, einen Moment lang sind die Flammen wie Flügel: ein Monument für Pegasus. Dann taumelt Domenico „feuertrunken“ zu Boden, robbt sich vorwärts und als die Stelle kommt: „Alle Menschen werden Br…“ verstummt die Musik und wir hören den Schrei des sterbenden Domenico. Das vollmundige Pathos von: „Seid umschlungen, Millionen!“ etwas aufzurauen ist ein nachfühlbares Bedürfnis. (Hieße es: Seid verschlungen, Millionen, verstünde man immerhin, wovon die Rede ist…) Das hohe Ideal universaler Brüderlichkeit wurde von den Freimaurern, die Schiller zu dieser Ode drängten64, vom Christentum übernommen. Dass die Verwirklichung dieses Ideals einen hohen Preis hat, wurde von Christus durch Seinen Kreuzestod angedeutet und von den Deutschen vielleicht geahnt, aber jedenfalls verschwiegen. In neuerer Zeit hat den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Verzweiflungsschrei von Jesus Christus am Kreuz und dem Ideal der Einheit der Menschen Chiara Lubich entdeckt, hervorgehoben und zur Flammenflagge ihrer Bewegung gemacht65.

Tarkowskij deutet mit künstlerischer Intuition dieses Geheimnis an. Er hat aus der Not, nur ein relativ kurzes Zitat verwenden zu können, eine Tugend gemacht, indem er Beethovens Choral mit sehr viel Bedacht in Stücke haute.

Es gibt Gerüchte, dass der Regisseur zunächst gar nicht die Ode von Schiller und Beethovens im Visier hatte, sondern „irgendwas aus dem Tannhäuser“. Genaueres wird man darüber erst erfahren, wenn das Istituto Andrej Tarkovskij von Florenz die Vorbereitungskladden zu diesem Film veröffentlicht. Nicht alles war Planung bei Tarkowskij, beispielsweise hat Pucherrima Rosa nicht er, sondern Artemjew ausgegraben. Dass er es akzeptiert hat, ist sehr bezeichnend und alles andere als selbstverständlich.

Nach Abschluss der Arbeiten für Nostalghia kam die Entscheidung im Westen zu bleiben und zusammen mit seiner Frau eine Zeit unsteter Wanderschaft zwischen verschiedenen europäischen Ländern. Mehrere Male haben sie sich auch in Berlin aufgehalten (Frühjahr 1984 und Frühjahr 1985), aber die Stadt hatte eine niederschmetternde Wirkung auf ihn. Die Aussagen in Ebbo Demants Dokumentarfilm geben davon Zeugnis: „… so als sei der Krieg und all das Furchtbare, das dazu gehörte, noch nicht zu Ende.“ An gleicher Stelle gab seine Frau in einem Interview zu Protokoll: „Die Armseligkeit der Nation“ zu damaliger Zeit sei noch lebendig in dieser Stadt, er könne es gewissermaßen „mit seiner Haut“ fühlen66. Im gleichen Interview sagte seine Frau sehr ehrlich, dass für ihn die Mauer auch deshalb so schrecklich war, weil sie ihre eigene Beziehungsunfähigkeit als Paar widerspiegelte. Die Mauer taucht mit einem Bild von wenigen Sekunden in einer düsteren Schreckensvision von Opfer auf. Ein Windstoß schlägt bei einem flachen bäuerlichen Gebäude die klapprigen Läden einer kleinen Tür oder eines großen Fensters auf: die Öffnung dahinter ist zugemauert – ein Bild für Beziehungsunfähigkeit. Solche Fenster hatte Tarkowskij in Berlin an der Mauer reihenweise sehen können.

Immerhin hatte er in den Mommsenstraße ein denkwürdiges Zusammentreffen mit Alexander Kluge, mit dem er einen Film über den Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, genauer: über dessen phantastische Spekulationen zur Akasha-Chronik machen wollte. Kluge berichtet darüber amüsant67. Während Kluge ein eher bescheidenes Dokumentarprojekt im Auge hatte, träumte Tarkowskij von Dreharbeiten im Hindukusch. Kluge deutet vorsichtig an, dass eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ schwierig zu werden versprach… Durch Mittelsmänner gingen Kommunikationen noch eine Weile hin und her, aber nach Tarkowskijs Erkrankung gab es für ihn dringlichere Vorhaben.

Da wir Kluge erwähnt haben, stellt sich die Frage, wie Tarkowskij zum deutschen Film stand. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte mit Ausnahme einer Bemerkung zu Rainer Werner Fassbinder. In einem italienischen Interview nach den Filmfestspielen von Venedig 1982, bei der er zur Jury gehörte, kommentierte er Fassbinders Querelle (1982) entgeistert, räumte aber ein, dass Fassbinders frühere Filme sehr viel besser gewesen seien68.

Außerdem hat Tarkowskij in Berlin ein lang gehegtes Projekt die Hoffmanniana über E.T.A. Hoffmann zumindest als Text einer Veröffentlichung zugänglich gemacht69. Des „Gespensterhoffmanns“ (Goethe) Abneigung gegen den „gesunden Menschenverstand“ teilte Tarkowskij ganz sicher, auch die nach allen Seiten ausbrechende Phantasie. Im 19. Jahrhundert hatte die Literatur E.T.A. Hoffmanns ein starkes Echo in Russland70. Eine in Deutschland lebende und deutsch dichtende iranische Lyrikerin, Sara Ehsan, hat eine viel beachtete Arbeit über dieses Szenario geschrieben, dennoch will ich ungelegte Eier nicht zum Gegenstand meiner Untersuchungen machen71.

Besuche in der Nationalgalerie halfen Berlin erträglicher zu machen: laut Dokumentarfilm72 war Tarkowskij emotional sehr angesprochen von den Landschaften Caspar David Friedrichs.

Bei dem Greifswalder Künstler verband sich wohl „Weltschmerz“ mit einer westslawischen Unterströmung. Man tut allerdings gut daran, die Aussage des Moskauer Malerfreundes Tarkowskijs, Mikhail Romadin, der als Art Director bei Solaris mitgearbeitet hatte, in Erinnerung zu behalten, dass Tarkowskij insgesamt mehr die „klassische“ als die „romantische“ Kunst liebte73.

Vielleicht sollte man noch auf die Tatsache verweisen, dass Tarkowskij im Schlussbild von Nostalghia eine Komposition geschaffen hat, die einem Gemälde Caspar David Friedrichs frappant ähnlich ist: der Klosterruine von Eldena (1825). Eldena liegt nahe Friedrichs Geburtsort. Eine besondere Pointe ist, dass sowohl Eldena als auch San Galgano in der Provinz Siena, die von Tarkowskij gefilmte Ruine, im Mittelalter Zisterzienserklöster waren!

In Tarkowskijs Schlussbild lagert, seitlich auf den gestreckten Arm gestützt, der gestorbene Andrej Gortschakow mit seinem gleichfalls friedlich hingestreckten Schäferhund vor einer größeren Pfütze. Hinter ihm zwischen Obstbäumen die heimatliche Izba. Die langsam zurückweichende Kamera macht langsam auch die Gemäuer der umrahmenden Klosterruine San Galgano sichtbar. Zunächst war das Licht, das durch die leeren Laibungen der rückwärtigen, in Dreierordnungen gesetzten Spitzbogenfenster bricht, als Spiegelung in der Pfütze zu sehen. Ein federleichter Schneeschauer setzt ein, man hört fistelnde Stimmen wohl von Klageweibern, dann eine einsame Frauenstimme mit dem russischen Lied Kumushki, das von dem Brauch von Mädchen in Südrussland (Ukraine) handelt, Blumenkränze über die Donau (!) gleiten zu lassen, die den Geliebten erreichen sollten74. Es ist sicher kein Zufall, dass Tarkowskij ein Lied wählte, das die Donau besingt, die Ost- mit Mitteleuropa verbindet. Wasserläufe boten ihm immer wieder Anlass zu gefühlvollen Meditationen75.

Auch Friedrichs Gemälde zeigt ein kleines Haus in der zugewachsenen Klosterruine. Es ist ein Backhaus mit leicht rauchendem Kamin. Vor dem Haus steht ein Bäcker. „Das kleine Haus unter Bäumen am See./Vom Dach steigt Rauch./ Fehlte der Rauch/ Wie trostlos dann wären / Haus, Bäume und See.“ fand Brecht in einem seiner bekanntesten Gedichte. Bei Friedrich gibt es keinen See, aber bei Tarkowskij immerhin eine große Pfütze. Im Ernst, ich halte es nicht für zwingend, dass Tarkowskij das Gemälde des deutschen Romantikers als Vorlage für seine Komposition kannte. Dieses Schlussbild Tarkowskijs ist so wenig Zutat, ist so folgerichtig, poetisch folgerichtig aus dem ganzen Film entwickelt, dass ich eine völlig selbstständige Entwicklung dieser Idee durchaus für wahrscheinlich halte.

Die reiche (aber dürre, leblose) Formenwelt des Westens zusammengefügt mit dem „kleinen Haus unter Bäumen“ in Russland, das ist so etwas wie „die beiden Lungenflügel“ Europas, ein Bild mit dem der russische Gelehrte und Lyriker Wjatscheslaw Iwanow seine Situation beschrieb und das Papst Wojtyla gerne aufgegriffen hat76. Freilich ist Tarkowskij in der Gegenüberstellung von „innen“ und „außen“, Kultivierung der Innen- und der Außenwelt, spezifischer.

Sollte Tarkowskij dem Gemälde Friedrichs in Berlin begegnet sein, wird es ihn verblüfft und erfreut haben.

Das Opfer (1986)

In seinem letzten, in Schweden realisierten Film hat Tarkowskij sich unter anderem mit Friedrich Nietzsches Lehre von der „ewigen Wiederkehr“ auseinandergesetzt. Der Postillon Otto überbringt Alexander, der Geburtstag hat, ein Glückwunschtelegramm. Alexander, ein Intellektueller und ehemals bekannter Schauspieler, begleitet von seinem kleinen Sohn, unterhält sich mit Otto, der ihn auf seinem Fahrrad umkreist. Mit der Direktheit einfacher oder sonderbarer Leute rät Otto dem Intellektuellen, er solle nicht immerzu so düster sein, nicht auf irgendetwas warten: „Du sollst dich nicht sehnen nach irgendwas. Du sollst nichts erwarten, das ist das Wichtige. Man soll nichts erwarten.“ Alexander: „Was heißt ‚nichts erwarten’? Wer sagt denn, dass ich etwas erwarte?“ Otto: „Wir warten doch alle auf irgendwas. Nimm mich zum Beispiel. Mein ganzes Leben lang habe ich auf etwas gewartet. Mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, als würde ich auf einem Bahnsteig stehen. Und immer kam es mir so vor, als ob das, was gewesen ist, kein richtiges Leben gewesen ist, sondern ein – ein Warten aufs Leben, ein Warten auf etwas Wirkliches. Etwas Wichtiges. Geht’s dir nicht so?“ Alexander: „Doch. Wenn du’s so meinst, ja. …“

Dann kommt Otto auf Zarathustras Zwerg und die ewige Wiederkehr zu sprechen. Er

erklärt sich: „Hier leben wir, hier haben wir unsere Sorgen. Wir hoffen. Wir warten auf etwas. Wir hoffen, wir verlieren die Hoffnung, nähern uns dem Tode. Ja, und dann sterben wir schließlich. Dann werden wir wiedergeboren, aber wir wissen nicht, was gewesen ist. Ja, und dann fängt’s wieder an, alles von vorn! Nicht buchstäblich auf dieselbe Weise, ein klein, klein wenig anders… Aber doch so hoffnungslos. Und wir wissen nicht, warum. Ja. – Nein, übrigens doch präzise auf dieselbe Weise, buchstäblich genauso. Wie die nächste Vorstellung sozusagen. Ein bisschen komisch, was? Findest du nicht?“ Hier spielt Tarkowskij auf die Erfahrung des Films an, bei dem – im Unterschied zum Theater – eine Vorstellung der nächsten haargenau gleicht. Alexander, der sich über die philosophischen Neigungen des etwas verschrobenen Postboten wundert, nimmt dessen Ansichten nicht für voll. Er sieht darin den Versuch „ein Modell der absoluten Wahrheit“ zu konstruieren, also letztendlich den Versuch des Menschen, sich zu Gott zu machen. Otto hingegen verweist auf den „Glauben“: „Der Glaube, dass es euch gegeben ist und dass es euch so geschehen wird.“ Das lehnt sich vage an Worte über die Kraft des Glaubens aus dem Evangelium an (Mk 11,24, Mt 21,22). Hier sind die Aussagen Ottos etwas schillernd. Einerseits will er dazu bewegen, ja zu sagen zu einer Situation der Hoffnungslosigkeit und das ist vielleicht durchaus im Sinne Nietzsches. Andererseits taucht mit dem Glauben die Möglichkeit einer religiösen Bejahung des Schicksals auf. In der ersten Fassung dieser Geschichte77 sagt Alexander: „Sie sind mir ein schöner Swidrigailow…“ eine bewusst diffuse Anspielung auf einen abstoßenden Charakter in Dostojewskijs Schuld und Sühne. Gino Moliterno hat darauf hingewiesen, dass es bei Dostojewskij an anderer Stelle eine Ausführung zum Gedanken der ewigen Wiederkehr gibt. Es ist der Teufel höchstpersönlich, der spricht78 und zwar zu Iwan in Die Brüder Karamasow, im 4. Teil, Kap.12. „Du denkst immer nur an unsere jetzige Erde! Aber die heutige Erde hat sich ja vielleicht selbst schon billionenmal erneuert. Sie wurde altersschwach, vereiste, barst, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elementarbestandteile, dann war sie wieder Wasser über der Feste, dann ein Komet, dann eine Sonne, und zuletzt wurde sie aus der Sonne wieder eine Erde – diese Entwicklung hat sich ja möglicherweise schon unzählige Male wiederholt, und immer auf dieselbe Art und Weise, bis aufs I-Tüpfelchen. Eine geradezu unanständig langweilige Geschichte …“79 Moliterno wundert sich darüber, dass Tarkowskij auf Swidrigailow verweist statt auf die Brüder Karamasow, obwohl der weniger intellektuelle Swidrigailow nie von der ewigen Wiederkehr gesprochen hat. Nun, aus irgendwelchen Gründen mochte es Tarkowskij in diesem Fall nicht so direkt. Schließlich hat er ja sogar jeden Hinweis auf Dostojewskij ausgemerzt. Swidrigailow hat übrigens immerhin ein berückendes Bild von der Ewigkeit entworfen: „Uns erscheint die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen kann, als etwas furchtbar Großes! Aber warum muss sie unbedingt groß sein? Und denken Sie sich nur, wenn plötzlich statt alles dessen dort nur ein kleines Zimmer sein wird, so in der Art einer Badestube auf dem Lande, verräuchert, und in allen Ecken Spinnen, und das ist die ganze Ewigkeit. Wissen Sie, mir schwebt zuweilen so etwas vor.“ 80

Das Motiv des Kreises und des Umkreisens Alexanders durch Otto verweist auf den Bereich der Magie. „Jungchen“, Alexanders Sohn, unterläuft das auf seine Art. Er bindet Ottos Fahrrad unbemerkt mit seinem Lasso an einen Busch, was dem Rad einen Ruck gibt und den Postboten fast zu Fall bringt. Otto, der Spaß verstehen kann, macht in gespielter Wut einen Luftsprung. Dieser Ruck erinnert von Ferne an eine Szene aus dem Rubljow, bei der es zu einer Kollision von christlichem und heidnischem Weltbild gekommen war: das Christentum sieht die Geschichte linear als Heilsgeschichte, die auf einen Endpunkt der Entwicklung zuläuft, während das Heidentum einen solchen Zielpunkt nicht hat, sondern zyklisch denkt. Der Malermönch hatte sich bei einem heidnischen Fest beteiligt, das eine zirkuläre Weltsicht, den Zyklus der Jahreszeiten feierte. Beim Grauen des Morgens ist Andrej zu seinen Kameraden ans Flussufer zurückgekehrt. Er murmelt düster etwas vom Einerlei, den Wiederholungen im Leben dieser Menschen, was die Kommentierung eines Bildes kurz zuvor ist: eine trostlos starrende Alte in leicht vor und zurück schaukelnder Bewegung. Doch im gleichen Moment, in dem Andrej das sagt, tut es einen dumpfen Schlag: ein leicht rauchender kleiner Einbaum stößt gegen eines der Boote. Der Betrachter erkennt den Einbaum vom Vorabend wieder, der, mit einer Strohpuppe und einer brennenden Fackel versehen, von einem großen Spalier nackter Gestalten in den Fluss geleitet worden war. Es ging um das Ritual einer großen Überfahrt, einer leeren Transzendenz, von der nur erloschene Asche geblieben ist.

Als dann wenig später die junge Frau, die den Mönch in der Nacht zu verführen trachtete, sich vor den Häschern der Obrigkeit in den Fluss retten kann und ihn durchschwimmt, wird das demgegenüber zu einem Bild wirklicher Transzendenz, zu einem Bild der Taufe.

„Jungchen“ unterbricht also Ottos Kreisen auf dem Fahrrad mit seinem Streich. Etwas später, bei der Konversation während der Geburtstagsfeier im Haus, kommt Otto auf das ziellose Kreisen zurück, als er vom „Kakerlaken-Ritual“ spricht: „Hier kommt eine Kakerlake und läuft immerzu um den Teller herum und bildet sich ein, sie bewegt sich vorwärts, und das sehr zielstrebig.“

„Jungchen“ ist zum Schweigen verurteilt wegen einer kürzlich vorgenommenen Halsoperation, aber wir tun gut daran seine „Pantomime“ (die Alexanders pausenloses Reden begleitet) und die darin enthaltenen Anspielungen ernst zu nehmen. Denn die knüpfen an die Erwähnung Nietzsches an. Schon die Tatsache, dass der Junge sich eine zu große Strandmütze tief ins Gesicht gezogen hat, macht ihn geheimnisvoll und es liegt nahe, ihn mit dem erwähnten Zwerg aus Nietzsches Zarathustra in Verbindung zu bringen: der Geist der Schwere, den Alexander auf seinen Schultern trägt. Etwas später, als Alexander über die Verirrung der Menschheit spricht, über das Auseinanderklaffen von materiellem und spirituellem Fortschritt, tigert „Jungchen“ auf allen Vieren durch das hohe Gras. In einer Anwandlung von plötzlichem Mutwillen springt er den Vater hinterrücks an und holt sich dabei eine blutige Nase. Seine Mütze ist ihm vom Kopf gefallen und wir sehen zum ersten Mal, dass sein kurzes Haar blond ist. Ist hier nicht – in nur scheinbarer Harmlosigkeit – auf Nietzsches Verherrlichung der „blonden Bestie“ angespielt? Der Angriff auf den Vater Alexander würde zum Bild für die Auflehnung des Menschen gegen Gott, mit der der Mensch sich selbst verwundet.

Die Rebellion ist die kindliche Form einer Haltung, die beim Erwachsenen zur Gleichgültigkeit wird. Als Otto Alexander im Anbetracht der Floskeln auf einem Glückwunschtelegramm fragt: „’Gott gebe dir Glück’. Was hast du für ein Verhältnis zu Gott…eigentlich?“ antwortet der: „Ich fürchte, gar keins. Was meinst du damit?“

Später blättert Alexander im Geburtstagsgeschenk von Viktor, einem Bildband mit Ikonen, und murmelt: „Das ist wie ein Gebet. Und dann ist all das verloren gegangen. Jetzt können wir nicht mehr beten.“ Vage scheint er diesen Verlust als schmerzlich zu empfinden.

Düsenjäger fliegen dröhnend Unheil verkündend sehr tief über das Haus und lösen eine leichte Panik aus. Saubere Weingläser auf einem Tablett beben klirrend. Eine Glaskaraffe mit Milch zerschmettert auf dem Boden und die gesamte Leinwand ist mit auseinanderstiebenden Glasscherben und kaltem Weiß erfüllt.

Zu vorgerückter Stunde – und es ist durchaus möglich, dass das folgende nur geträumt ist – wird im Fernsehen eine stockende Mitteilung des Premierministers über eine hereingebrochene nukleare Katastrophe übertragen. Alexander zieht sich daraufhin in sein Obergemach zurück steht wie benommen vor der Reproduktion von Leonardos unvollendeter Anbetung der Könige (1483). Er ruft sich mit Mühe die Worte des Vaterunsers in Erinnerung und murmelt sie leise vor sich hin. Dann geht er in der Mitte des Raumes auf die Knie und ein verzweifeltes Gebet bricht aus ihm hervor. Es ist ein auch filmisch intensiver Moment: die dämmrige Ausleuchtung seines in „tierischem Schrecken“ verzerrten Gesichts in Großaufnahme. Er ist bereit alles zu opfern, was ihm lieb ist, „wenn alles wieder so wird wie zuvor, so wie heute Morgen, so wie gestern.“ Das ist die „Wiederkehr des Gleichen“, die Nietzsche vorschwebte aber als Abkehr von jeder Transzendenz, von Gott. Hier wird sie zum Gegenstand eines Gebets. Im Gebet gelingt die Bejahung des Lebens so wie es ist, nicht für sich selbst, denn Alexander will auf alles verzichten, sondern für die Anderen.

Der Film klingt auch mit einem Gebet aus, der Altarie „Erbarme Dich“ aus der Matthäus-Passion des Johann-Sebastian Bach. Wie angedeutet, war Tarkowskij der Musik dieses Komponisten verfallen, wie vielleicht E.T.A. Hoffmann der Musik Mozarts. In einem früheren Passus seines Buches nennt er Bach mit Leonardo und Tolstoj in einem Atemzug. Ihn fasziniert die Fähigkeit dieser durch Zeit und Art des Handwerks getrennten Künstler„ein Objekt von außen, von der Seite“ zu betrachten mit einem „überaus ruhigen Blick“81. Wahrscheinlich war es der Gegensatz zur eigenen extremen Subjektivität, der ihn anzog. Auch in einem seiner letzten Interviews (für den Figaro) hob er noch einmal die besondere Bedeutung dieser drei Figuren hervor, im Unterschied zu all den anderen, die ihn auch beeinflusst, beschäftigt und fasziniert haben: Puschkin, Dostojewskij, Shakespeare, Mann, Hesse, El Greco und wie sie alle heißen82. Seine Abneigung gegen bestimmte Aspekte der europäischen Musik schloss offenbar Bach nicht ein83.

Der sowjetische Filmmusiker Artemjew berichtete, dass Tarkowskij in jeder freien Minute die Musik Bachs hörte84. Wenige Monate vor seinem Tod hielt er sich etwa zehn Tage in der Anthroposophenklinik Öschelbronn auf. Zu Beginn des erwähnten deutschen Dokumentarfilms von Demant ist davon die Rede, dass er dort alte Musik hörte: immerzu „Bach, Bach, Bach“85. Das „heilignüchterne Wasser“86 dieser Musik scheint ihn bis zum Ende begleitet zu haben.

Vielleicht gibt es noch einen anderen Grund für das „Erbarme Dich“ Bachs an so prominenter Stelle.

Am 12. 8.1982 hat Tarkowskij, was selten vorkam, einen längeren Passus aus der Samizdat abgeschrieben, der in der deutschen Ausgabe der Tagebücher nicht enthalten ist:

„Nachdem jede Beziehung zur absoluten Quelle (kursiv in Tarkowskijs Text) der Menschenrechte verloren gegangen war und sie als etwas Implizites behauptet wurden, verfiel der rationalistische Humanismus in einen tragischen Widerspruch, dessen seine konsequentesten Nachfolger sich sehr bald bewusst wurden. Drei Männer: Marx, Nietzsche und Freud, jeder auf seine Weise, haben das erlaubt und keinen Stein auf dem anderen gelassen von dem blinden Glauben an die höchste Würde der Person. In ihnen hat die humanistische Revolte des Menschen gegen Gott ihre theoretische Vollendung gefunden. Der Totalitarismus in unserem Jahrhundert war nur die Anwendung der Theorie auf das Leben, der praktische Epilog des Humanismus“87. Drei Männer werden erwähnt, deren Muttersprache Deutsch war. So mochte es aus der Sicht Tarkowskijs als besonders sinnvoll erscheinen, dass die Bitte um Erbarmen in seinem Film auf Deutsch erklingt, obwohl das kirchenslawische Gospodi pomiluj der orthodoxen Liturgie kaum weniger ergreifend gewesen wäre.

Immer wieder mal erhob Tarkowskij die Forderung wahre Kunst müsse eine Katharsis, eine reinigende Wirkung entfalten88. Ob er dabei ein paar erschütterte Tränchen am Ende eines Kinobesuchs im Sinn hatte? Anderes und mehr etwas im Sinne eines anderen Slawen, des Polen Johannes Paul II, scheint er mir mit seiner Filmkunst zu ermöglichen: eine „Reinigung des Gedächtnisses“, zu der der Papst zur Jahrtausendwende eingeladen hat und die er mit seiner Kirche vorzuexerzieren versuchte mit den bekannten Bitten um Vergebung. Ob gerade wir Deutschen in dieser Hinsicht Nachhilfeunterricht brauchen? Schließlich ist immer wieder zu Recht hervorgehoben worden, wie anders in Deutschland nach dem Krieg mit Schuld umgegangen wurde als in Japan. Vielleicht hat das auch irgendwie mit dem christlichen Erbe zu tun. Und trotzdem bleibt leicht ein gefährlicher Rest, das Körnchen Wahrheit in dem ätzenden Witz: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.

Ich erinnere mich, wie mich im Film Tagebuch der Anne Frank (1959) die Überzeugung des holländischen Familienvaters getroffen hat, als immer deutlicher wurde, was die Nazis mit den Juden vorhatten: „Jetzt haben sie sich am Augapfel Gottes vergriffen!“ Vielleicht ist bei der Vergangenheitsbewältigung alles in allem Gott zu sehr aus dem Spiel geblieben. Geht das? Wie dem auch sei, ich empfehle allen Lesern, sich die wenigen Filme Tarkowskijs noch einmal anzuschauen, besonders seinen letzten.

1 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Übersetzung und Nachwort von Hans-Joachim Schlegel, Frankfurt-Berlin 1996, siehe besonders das Kapitel: Zum Verhältnis von Künstler und Publikum, S. 170- 181

2 Vida T. Johnson & Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Bloomington: Indiana University Press 1994, S. 18 “His sister remembers that the young Andrei was quiet only when reading.”

3 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 50

4 Johann Peter Eckermann , Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823 – 1832, Hg. Gustav Moldenhauer, Leipzig Reclam, o .J., 25. Januar 1830. Goethe macht sich gut gelaunt über den Dünkel vieler Leute lustig, die unvorbereitet philosophische oder wissenschaftliche Werke lesen und verstehen wollten als seien sie „ein Roman“. Dann kommt er allerdings zur zitierten epigrammatischen Zuspitzung. Unter der Hand wird bei Tarkowskij noch etwas ganz anderes daraus.

5 Tagebücher, 2.4.1972; aus praktischen Gründen werden die Tagebuchaufzeichnungen nur mit dem Datum angegeben. Im Allgemeinen beziehe ich mich auf die unvollständige deutsche Ausgabe, A. Tarkowskij, Martyrolog, Tagebücher 1970-1986. Frankfurt, Berlin 1989.

6 Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren (1916). In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen

Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hrsg. Von Jurij Striedter. 5. Auflage. München 1994

7 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 178

8 Das Glasperlenspiel begann Tarkowskij am 14. September 1970 zu lesen; er erwähnt das beiläufig am Ende eines langen Eintrags. Am 18. notiert er, er hab einem italienischen Regisseur, der eine Zusammenarbeit mit ihm wollte, empfohlen Thomas Manns Joseph-Tetralogie zu lesen (!).

9 Diesen Film wie auch die kurze Hemingway-Verfilmung The Killers kann man bei bei youTube finden

10 Der Slawist Robert Bird zitiert in diesem Zusammenhang ausführlich Pawel Florenskij, der in der Tatsache, dass es sich bei den apokalyptischen Reitern Dürers um ein Werk der Druckgraphik handelt, ein Indiz für seine Minderwertigkeit sieht. Allerdings fragt sich sehr, ob Tarkowskij zu diesem Zeitpunkt schon die Schriften Florenskijs kannte. Robert Bird, Andrei Tarkowsky: Elements of Cinema, University of Chicago-London 2008, S.95. Dürers Apokalypse hatte sehr bald überall in Europa Verbreitung gefunden, insofern ist Erwin Panofskys witziger Bemerkung zuzustimmen, die Apokalyptischen Reiter seien „inescapable“, unentrinnbar gewesen. Erwin Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, Ausgabe in einem Band, Princeton 1955, S. 59

11 Das ist eine inkorrekte Auskunft: es handelt sich um das Holzschnittporträt des Schweizer Erzkanzlers der kaiserlichen Reichsregierung Ulrich Varnbüler von 1522, eine herausragende Leistung Dürers. Vgl.: Ein kryptischer Text des Erasmus auf Dürers Varnbüler-Bildnis, http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7230/

12 “Da möchte sich ein trostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter, Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiß. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahrheit. Es gibt nicht Seinesgleichen.“ (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, zitiert nach Heinz Gockel, in Wagner – Nietzsche – Thomas Mann, Festschrift für Eckhard Heftrich, hrsg. von Heinz Gockel, Frankfurt a. M. 1993, S. 222

13 Erwin Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, a.a.O. S.153

14 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 114 f.

15 Olga Surkova. Tarkovsky and I, Moscow: Zebra E / Exmo / Decont +, 2002, S. 25. (О. Суркова. Тарковский и Я (Москва: Зебра Е / Эксмо / Деконт + , 2002, 25) Die russische Filmkritikerin berichtete in ihren Erinnerungen, dass dieses Bild: die Hand, die einen Apfel darreicht, ihrem Leben eine andere Richtung gegeben habe. Sie war 17 Jahre alt und offenbar ein sehr intelligenter Mensch: sie wollte Mathematik studieren. Nach diesem Film, nach diesem Bild wurde sie Kritikerin und hat lange Jahre mit Tarkowskij zusammengearbeitet, insbesondere bei der Erstellung des Buches Die versiegelte Zeit. Schon in der VGIK- Abschlussarbeit Die Straßenwalze und die Geige – Katok i skripka (1960) schenkt der kleine Musiker Sascha einem etwa gleichaltrigen Mädchen, wie er Musikschülerin im Konservatorium, einen Apfel; vgl.: Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Indiana University Press 1994, S. 66

16 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 35

17 Der deutsche Titel der programmatischen Schrift Die versiegelte Zeit bezieht sich auf die Apokalypse – in Anlehnung an Ingmar Bergmans Film: Das siebente Siegel.

18 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 117

19 http://www.kinematographie.de/HEFT39. Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963

20 http://www.kinematographie.de/HEFT39. Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963: „Der Zuschauer erblickt den Helden, der schon nicht mehr auf der Welt ist, und nimmt Bruchteile seines wirklichen und seines möglichen Schicksals in sich auf. Dieser letzte Traum – der Lauf über die Sandbank – wurde keineswegs deshalb gedreht, um das Finale des Films aufzuhellen (wie einige meinen); das wäre in einem Werk, in dem die Mehrzahl der Helden umkommt, falsch und geschmacklos (dass unsere Position als Filmschöpfer optimistisch ist, ist eine andere Sache.)“

21 Der Protagonist schießt mit der Maschinenpistole auf ein Bild Hitlers und es folgen darauf Bilder, die immer weiter zurückgehen zu den Anfängen des Naziwahnsinns. Am Ende sieht man ein Bild des Babys Hitler auf dem Schoß seiner Mutter. Hier hält der junge Partisan ein mit dem Schießen.

22 Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow. Die Novelle Berlin Frankfurt, Berlin 1991, S. 226 „ ‚Die Deutschen, die kennen keine Schwermut. Und wenn sie schwermütig sind, denken sie, sie wären krank’, sagte der Handwerker nachdenklich.“

23 Bei Wikipedia leider ohne Quellenangabe

24 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., auf S. 172 zitiert er Alexander Herzen: „Der Poet ist in seinen wahren Werken immer volkstümlich.“ u. S.178 „Die Formel ‚Das begreift das Volk nicht!’ hat mich schon immer ganz schrecklich empört.“ Im Kontrast dazu zitiert er auf S. 177 Puschkin: „Du bist der Zar. Leb einsam. Geh auf deinem freien Weg, wohin dein freier Geist dich treibt. Verwirkliche die Früchte deiner teuren Gedanken. Und fordere keine Belohnung für deine edle Tat. Sie liegt in dir selber. Du selbst bist dein höchstes Gericht: Strenger als alle andere vermagst du zu beurteilen dein eigenes Werk. Bist du mit ihm zufrieden, anspruchsvoller Künstler?“

25 Nostalghia.com, Topics, Tarkovsky and Japan, Kurosawa, Tarkovsky and Solaris

26 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O. S. 157 „Mit seinen wunderbaren blauen Kinderaugen entsprach Jarvet unseren Vorstellungen geradezu hervorragend.“

27 Die Klassifizierung „Herrenwitze“ ist vielleicht nicht ganz exakt, denn Herrenwitze sind mehrheitlich phallozentrisch.

28 In amerikanischen Filmen geht es sehr häufig um diese Naivität, das Böse mit Waffengewalt bekämpfen zu wollen. Im Fall Hitler-Deutschlands scheint es einmal ausnahmsweise funktioniert zu haben.

29 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O. S.114 f. Hier erläutert T. seine Sicht des Leonardo-Bildes. Robert Bird weist flüchtig auf Pavel Florenskijs Theologie der Ikone hin, die vielleicht einen Verständnisschlüssel bieten könnte; Robert Bird, Andrei Rublev, British Film Institute, London 2004, S. 79: die Ikone ist „a snapshot of the Apocalypse. It owes its truth not to the skill of the artist, but to the fullness of the reality it depicts, a reality which contains all of time, all of space, all of human endeavour and iniquity. It directs the viewer’s gaze towards eternity not as some distant future, but as the heart of today. “(Hervorhebung von mir.) Bird macht keine genauen Angaben dazu, wo er das bei Florenskij gefunden hat.

30 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O. Einleitung S.10-13

31 In diesem Sinne hat sich der Regisseur im Interview mit Charles H. de Brantes geäußert; John Gianvito, Andrei Tarkovsky Interviews, 2006, Mississippi University Press, Jackson Mississippi, S. 182

32 Wikipedia. In den Klammern Hinzufügungen von mir.

33 Als Tarkowskij in einem Interview das russische Gefühl der „Nostalghia“ erklären wollte, sprach er von einem Mitleiden mit den Mitmenschen, vgl.: S. 22 in: Enzo Natta, Andrej Tarkovskij –scolpire il tempo, S. 20 – 23, in Città Nuova, 10. Juli 1983.

34 Auch zu Beginn des Films stellt Tarkowskij eine Figur in den Mittelpunkt, die eigentlich nicht sympathisch ist: den aufdringlichen Arzt, der die Mutter in ein Gespräch zu verwickeln sucht. Übrigens wurde schon bei Tarkowskijs Abschlussarbeit von 1960 an der WGIK Die Straßenwalze und die Geige(Katok i skripka) moniert, dass der kleine Musikstudent nicht „sympathisch“ genug sei. Von Anfang an hat Tarkowskij Regeln des gesunden Menschenverstands für das populäre Medium des Films in den Wind geschlagen. Vgl. Artikel zu Katok i skripka in Nostalghia.com. Hier findet sich auch der vom WGIK festgehaltene Kommentar des Regisseurs: „I cannot use schematic language. I cannot take a positive hero through a positive external reality and make people fall in love with him instantly. I believe that it is not profound, not serious enough; art is not to be created in this way, it is not real. It is hackwork.“ Auch im Rubljow ist der junge Gehilfe Foma, dessen gewaltsamen Tod der Film eindringlich zeigt, eher eine Nervensäge, was im Widerspruch zu den Gepflogenheiten Hollywoods steht.

35 In Nostalghia.com, The Topics, Tarkovsky talks to Guerra, mainly on Stalker (1979)

36 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.53 f.

37 „Mehr oder minder handeln alle meine Filme davon, dass die Menschen nicht einsam und verlassen in einem leeren Weltbau hausen, dass sie vielmehr mit unzähligen Fäden der Vergangenheit und Zukunft verbunden sind…“ (A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.210)

38 Am 7. September 1970 legte Tarkowskij in seinem Tagebuch eine Liste möglicher Filme an. Der Film über Bormann stand an erster Stelle.

39 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 138 f.

40 Ebd. S. 139; es ist das Gedicht Leben, Leben!

41 Tarkowskijs Filme umgibt immer noch ein Halo genialischer Konfusion. Nicht nur wimmeln in Publikationen Bilder, „Stills“, die in den Filmen nicht vorkommen, auch existieren DVDs – ich nenne nicht das Unternehmen –, auf denen diese Musik schlicht nicht zu hören ist.

42 Tobias Pontara, Beethoven Overcome. Romantic and Existentialist Utopia in Andrei Tarkovsky’s Stalker, 19th – Century Music, Vol.34, No 3, (Spring 2011), S. 302-315, University of California Press

43 Maja Turowskaja u. Felicitas Allardt-Nostitz, Andrej Tarkowskij, Film als Poesie – Poesie als Film, Bonn 1981, S. 137

44 Castaneda wird in den Tagebüchern vier Mal erwähnt: 23. 12. 1978, 15. 4. 1979, 9. 6. 1980, 15. 4. 1982

45 Novalis selbst hat das übrigens klipp und klar gesagt: „Ich sehe dich in tausend Bildern,/ Maria, lieblich ausgedrückt./ Doch keins von allen kann dich schildern,/wie meine Seele dich erblickt.“ Eine bekannte evangelische Autorin und Theologin hat Maria eine Schrift gewidmet, die posthum veröffentlicht wurde. Dorothee Sölle: Maria. Eine Begegnung mit der Muttergottes, Freiburg u.a. 2005

46 Aus dem Prager Codex Speciálnik von 1510

47 Hugo von Hofmannsthal, Vorfrühling

48 Nostalghia.com, The Topics, Tributes and Homages

49 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 241

50 Maja Turowskaja, Tarkovsky. Cinema as Poetry, London 1989, S. 69: “Perhaps it is the openness, the un-Russian nakedness of his personal confession that is at fault. It is not at all in the tradition of our cinema.”

51 Nostalghia.com, The Topics, Remembering their Work with Tarkovsky, Layla Alexander Garrett, Andrey Tarkovsky –Enigma and Mystery

52 Nostalghia.com, The Topics, Featured Books, Tarkovsky vs. Tarkovsky by Olga Surkova, a preview;

Vgl. Hans-Joachim Schlegel, Der antiavantgardistische Avantgardist, München 1987, http://www.filmzentrale.com/essays/tarkowskijhjs.htm

53 Marius Schmatloch, Andrej Tarkowskijs Filme in philosophischer Betrachtung, Remscheid 2003

54 Nostalghia.com, The Topics, Tarkovsky speaks about his own movies, I am interested in the problem of inner freedom…, Stockholm interview, Jerzy Illg & Leonard Neuger

55 In dem immer noch vollständig auf youTube einsehbaren Dokumentarfilm von Ebbo Demant, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Andrej Tarkowskijs Exil und Tod, 1987, Segment 1/14, 4’ (Mitte Juli 1986)

56 Schon 1857 löste die Begegnung mit englischen Touristen in Luzern harte Gefühle bei dem 29-jährigen aus, als er die entschiedene Konventionalität der Gäste von der Insel beobachtete: „Dabei sind alle diese Menschen doch bestimmt nicht dumm und nicht gefühllos, sicherlich geht in vielen dieser erstarrten Menschen das gleiche innere Leben vor sich wie in mir. Weshalb berauben sie sich also einer der größten Freuden des Lebens – des Genusses aneinander, des Genusses am Menschen?“( http://www.derbund.ch/kultur/buecher/Das-Schlimmste-an-der-Schweiz-sind-die-Englaender/story/31095681) Bekanntlich ging dieses Ressentiment bei Tolstoj so weit, dass er einen Kreuzzug gegen Shakespeare anzettelte. 1906 erschien sein Essay über Shakespeare auf Englisch in New York. Bei aller Verehrung für Tolstoj hat sich Tarkowskij dessen Abneigung gegen Shakespeare durchaus nicht zu Eigen gemacht.

57 Leo Tolstoj, Der Tod des Iwan Iljitsch. Eine Erzählung, übersetzt von Rudolf Kassner, Frankfurt, Leipzig 2002. Schwarz wird von Tolstoj schon mit dem ersten Satz, in dem er ich erwähnt, abserviert: „Schwarzens Gesicht mit dem englischen Backenbart, seine hagere Gestalt im Frack hatten wie immer eine gewisse elegante Feierlichkeit, und diese Feierlichkeit, die stets im Widerspruch zu seiner guten Laune stand, hatte gerade hier ihren besonderen Reiz. So dachte Peter Iwanowitsch. ” (S.13 f.). Schwarz sieht beim Todesfall des Kollegen Iwan Iljitsch die abendliche Whistpartie in Gefahr und kennt keine größere Sorge. (S.16-19)

58 (Edward Artemiev: Interview TATYANA EGOROVA: “EDWARD ARTEMIEV: HE HAS BEEN AND WILL ALWAYS REMAIN A CREATOR…” http://www.electroshock.ru/eng/edward/interview/egorova/

59 Ebbo Demant, a.a.O., Ende Segment 7/14, Anfang Segment 8/14

60 Am 6. April 1982 in Rom, wahrscheinliche bei Arbeiten für Nostalghia, notierte Tarkowskij in seinem Tagebuch eine von Viktor Šklovskij überlieferte Aussage Tolstojs: „Große Kunst ist oft von ganz aktuellem Wert. Sophokles wurde dafür mit einer Strafe belegt, weil er Tausende von Zuschauern dadurch zum Weinen brachte, dass er ihnen die Lage ihre Landes vor Augen führte.“

61 Nach Solaris hat Tarkowskij konsequent Wolkenbilder vermieden, so auch hier, auch wenn er sich in einem ersten Interview lange vor Beginn der Dreharbeiten an Nostalghia von den atmosphärischen Veränderungen am italienischen Himmel sehr beeindruckt zeigte. Nostalghia.com. The Topics, Gian Luigi Rondi, A Talk with Tarkovsky (1980)

62 Roberto Calabretto hat Aufsätze über die Musik bei verschiedenen Regisseuren geschrieben. Der Aufsatz über Tarkowskij scheint mir eine eher lustlose Pflichtübung aus Höflichkeit zu sein. Zu der Behandlung Beethovens in dieser Szene ist Calabretto nichts Bemerkenswertes eingefallen. Roberto Calabretto, La musica nel cinema di Andrej Tarkovskij, S. 13-33, in L’aurora immortale. Le arti e il cinema, Hg. N. Novello, Bologna, 2004

63 Am Ende des ersten Teils des 4. Satzes, nachdem das Allegro assai alla marcia längst verklungen ist folgen einzelne Akkorde, die Tarkowskij in der Lautstärke überhöht und zerreißt.

64 Erwin Mayer: Friedrich Schiller und die Freimaurerei und seine Hymne „an die Freude“ nach Materialien aus dem Literatur-Archiv Marbach; in: Quator Coronati, Jahrbuch 36 (1999); Freimaurerische Forschungsgesellschaft e. V. Bayreuth

65 Chiara Lubich, Jesus der Verlassene und die Einheit, 2. Auflage,1992 München

66 Ebbo Demant, a.a.O, 9/14 48’’

67 Alexander Kluge, Die Brunnen der Götter. Akasha-Filmprojekt mit Andrej Tarkowskij, Chronik der Gefühle, Band I: Basisgeschichten, S. 472-478 Frankfurt a. M. 2000

68 „I’ve just come back from Venice, where I was on the festival jury, and I can testify to the complete decadence of current cinema. Venice was a piteous spectacle. To understand and accept a film like Fassbinder’s Querelle requires, I believe, a totally different type of spirituality.” Nostalghia.com, The Topics, Tarkovsky in Italy

69 Andrej Tarkowskij HOFFMANNIANA Szenario für einen nicht realisierten Film über Leben und Werk E.T.A. Hoffmanns 1976, München 1987

70 Aurélie Hädrich, Die Anthropologie E.T.A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung insbesondere für Frankreich, Russland und den englischsprachigen Raum, mit einem Ausblick auf das 20.Jahrhundert, Frankfurt 2001

71 Sara Ehsan, Intertextuelle Bezüge zum Werk E.T.A. Hoffmanns in Andrej Tarkowskijs Filmszenario „Hoffmanniana“, München 2008

72 Ebbo Demant, a.a.O., 9/14 2’25’’

73 Nostalghia.com, The Topics, Articles, M. Romadin, On Film and Painting

74 Bei youTube findet sich das Lied wie auch eine englische Übersetzung des Texts

75 „Es sind die Gewässer, die die Verbindungen halten durch die Zeitalter.“ paraphrasiert A.Kluge Tarkowskij in Die Brunnen der Götter, a.a.O., S. 477

76 Mit charakteristischer Gelehrtennaivität hat Karol Wojtyla oft nicht sehr deutlich hervorgehoben, dass dieses Bild nicht von ihm stammte, weil er das selbstverständlich als bekannt voraussetzte. Sein Nachfolger Papst Benedikt XVI. hat diese Information gewissermaßen als Fußnote bei seiner Ansprache aus Anlass der „TAGE RUSSISCHER KULTUR UND SPIRITUALITÄT IM VATIKAN“ am 10. April 2010 nachgereicht. http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2010/may/documents/hf_ben-xvi_spe_20100520_concerto-kirill_ge.html Das etwas Peinliche an der Aussage ist, dass Iwanow sie machte, als er schon zum katholischen Glauben konvertiert war: „Jetzt erst bin ich wirklich orthodox, früher atmete ich sozusagen nur mit einer Lunge.“

77 Andrej Tarkowskij, Opfer- Die Erzählung, S. 9-46 in: Andrej Tarkowskij OPFER Filmbuch, München 1987, S. 14

78 Gino Moliterno, Zarathustra’s gift in Tarkovsky’s The sacrifice, in: Screening the Past, an international refereed electronic journal of screen history, La Trobe University, Australia, Issue 12, March 2001, Fußnote 19

80 Fjodor Michail Dostojewskij, Schuld und Sühne, 2. Band, Vierter Teil, Kap. 21 bei Projekt Gutenberg http://gutenberg.spiegel.de/buch/2100/21

81 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O. S. 114

82 V. Loupan Tarkovski parle, interview, Le Figaro Magazine 25 Oct. 1986

83 Hermann Hesse, auf den Tarkowskij sich in Stalker bezog, hat auf sehr viel maßvollere Weise ähnliche Unterschiede gemacht: „Ich empfinde Beethoven absolut nicht zu Bach und Mozart gehörig, sondern als Beginn eines Niedergangs, einen grandiosen, heldischen, herrlichen Beginn, aber doch als etwas mit halb negativen Vorzeichen.“ (Brief an Ludwig Finckh, 1932) Leo Dorner, Hermann Hesse und die Musik, 1977, S. 8,

http://www.leo-dorner.net (Aufsatz) Hermann Hesse und die Musik.pdf

84Tatyana Egorova, Interview mit Edward Artemiev: “Whenever I came to his place there certainly Bach’s music was always heard. Without it Andrei just could not live. He knew by heart many of the works, collected records trying to acquire immediately all that was published in this country. His friends quite often brought records from abroad. I do not think I will violate the truth saying that Bach’s music accompanied him almost daily.” http://www.electroshock.ru/eng/edward/interview/egorova/index.html

85 Ebbo Demant, a.a.O., 1/14, 4’

86 Friedrich Hölderlin, Hälfte des Lebens

87 V.M. Borisov, Die nationale Wiedergeburt und die Nation-Persönlichkeit, Samizdat. Von mir aus der italienischen Version der Tagebücher übersetzt, A. Tarkovskij, Martirologio, Diari, Florenz 2002, S. 522

88 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 53, 197

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