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Andrej Tarkowskij und die Kunst der Ikonen

Es ist schon vielfach darauf hingewiesen worden, dass in den Filmen des 1986 im Alter von 54 Jahren verstorbenen russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij eine Auffassung des Bildes lebendig ist, die an die Ikonen denken lässt.1 Das hier angestrebte Unterfangen ist vergleichsweise bescheiden: es sollen direkte und indirekte Beziehungen Tarkowskijs zur Kunst der Ikonen aufgewiesen werden, ohne wie Söderbergh Widding und Nardin der schwierigen Frage nach der Bildauffassung Tarkowskijs in Beziehung zur Ikone nachzugehen.

Iwans Kindheit (1962)

Der Film erzählt die Geschichte eines russischen Jungen, der im Krieg zwischen der Roten Armee und der deutschen Wehrmacht als Spion hinter den feindlichen Linien operiert. Die beiden feindlichen Armeen liegen sich an den Ufern eines Flusses gegenüber. Im Film kommt es zu heftigem Artilleriebeschuss durch die Deutschen und unter dem Einschlag der Granaten werden plötzlich – wie Anrufungen – Symbole des in Schutt und Asche liegenden christlichen Glaubens sichtbar: ein metallenes Kreuz, wohl von einem Friedhof, und am Gemäuer einer zerstörten kleinen Kirche die Fresko-Ikone einer Maria mit dem Kind. Sowohl das Kreuz als auch das Bild erscheinen zweimal: erst blitzartig während des Artillerieangriffs und dann wenig später etwas länger. Das schief stehende Kreuz wird von der hoch geschleuderten Erde verhüllt und verdunkelt. Als es wieder ins Bild kommt, scheint die Morgensonne durch den zentralen Kreis des schmiedeeisernen Kreuzes. (Ansonsten scheint die Sonne nur in den gelegentlich eingeblendeten, von Licht durchfluteten Träumen und Erinnerungen Iwans.) Die Ikone wabert zuerst unter der Hitzeeinwirkung des Feuers. Beim zweiten Mal sehen wir sie nächtens im Schein eines links wild flackernden Türpfostens: mit tief verschatteten Augen und schwermütigem Blick. Dazwischen zündet Hauptmann Cholin sich eine Zigarette an – obwohl Iwan ihn inständig vor dem Rauchen gewarnt hat – und würdigt das Bild keines Blicks. (Schon in seinem ersten, wie auch in seinen beiden letzten Filmen warnte der an Lungenkrebs gestorbene starke Raucher Tarkowskij vor dem Nikotin.)

In einem bald nach dem Film in der Sowjetunion entstandenen Interview, meinte der Regisseur bedauernd, der Gegensatz Kirche-Krieg sei schon zu abgedroschen2. Man weiß nicht, ob man das als bare Münze nehmen soll, oder ob Tarkowskij, für den immer eine paradoxe Mischung aus rückhaltloser Ehrlichkeit und listenreicher Geheimnistuerei charakteristisch war, den Argwohn der Hüter der reinen Lehre zerstreuen wollte.

Andrej Rubljow (1966)

Als nächstes wurde Tarkowskij die ehrenvolle Aufgabe zuteil einen Film über den berühmtesten Ikonenmaler des alten Russland, Andrej Rubljow, zu schaffen. (Das Drehbuch hat er zusammen mit dem bald in die USA emigrierten Regisseur Andron Michalkow-Kontschalowskij geschrieben.) Auch dieser Film ist wie Iwans Kindheit noch vollständig in Schwarzweiß gedreht bis auf das letzte Segment, das die Ikonen Rubljows vorstellt und die wunderbaren Farben dieser Malerei zeigt. In dem dreistündigen Film zuvor ist kaum je eine Ikone zu sehen. Es gibt einige wenige Ausnahmen. Der jüngere Bruder des Großfürsten von Wladimir hat aufgrund einer nie verwundenen Demütigung durch seinen älteren Bruder die Stadt an die Mongolen verraten. Der Anführer der Mongolen schaut sich hoch zu Ross in der Hauptkirche Wladimirs um, in der sich zuvor das Volk eingeschlossen hatte, das dann von Mongolen und den russischen Schergen des Verräters routiniert niedergemacht worden war. Er sieht an der Wand eine Darstellung der Geburt Christi und fragt den Bruder des Großfürsten, wer diese Frau sei. „Das ist die Jungfrau Maria.“ „Und wer ist das Kind in dem Kasten?“ „Das ist ihr Sohn.“ Also doch keine Jungfrau.“ grinst der Mongole breit und meint dann nachdenklich: „Aber bei euch in Russland gibt es ja noch ganz andere Sachen – erstaunlich.“ Der Gesprächszusammenhang suggeriert, er denkt dabei daran, dass ein Russe aus Bruderhass eine ganze Stadt der Vernichtung preisgibt. Kurz zuvor hatte er den Russen ebenso einfühlsam wie höhnisch gefragt: „Na, tut es dir nicht leid um die Kathedrale?“

Der Film scheint eine Beziehung zu behaupten zwischen fehlender christlicher Praxis (Wo ist die berühmte christliche „Bruderliebe“?) und der dürftigen Glaubwürdigkeit der Lehre. – Hatte nicht der Stifter der christlichen Religion gebetet: „Alle sollen eins sein. Wie du Vater in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“(Joh 17,21)? Dem zufolge gilt: Solange die Christen uneins sind, müssen sie sich nicht wundern, wenn die Welt ihnen nicht glaubt.

Wenig später wird in der Kathedrale einem gefesselten Kirchendiener der Bart abgesengt, weil er das Versteck des Kirchenschatzes verraten soll. Als er in seiner Qual Gottes Hilfe anruft, kommt ruhig, lakonisch, ohne Emphase eine bekannte Ikone ins Bild: ein großer, thronender „Pantokrator“(Allherrscher). Hier wird beiläufig das Schweigen Gottes, seine scheinbare Ohnmacht konstatiert. (Man darf nicht vergessen, dass der Regisseur den staatstragenden Atheismus hofieren musste.) Dazu passt, dass der Regisseur die Eroberung Wladimirs mit einem epischen Gleichmut zeigt, der mich unerhört fasziniert, weil er so wohltuend unamerikanisch ist3. Wer konnte hat sich, wie gesagt, in der Kathedrale verbarrikadiert. Das Volk hat seine ergreifenden, inbrünstigen Gesänge angestimmt. Derweil hantieren die Mongolen draußen vor dem Portal der Kirche gut gelaunt und routiniert mit einem gewaltigen Rammbock: „Hauruck! Hauruck!“ Ihr Anführer hoch zu Ross, der sein Pferd mit einem liturgischen Gewand geschmückt hat, wartet beinahe gelangweilt ab; im Gegenschnitt sehen wir in der überfüllten Kathedrale Männer wie Frauen hilflos stammeln und flehentlich emporblicken: „Gospodi, Gospodi!“ (Die Nahaufnahme einer alten Frau mit wunderbar sanften und dunklen Augen haftet im Gedächtnis: fast wie Nelly Sachs, nur furchtsam und erschrocken.) Dann ist es endlich so weit: das Tor gibt nach, das Schicksal nimmt seinen Lauf, und weit und breit ist kein „happy ending“ in Sicht.

Später werden wir in der gleichen Kirche Zeugen eines Gesprächs zwischen Andrej Rubljow und dem älteren Meister Feofan Grek, Theophanes dem Griechen. Schon die vorherige Begegnung der beiden Maler in einem Wald war etwas mysteriös, der große griechische Ikonenmaler war wie aus dem Nichts plötzlich aufgetaucht. Hier in der Kirche ist es eindeutig der Geist des älteren Malers, der dem Rubljow erscheint4. Er blättert in einem an den Rändern verbrannten liturgischen Buch, vielleicht der Bibel. Das kann man auch als Bild für die missliche Lage lesen, in der sich Tarkowskij &Co befanden, als sie begannen für diesen Film nach Spuren von Russlands christlicher Vergangenheit zu suchen und versuchten aus den Überresten schlau zu werden, nach allem, was dem im früheren 20.Jahrhundert in diesem Land an Morden und Brennen vorausgegangen war.

Die nachfolgende Unterredung der beiden Künstler ist inhaltsreich und steckt voller interessanter Bezüge. Aber nolens volens muss man hier das Feld wohl den Slawisten überlassen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Dialogen in diesem Film hat meines Wissens noch nicht einmal begonnen.

Der offenbar blutbespritzte Jüngere schleudert dem weisen Greisen aus dem Jenseits seine ganze Verzweiflung hin. Er sieht keinen Sinn mehr im Leben, schon gar nicht im Malen. Er hat den Glauben an die Menschheit verloren, insbesondere an die russische. Feofan Grek hingegen kann sogar darüber lachen, als er erzählt, wie viele von seinen Werken überall in Russland verbrannt worden sind. Die asymmetrische, unvollständige Kommunikation der beiden Männer findet eine bildhafte Entsprechung: auf einem Türflügel der Ikonostase sieht man den Engel der Verkündigung, wie er auf Maria einredet. Der andere Flügel, die Seite Marias, des sichtbaren, irdischen Geschöpfes, ist verkohlt. So wie eben in dieser Kirche fast alles Leben hingemetzelt wurde. Rubljow hat bei diesem Gemetzel, um die schwachsinnige Durochka vor einer Vergewaltigung zu bewahren, einen Landsmann mit der Axt erschlagen. Zur Buße will er fortan schweigen und nicht mehr malen. Der Grieche zitiert darauf eine wunderbare Stelle aus Jesaja: „Kommt her, wir wollen rechten, spricht der Herr. Wären eure Sünden rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee!“ (Jes 1,18) Beim Anblick einer der wenigen anderen Ikonen in der Kirche, die nicht bis zur Unkenntlichkeit verkohlt sind, ruft er begeistert aus: „Und doch gibt es Dinge, die einfach schön sind!“ Ein solcher Ausbruch des Entzückens macht fast betroffen bei einem Mann, den wir bisher als eher reizbar und überaus herb erlebt haben. Es ist eine Ikone des Typs Mariä Schutz und Fürbitte (Pokrov).5 In seiner Freude hat er die Arme genauso erhoben wie Maria. Sie hält in den im Orantengestus leicht angehobenen Armen ein Tuch vor sich ausgebreitet. Pokrov heißt Schleier oder eben auch Schutz. Meistens ist dieses Tuch rot, hier ist es weiß. Dann schweben einige einsam pilgernde Schneeflocken vorbei: das Dach der Kathedrale ist verbrannt und eingestürzt. Andrej blickt auf und murmelt: „Es gibt nichts Furchtbareres, als wenn es schneit in einer Kirche.“ Konfrontiert mit dieser Situation nicht in einem wohltemperierten Wohnzimmer oder Kinosaal, sondern in der harten Wirklichkeit des russischen Winteranbruchs, wird man diese Aussage nur zu begreiflich finden. Wenn sogar das Gotteshaus, die letzte Zuflucht, zerstört und niedergebrannt ist, wie wird es dann erst um die anderen Häuser stehen? Dennoch meine ich, dass wir diese Aussage „dialektisch“6 verstehen sollten. Sie soll auch Widerspruch wecken. Inmitten all dieser Schrecknisse – der Boden der Kirche ist mit Leichen übersät – haben die federleichten Schneeflocken etwas Poetisches. Die beiden Männer blicken zum offenen Dach hinauf. In der Kirche in Konstantinopel, die am Ursprung des Festes Pokrov im 10. Jahrhundert steht, sahen der hl. Andreas, der „Narr in Christo“, und als einziger Zeuge ein gewisser Johannes das Kirchengewölbe offen7. Wem genügend Einbildungskraft zu Gebote steht, dem verknüpfen sich die wenigen ersten Flocken (am Fest Pokrov war im alten Russland der Winterbeginn) mit dem weißen Schleier Marias und dem Wort bei Jesaja. Was mich hier fasziniert ist die Glaubenskraft. Wo war denn kurz zuvor der berühmte, blütenweiße Schutz? Unter Umständen, in denen man annehmen sollte, dass einem das Glauben gründlich vergeht, regt es sich hier wieder leise. Andererseits ist das bei Licht besehen doch gar nicht so verwunderlich. „Gestorben muß seyn“- wusste schon der alte Abraham a Sancta Clara. Das ist eine unabweisbare Wahrheit gegen die man sich nur allenthalben, besonders in unseren Breiten, wie von Sinnen wehrt. Freilich können, wie man hier gerade gesehen hat, die Umstände des Sterbens sehr unterschiedlich komfortabel sein. Aber was bedeutet das „sub specie aeternitatis“? Hier setzt die Zuflucht zum Schutzmantel ein – es geht um das ewige Heil: „Kommt her, wir wollen rechten, spricht der Herr. Wären eure Sünden rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee!“

Im letzten Segment des Schwarz-Weiß-Films über den jungen Glockengießer Boriska und das Gießen einer riesigen Glocke taucht zwar keine Ikone auf, aber ein sehr verbreitetes Ikonenmotiv: auf der Glocke ist als Relief das sogenannte Schlangenwunder des hl. Georg, der Sieg des Guten über das Böse zu sehen. Ganz kurz war Andrej Rubljow lange zuvor im Palast des Großfürsten beim Betrachten einer nicht sehr großen Ikone des gleichen Typus gezeigt worden8. –

Als die Glocke endlich läutet, weicht eine unerträgliche Anspannung von Boriska. Etwas abseits an einem Feuer ist er zusammengebrochen, krümmt sich am Boden um einen phallischen Pfahl und schluchzt haltlos. Andrej Rubljow, der stumm die ganze Zeit den zähen Kampf des Halbwüchsigen mit einer Aufgabe, die schlicht eine Überforderung war, beobachtet hat, findet seine Stimme wieder, buchstäblich und als Künstler. Fast mütterlich nimmt er den Jungen in die Arme und tröstet ihn: „Wein doch nicht. Du hast den Menschen heute eine große Freude bereitet. Wir werden gemeinsam durch Russland ziehen. Du wirst Glocken gießen und ich werde Ikonen malen.“ Hier stellt Tarkowskij eine Beziehung zur so genannten siebten Kunst her, dem Film, der in der Hauptsache audio-visuell ist. Der Regisseur hat als Halbwüchsiger sowohl Malunterricht als auch Klavierunterricht von seiner allein erziehenden Mutter finanziert bekommen. Beide Künste genügten ihm nicht. Im Film fand er dann beide wieder und mehr.-

Die Kamera filmt die Glut des verlöschenden Feuers, dann kommt der Wechsel zum Farbfilm und Nahaufnahmen der Rubljow-Ikonen werden gezeigt.

Wir erkennen zunächst keine Bilder, sondern nur Einzelheiten, abstrakt-geometrisch, den Farbauftrag. Dann sehen wir vertraute Ikonenszenen, Details der berühmten Dreifaltigkeits-Ikone, schließlich die ganze Ikone. Die einzelnen Segmente wirkten zunächst unverbunden und unverständlich und schließen sich erst am Schluss zu einer Einheit zusammen. Damit wird die Montage der Aufnahmen zu den Ikonen zu einem Bild des ganzen Films. Nach der Dreifaltigkeit erscheint noch die berühmte Christusikone, an der der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hat. Die Musik von Wjatscheslaw Owtschinnikow mit ihrem Wechsel von sehr eigenwilligem Chorgesang und Stille ist verstummt. (Kurioserweise war diese Musik ursprünglich für die Szenerie am Ende der Schlacht auf dem Kulikowo-Feld komponiert worden, die dann aber aus Kostengründen nie gefilmt worden ist9. Die Neuverwendung der Musik war von Tarkowskij eigenmächtig entschieden worden und führte zum Zerwürfnis mit Owtschinnikow.) Ein Gewitter kündigt sich in der Ferne an, Regen plätschert, Tropfen fallen auch auf das Holz der Ikone. Sacht wird so das wechselvolle Schicksal dieser Ikone angedeutet, die für Jahrhunderte verschollen war und als Planke einer Türschwelle in einer Hütte bei Swenigorod gedient haben soll, wo sie 1919 zufällig entdeckt worden ist. Für mich ist es eine der majestätischsten Christusdarstellungen überhaupt, die nebenbei auch den asiatischen Einschlag in der russischen Geschichte reflektiert. Die gewaltigen, „pneumatischen“ Formen des Haupthaars, der viel zu kleine Mund, die vorspringenden mongolischen Backenknochen, die asiatischen Augen, und nicht zuletzt der auf den ersten Blick abweisende und bei näherem Hinsehen immer innigere Ausdruck: auch in dieser Hinsicht ist sie der Kunst Tarkowskijs verwandt.

Andrej Rubljow, Erlöser, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau, vermutlich erstes Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, 1,58 x 1,08 m (http://www.icon-art.info/)

Solaris (1972)

Wie Klaus Kreimeier bemerkte10 wird in der Raumstations-Kabine des Psychologen Kris Kelvin nur scheinbar beiläufig eine kleine Reproduktion der Dreifaltigkeits-Ikone von Andrej Rubljow gezeigt. Es wird zunächst kurz die Musik Owtschinnikows eingespielt, die das Erscheinen der Troiza am Ende des Rubljow-Films begleitet. Kris steht in tiefes Nachdenken versunken vor der halb verdeckten Ikonenreproduktion; oder betet er?

Aber ansonsten Ikonen in Solaris? Bei einigem Nachdenken kommt ein Bild mit der zur Drehzeit des Films (Sommer bis Winter 1971) etwa zwanzigjährigen Olga Barnet in den Sinn. In dem Film, den Kris von der Erde mitgebracht hat, steht sie mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem jungen Hund von der eher hässlichen Art auf dem Arm in einer winterlichen Landschaft: eine (wiederum „dialektisch“) entstellte Marien-Ikone. Es spricht für die Kraft der Suggestion von Tarkowskijs Film, dass er uns glauben machen kann, diese 20-jährige Frau könne die Mutter des Psychologen sein. Sie verhält sich mütterlich zu ihm und wäscht ihm in seiner Fiebervision die schmutzigen Hände. Tarkowskij sah diese Sequenz ausdrücklich als eine der besten des Films an11 und hat das Motiv in seinem letzten Film Opfer(1986) variiert.

Hari ist die vom Solaris-Ozean verursachte Verkörperung der Frau von Kris, die sich aus Verzweiflung umgebracht hat, weil sie sich von ihm nicht geliebt fühlte (Natascha Bondartschuk im Alter von 21 Jahren, Tochter von Tarkowskijs späteren Intimfeind Sergej Bondartschuk). Sie ist ein Bild der „alten Eva“, und ihre Abhängigkeit vom Mann wird im Film eindrucksvoll gezeigt. Sie trägt ein aus braunen Lederstücken zusammengenähtes Kleid, das von fern an den zusammengestoppelten Ballon aus dem „Prolog“ von Andrej Rubljow erinnert12 vor allem wenn man es in einer Synthese zusammen sieht mit einem gestrickten Umhang, der dazu passend ebenfalls in drei Tönen: dunkelbraun, rostbraun und hell-beige gehalten ist.

Die dunkelblonde, langhaarige Olga Barnet trägt ein aus großen weißen und rosa Rosenmotiven gestricktes Kleid. Zweifellos ist auch sie eine sehr schöne Frau, aber mehr noch als schön ist ihr Gesicht apart und melancholisch zu nennen. Sie steht für die neue Eva: Maria. Eine Einsicht, zu der der Regisseur den Zugang durch die erwähnte Entstellung verstellen musste.

Der Spiegel (1975)

In diesem Film erscheint ein Film-Poster zu Andrej Rubljow in der Moskauer Wohnung des Regisseurs, das die Dreifaltigkeits-Ikone zeigt. Darüber, ob das eine künstlerische Funktion erfüllt, kann man nur mutmaßen. Nach dem Film über Andrej Rubljow wurde überall gemunkelt, Tarkowskij sei ein „Heiliger“13. In dieser Szene zeigt er, dass er zumindest ein etwas seltsamer „Heiliger“ ist, der durch einen Anruf seiner Mutter um sechs Uhr abends geweckt wird und glaubt es sei sieben Uhr morgens. Zu seiner Entschuldigung lässt sich sagen, dass er seit ein paar Tagen etwas krank ist und an Angina leidet. Er hat sich vorgenommen, einige Tage zu schweigen14.

Stalker (1979)

In seinem letzten in der Sowjetunion realisierten Film geht es um die Expedition eines „Stalkers“, eine Art Seelenführers, in eine verbotene Zone. Er begleitet zwei Männer, die nur als „Professor“ und „Schriftsteller“ vorgestellt werden. Die Geschichte knüpft lose an eine Science-Fiction-Erzählung der Brüder Boris und Arkadij Strugatzkij: Picknick am Wegesrand an. Im Inneren der Zone soll es einen Raum geben, in dem die tiefsten Wünsche eines Menschen in Erfüllung gehen. Aber der Zugang zur Zone ist abgesperrt und als sie schließlich hineingelangen erweist sich die Orientierung als alles andere als einfach. Als der Schriftsteller sich auf dem kürzesten Weg zu dem geheimnisvollen Raum begeben will, wird er von einer Stimme aufgehalten. In der Zone lauern viele Gefahren, erfahren wir vom Stalker, und der kürzeste Weg sei nicht der richtige. Nicht ob jemand gut oder böse sei entscheide über das Fortkommen in der Zone als vielmehr, ob jemand ohne Hoffnung sei. Auf dem Weg durch einen langen Tunnel, „Fleischwolf“ genannt, bei dem der erbärmlichste der Drei, der zynische Schriftsteller den Weg bahnt, gelangen die drei Männer schließlich bis vor den Raum. Hier stellt sich heraus, dass der Professor eine Bombe mitgebracht hat, mit der er diesen Raum zerstören will. Es kommt zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Männern: der Stalker versucht dem Professor die Bombe zu entreißen, er wird vom Schriftsteller zu Boden gestoßen. Nach einigem Hin und Her beruhigen sie sich, und der Professor lässt von seinem Vorhaben ab. Aber die Männer gehen nicht in den Raum hinein. Sie bleiben vor seiner Schwelle sitzen und in einer langen Einstellung realisiert Tarkowskij eine Anspielung auf die Dreifaltigkeitsikone von Rubljow: Die drei Männer bilden gewissermaßen eine nicht vollzogene Dreifaltigkeit, denn der Stalker und der Schriftsteller haben sich einträchtig beieinander hingesetzt, aber der Professor wendet ihnen im Sitzen den Rücken zu. So sitzen sie im Mittelgrund und schauen dem Schauspiel innerhalb des Raumes vorne zu, wo in einer großen Wasserlache herab fallender Sprühregen als wunderbares Lichtphänomen sichtbar wird. Sie lauschen in der Stille einer minimalistischen Tropfenmusik. Der Professor wirft Teile der auseinandergenommenen Bombe wie fragend in die Wasserlache und die „antwortet“ mit Lichtkreisen. Vorübergehend wird die triste Höhle in goldenes Licht getaucht15. Ein schmaler Schlitz in ihrer Rückwand könnte für die „enge Pforte“ stehen, die die drei auf ihrem Weg zu diesem Raum schon passiert haben (der „Fleischwolf“). Der Schritt in den Raum hinein wird gleichgesetzt mit der Zuwendung zueinander, das wäre dann die Dreifaltigkeitsikone, aber dieser letzte Schritt wird nicht vollzogen.

Nostalghia (1983)

Auch im 1983 in Italien fertig gestellten Film Nostalghia gibt es nur vereinzelte Hinweise auf Ikonen, umso zahlreicher sind die Einflüsse westlicher Kunst. Es wird eine Szene in Schwarzweiß als Erinnerung eingeblendet, die die Befreiung von Domenicos Familie zeigt, nachdem er sie sieben Jahre lang in völliger Isolation gehalten hatte, um sie vor der bösen Welt zu schützen. Die Frau Domenicos (Tarkowskij hat für diese winzige Rolle, Delia Boccardo, eine bekannte italienische Schauspielerin verpflichtet) umarmt wild schluchzend in niedersinkender Bewegung Leib und Beine eines Polizisten um dann in einer Art Proskynese zu Boden zu stürzen und in Dankbarkeit dessen stiefelbewehrte Füße zu umklammern. Daneben entleert sich eine umgekippte Milchflasche. Es handelt sich um ein rätselhaftes, widersprüchliches Bild. Bei einer Grablegungsikone aus dem Rubljow-Umkreis umarmt die Mutter das Haupt des Toten, während eine untergeordnete, bärtige, männliche Figur ohne Nimbus, vielleicht Josef von Arimathäa, dem Toten die Füße küsst. (Dreifaltigkeits-Kathedrale in der Sergij-Dreifaltigkeitslavra, 1425–1427) Im Film Andrej Rubljow umarmt bei der Kreuzigung eine schöne Frau mit langem, blondem Haar weinend die Füße des auf dem Kreuz liegenden Christus. Als ein fester Bestandteil einer Ikone begegnet das Motiv bei der Auferweckung des Lazarus. Maria und Martha umarmen die Füße des rettenden Christus Was aber die Übertragung auf einen Polizeibeamten als einem christusgleichen Retter soll? Ob sie einfach Widerspruch erregen soll? Tarkowskij hat, wie gesagt16, von der Bedeutung der Dialektik bei der Herstellung seiner Bilder gesprochen. Wenn man bedenkt, dass er aus einem Polizeistaat kam, kann man in diesem Bild nur eine abgründige Ironie erblicken. Dass die weiße Milch unwiederbringlich aus der Flasche fließt, ist aber andererseits auch ein Hinweis auf den Verlust von Reinheit. Wieder einmal zeigt sich, dass sich die Bilder Tarkowskijs nicht einfach auflösen lassen.

Ein weiterer Verweis auf die Welt der Ikonen ist vielleicht die vermutlich geträumte Szene als der Russe Gortschakow auf einer wie ausgestorbenen Straße in einem Städtchen irgendwo in Italien geht. Durch die Sepiatönung wirkt die Szene düster, alle Fenster sind verrammelt, die Straße ist etwas übertrieben mit Müll übersät. So nimmt es auch nicht sehr wunder, dass er dort einem verlassenen Schrank begegnet (eine Ikonostase?). Das Folgende ist filmisch wundervoll gemacht: er öffnet langsam die Schranktür und im Spiegel darauf erblickt er nicht etwa sich selbst, sondern das Gesicht des verrückten Domenico mit kunstvoll gelocktem Haar. Dieser kunstvolle Lockenkopf erinnert an Ikonen – rätselhaft genug!

Vielleicht ist das ein Hinweis auf ein „Imago Christi“? Der Christusknabe trägt auf Ikonen Locken.

Während dieser Szene hören wir aus dem Off eine Männerstimme auf Russisch, die sich Vorwürfe macht, „jahrelang“ verbarrikadiert gelebt zu haben, unter Ausschluss des Sonnenlichts. Nun ist es Domenico, dem genau dies zum Vorwurf gemacht wird. Warum aber spricht der Mann russisch? Möglicherweise geht es nicht allein um die sieben Jahre, die Domenico seine Familie eingeschlossen hatte, um sie vor der verderbten Welt zu bewahren, sondern auch um die siebzig Jahre, die die Sowjetunion ihre Machtsphäre zu eben diesem Zwecke abschottete. Zwar wusste Tarkowskij 1982 noch nicht, dass das Sowjetimperium rund siebzig Jahre währen würde. Aber sagten wir nicht, dass Tarkowskij so etwas wie ein Prophet war? Wir werden Zeugen eines eigentümlichen spirituellen Kung Fu, den sich Tarkowskij in langen Jahren in der Sowjetunion angeknobelt hat. Hier beginnt er mit Bildern zu jonglieren, ein Hüter der öffentlichen Ordnung erscheint plötzlich in die Nähe zu Christus. Umgekehrt wird ein Provokateur wie Domenico, der aber in gewisser Hinsicht mit den sowjetischen Verhältnissen vergleichbar ist, auch mit Christus in Verbindung gebracht. Vielleicht werden wir so zu einer neuen Perspektive geführt, die etwas abseits der ausgetretenen Pfade jahrelanger Propaganda des kalten Krieges liegt.

Offret (1986)

In Offret(Opfer) bekommt der Protagonist Alexander zu seinem Geburtstag einen Kunstband mit Ikonenabbildungen geschenkt. Im Film blättert er das Buch durch und betrachtet tief beeindruckt die Ikonen. Ihn berühren die Tiefe und die Unschuld dieser Werke. Sie seien wie ein Gebet. „Heute können wir nicht mehr beten“. Später im Film, unter dem Eindruck eines plötzlich hereingebrochenen atomaren Konflikts, betet Alexander. Es versteht sich, dass der Film auch an dem Maß der von den Ikonen behaupteten „Unschuld“ gemessen werden muss.

Wenn man die Episode betrachtet, in der Alexander mit der sogenannten Hexe Maria schläft, wird man zugeben müssen, dass der Regisseur hier alles sorgfältig vermieden hat, was unmittelbar erotisch suggestiv wirken könnte. Stattdessen hat er mit der Levitation eine Metapher für diese „Hochzeit“ geschaffen, die mystisch erhebend aber nicht suggestiv wirkt. Wenn zuvor Maria Alexander sich die Hände waschen lässt, da er mit dem Fahrrad gestürzt ist und sich beschmutzt hat, so ist das ein Bild dafür, was die ganze Szene im Zuschauer bewirken soll. Alexander ist bei diesem ganzen Abenteuer des Fremdgehens so bejammernswert, dass es alles andere als eine Heldentat zu sein scheint, eher etwas, dessen man sich schämen müsste. Im Weiteren kann der Zweifel aufkommen, ob die ganze Episode vielleicht nicht nur geträumt war. Alexander erwacht auf der Couch in seinem Obergemach. Als er aufsteht, stößt er sich bös am Knie, weshalb er im Rest des Filmes hinkt. Das mag eine Anspielung auf die ausgerenkte Hüfte des Patriarchen Jakob sein, der nach seiner nächtlichen Begegnung mit dem Engel solcherart gezeichnet war17.

Die Dienerin Maria erscheint zuvor in einer Nahaufnahme des Kopfes mit einem schwarzen Kopftuch, auf dem als weißes Muster eine Art Silberdistel zu sehen ist. Das erinnert an die berühmteste Ikone der schwarzen Madonna, die Wladimirskaja, die nachweislich für Tarkowskij große emotionale Bedeutung hatte18, bei der das Kopftuch mit einem Stern geschmückt ist.

1 Zunächst muss auf die Dissertation der schwedischen Filmwissenschaftlerin Astrid Söderbergh Widding hingewiesen werden: „Gränsbilder Det dolda rummet hos Tarkovskij Grenzbilder der verborgene Raum bei Tarkowskij, Stockholm 1992, ferner die Untersuchungen von Massimo Nardin: Evocare l’inatteso. Lo sguardo trasfigurante nel cinema di Andrej Tarkovskij Das Unerwartete evozieren – Der verwandelnde Blick im Kino Andrej Tarkowskijs, Rom 2002

2 „Die Gegenüberstellung in der Art Kirche – Krieg, Tempel – Artilleriebeschuss ist schon zu abgedroschen.“

http://www.kinematographie.de/HEFT39.HTM#IK, Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963

3 Henry Kissinger, der einem alten Volk angehört, dem furchtbarste Schicksalsschläge im Laufe seiner langen Geschichte nicht erspart blieben und der deshalb potentiell zynisch denkt, bemerkte zu Amerika: “Nothing is more difficult for Americans to understand than the possibilities of disaster.” Zitiert nach: Thomas J. Noer, Henry Kissinger’s Philosophy of History, Modern Age, A Quarterly Review, published by ISI (Intercollegiate Studies Institute), Delaware, vol.19, n. 2, Spring 1975, S. 180-189, S. 186

4 Bekanntlich hat Boris Pasternak, der von Tarkowskijs Vater, dem Dichter Arsenij Tarkowskij, sehr verehrt wurde, dem Regisseur prophezeit, dass er nur sieben Filme schaffen werde, dafür aber sehr gute. Weniger bekannt sind die Umstände dieser Mitteilung: bei einer spiritistischen Séance! Das ist einer der Gründe, weshalb man dem Auteur in den offiziellen Kirchen bis auf weiteres mit Vorbehalten begegnen wird. Andrej Tarkowskij, Martyrolog. Tagebücher 1970-1986, Berlin 1992, 16. Februar 1973

5 Die Ikone stellt das vor allem in Russland bekannte und beliebte Fest Pokrov dar, das man mit Mariä Schutz und Fürbitte zu übersetzen pflegt. Der Festtag ist der 1. Oktober des alten Kalenders, der 14. Oktober des westlichen und das Thema des Bildes geht zurück auf eine Marienerscheinung in der Blachernen-Kirche in Konstantinopel, die der heilige Andreas, „der Narr in Christo“, sah und berichtet hat. Die Gottesmutter hielt während der Nachtmesse ihren Schleier über die betende Gemeinde.

6 In einem sehr langen Eintrag in seinem Tagebuch vom 9. Sept. 1970, in dem T. über die Zeitsituation reflektiert, heißt es auf einmal ziemlich unvermittelt: „Die einzige Errungenschaft der menschlichen Vernunft war die Erkenntnis des dialektischen Prinzips. Und wäre der Mensch konsequent und kein Selbstmörder, würde er sehr viel begreifen, wenn er sich ihrer bediente.“ (Tarkowskij, Andrej: Martyrolog – Tagebücher 1970 – 1986, Berlin 1989, S. 46)

7 Auch in der berühmten Schlusseinstellung des vorletzten Films von Tarkowskij Nostalghia (1983) gibt es eine Kirche mit offenem Dach: die Kirchenruine von San Galgano (bei Siena) und darin einen leichten, unverhofften Schneeschauer, der wie eine Zärtlichkeit des Himmels wirkt.

8

9 Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky A Visual Fugue, Indiana University Press 1994, S. 56

10 Klaus Kreimeier, http://www.filmzentrale.com/rezis/solariskk.htm Dieser Text ist zuerst erschienen in: Andrej Tarkowskij; Band 39 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1987, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags

11 Matyrolog, 30. Dezember 1971, S. 80

12 In „Versiegelte Zeit“ (Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films Berlin 1996, S. 84 f.) beschreibt der Regisseur wie wichtig es war für die Ikarus-Episode, die sie in den Film einbringen wollten, diese Form zu finden: ein aus Fellen zusammengenähten Ballon.-

In Genesis heißt es, dass Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies aus Fellen zusammengenähte Kleider trugen. (Gen 3, 21)

13 Tagebucheintrag vom 7. November 1973 in Moskau:“ Warum wollen mich denn alle in einen Heiligen verwandeln? Mein Gott! Mein Gott! Ich will nur etwas schaffen. Macht doch keinen Heiligen aus mir.“

14 . Das erinnert an das Schweigen Andrej Rubljows und auch im letzten Film Opfer muss „Jungchen“ wegen einer Halsoperation bis zum Ende des Films schweigen: Tarkowskijs Überdruss gegen das viele Gerede bei sich und anderen. – Der in dieser Szene gezeigte Zug zur Unordentlichkeit ist harmlos verglichen mit dem Hang zur Selbstherrlichkeit, den der Regisseur in diesem Film schonungslos eingesteht und damit erklärt, dass er als einziges männliches Wesen unter Frauen aufgewachsen sei.

15 Luca Blanc hat 2005 eine Abschlussarbeit an der Universität Bologna “LA FEDE NEL CINEMA”

Analisi del film STALKER di Andrej Tarkovskij geschrieben. Dabei lässt er sich vom höhnischen Ton der Unterredungen zwischen dem Schriftsteller und dem Professor anstecken und verfährt recht grob mit Andersdenkenden. Zur in Frage stehenden Szene behauptet er sehr emphatisch, dass die Szene in rotes und nicht in goldenes Licht getaucht sei. Dem kann ich nicht zustimmen. Vielleicht hat er eine minderwertige Kopie des Films gesehen oder der Entstehungsort seiner Abschlussarbeit bestimmte seine Optik: Bologna rossa…

16 Vgl. Anmerkung 4

17 Gezeichnet sind auch die Protagonisten in Tarkowskijs früheren Filmen. In Solaris hatte der Protagonist eine weiße Haarsträhne in der Stirn, was noch ein Zufall gewesen sein könnte; der Stalker hatte auf seinem kurz geschorenen Kopf einen hellen Fleck und der Protagonist in Nostalghia hat wiederum eine weiße Haarsträhne, die vom Regisseur mit einer herabschwebenden weißen Feder in Verbindung gebracht wurde. Während im Stalker die ursprünglich negative Bedeutung noch überwiegt: er scheint von Krankheit gezeichnet, geht es bei Gortschakow in Nostalghia wohl eher um eine Auszeichnung durch ein biblisches Siegel. Auch diese Zeichnung durch einen weißen Fleck hat Tarkowskij in seinem letzten Film beibehalten und präzisiert: Als Alexander daran geht sein Haus anzuzünden, hat er sich eine Art schwarzen japanischen Kimono angetan, bei dem auf dem Rücken das Yin-und-Yang-Symbol prangt. Da das schwarze Element Yin mit seiner Umgebung verschmilzt, sticht das weiße Yang-Element wie eine Flamme heraus. Gewissermaßen knüpft Tarkowskij so auch an das Motiv der Kerze aus Nostalghia an.- Man darf diese Auszeichnung wohl nicht als Exklusivität missverstehen. Im Spiegel wird der kleine bedauernswerte Kriegswaise Asafiew ausgezeichnet, indem sich ein Sperling auf seinen Kopf setzt. Das soll vermutlich heißen, das jeder persönlich gemeint ist; vgl. das Kapitel Tarkowskij und die Kunst des Westens, S. In der italienischen Ausgabe der Tagebücher wird am 1.12.1981 aus Thoreaus Walden zitiert: „Heute hat sich ein Sperling auf meine Schulter gesetzt und ich habe das als eine höhere Auszeichnung als irgendwelche Schulterklappen empfunden.“

18 Andrej Tarkovskij, Diari, Martirologio 3. Mai 1980 Tarkowskij berichtete wie er plötzlich in einer kleinen katholischen Kirche eine Kopie der Madonna von Wladimir gefunden hatte: „Unglaublich! Plötzlich findet man in einer Kirche in einem katholischen Land eine orthodoxe Ikone und das gerade zu dem Zeitpunkt, als mich bekümmerte, dass ich in Loreto nicht beten konnte. Ist das kein Wunder?“

Die Kunst der Schlüsse

Der Gedanke ein eigenes Kapitel den Filmschlüssen Tarkowskijs zu widmen kam mir relativ spät und doch meine ich, dass diese Schlüsse besonders kunstvoll sind und zur Auslegung einladen. In Iwans Kindheit erfahren wir aus den in Berlin gefundenen Dokumenten, dass Iwan von den Deutschen hingerichtet worden ist. Auf einem Archivfoto sehen wir einen düsteren, übel zugerichteten Iwan. Danach kommt noch einmal eine Szene, die Iwan mit seiner Schwester und anderen Freunden beim Spiel am Strand zeigt. Doch während die vorherigen Szenen, die sich auf die glückliche Kindheit Iwans bezogen, als Traumsequenzen verstanden werden konnten, ist das hier nicht möglich, denn Iwan ist schon tot. Die Kinder spielen – es geht um ein Abzählen, eins nach dem anderen scheidet aus, das heißt es fällt in den Sand. Dann geht es um Versteckspiel. Iwan ist derjenige, der die versteckten anderen Kinder sucht. Wir sehen hinter ihm einen toten Baum, der wohl als Mal dient, an dem man anschlagen muss. Iwan findet seine Schwester und gemeinsam rennen sie am Strand auf das im Sonnenlicht flirrende Wasser zu. Erst hat es den Anschein als laufe Iwan seiner Schwester nach, dann überholt er sie und der Film endet mit dem plötzlichen Auftauchen des toten Baumes. Ein abruptes Ende und eine letzte Verrätselung. Freilich nicht mehr als das – die Grundtendenz dieser Schlusssequenz ist positiv, zuversichtlich. Das Abzählen und Hinfallen ist ein Bild für das Ausscheiden durch den Tod, ein einfaches Bild für die furchtbare Erfahrung des Krieges. Das Versteckspiel spielt auf ein sich Wiederfinden nach dem Tod an und auf die damit verbundene Freude. Für Tarkowskij gehörte der Glaube an die Unsterblichkeit unabdingbar zur Kunst1.

Der Abschluss von Andrej Rubljow sind die farbenprächtig vorgeführten Ikonen, besonders die der Dreifaltigkeit. Danach erscheint die Ikone von Christus, dem Erlöser. Man hört das Rauschen von Regen, Regentropfen fallen auf die Ikone. Schließlich sehen wir eine Gruppe von Pferden an einem Gewässer im Regen stehen. Dies ist ein völlig rätselhaftes Schlussbild und man kann es als solches stehen lassen. Die Tropfen auf der Ikone können, wie gesagt2, ein minimaler Hinweis auf ihre bewegte Geschichte sein. Die Pferde im Regen habe ich immer als einen Hinweis auf das Wort von der „Herde ohne Hirten“ gesehen (Mk 6,34). Kümmert sich niemand um diese Tiere? Zeigt ihnen niemand den Weg ins Trockene? Das wäre eine mögliche emotionale Reaktion auf das Bild, und Tarkowskij war es immer um eine Reaktion zu tun, die mehr emotional als zerebral ist. Im Film waren wiederholt Bilder von Verlorenheit am Beispiel von Pferden gezeigt worden. Im Ikarusvorspann folgte auf den jähen Sturz des Ballons das Bild eines gefallenen Pferdes, das vergeblich versucht sich aufzurichten. Bei der Brandschatzung von Wladimir sehen wir ein Pferd von einer Treppe abstürzen und, wie gesagt, kommt ein herrenloses Pferd in die verwüstete Kirche. Im Kapitel über Tarkowskij und die Frauen habe ich darauf hingewiesen, dass beim Klang der Glocke im Glockengießer-Kapitel Irma Rausch, die die Schwachsinnige gespielt hat, festlich gekleidet und strahlend ein Pferd führt. Hier ist also schon einmal das Motiv des Pferdeführens angeklungen.

Vielleicht sollen die im Regen stehenden Pferde darauf hindeuten, dass die Herde immer noch auf den Hirten wartet, eben auf Christus, der in der Ikone gerade gezeigt worden war.

Das Abschlussbild von Solaris war mein erster tiefer Eindruck von einem Tarkowskijfilm. Kris Kelvin hat auf der Raumstation eine Fiebervision zum immer lauter dröhnenden Geräusch des Synthesizers: er ist heimgekehrt zu seinem Vater und kniet zu dessen Füssen genau in der monumental einfachen Haltung des verlorenen Sohnes von Rembrandt, ein Bild, das in der Eremitage von St. Petersburg hängt (Rembrandt Harmenszoon van Rijn, Rückkehr des verlorenen Sohnes 1668-69 Öl auf Leinwand 2,62m x 2,06m). Freilich ist diese Szene nicht einfach einsinnig. Mit dem dröhnenden Synthesizer und vor allem dem im Sonnenlicht leuchtenden Regen, der im Haus auf die dampfende Lederjacke des Vaters fällt ist die Szene darüber hinaus rätselhaft. Die Kamera weicht zurück und wir sehen, dass das väterliche Anwesen im Ozean von Solaris liegt. Das Thema des Films war die Odyssee3 eines Mannes gewesen, der mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte, (er hatte alle möglichen Dokumente vor seinem Aufbruch in den Weltraum verbrannt) und der sich nur der Wissenschaft verpflichtet fühlte. Der Ozean von Solaris hat ihn mit seiner Vergangenheit konfrontiert, mit seinem Versagen. Das Schlussbild zeigt den Vater, zu dem er zurückkehren will, aber eingebettet in den Ozean wird das Bild ein Hinweis auf Gott, mit dem er sich versöhnen soll.

Der Spiegel endet damit, dass das sterbenskranke Ich auf einem grün bedecktem Lager liegt. Ein gepflegter Arzt erklärt zwei älteren Damen sachlich die Situation des Kranken. Merkwürdigerweise hängen die Wände voller Spiegel. Hier bekommen wir Tarkowskij fast zu sehen, zumindest den rechten Unterarm, die Hand die ein Vögelchen ergreift und in die Höhe wirft: es fliegt. Vielleicht ist das ein Bild für die Seele des Sterbenden. Schnitt: endlich sehen wir das blühende Buchweizenfeld, das für die Entstehung des Films so wichtig war4. Es ist der späte Nachmittag, der Tag neigt sich schon dem Ende entgegen. Wir sehen die Eltern, die friedlich vereint im Gras liegen: die Mutter ruht mit ihrem Kinn auf der Hand auf seiner Brust. Sie hat ihr wunderbares honigblondes Haar, das in einem dicken Zopf geflochten war, fast gelöst. Sie stellen sich die Frage, ob ihr Kind ein Junge oder ein Mädchen sein soll. Wir sehen das vieldeutige Minenspiel der Mutter, die unter Tränen lächelt, und es setzt ein Bachchoral mit der Anrufung „Herr, Herr“ ein. Die entscheidende Frage – und wir wissen, dass es für Tarkowskij nicht gleichgültig war, ob Junge oder Mädchen – wird Gott überlassen. Zu den Klängen des Chorals sehen wir die tatsächliche Mutter Tarkowskijs, also die gealterte Frau, nicht die Schauspielerin, mit den beiden Kindern in dem Alter, das sie 1935-36 hatten, (was uns vollends verwirrt) durch Wald und das blühende Buchweizenfeld eilen. Der Junge bleibt einige Schritte zurück und, nachdem der Bachchoral verstummt ist, stößt einen Schrei aus. So schließt der Film, der mit einem durch Hypnose geheilten Jungen begonnen hatte, der endlich sprechen konnte, in einem unartikulierten Schrei. Dazwischen hat Tarkowskij alles gesagt, was er sagen konnte. Das Letzte, was wir sehen, ist der dunkelnde Wald, hinter den die Kamera zurückweicht. Das spielt auf das Dante-Wort vom Beginn der Divina Commedia an, das sehr viel früher im Film, in der Druckerei-Episode, von der Kollegin der Mutter unvermittelt zitiert worden war, wozu sie dann auf einem Korridor übermütig wie ein Kind hüpfte: „Nel mezzo del cammin di nostra vita/ mi ritrovai per una selva scura/ ché la diritta via era smarrita.“5 So entlässt uns der Regisseur aus seiner „göttlichen Komödie“, zu der eben auch ganz wesentlich der Glaube an die Unsterblichkeit gehört. Deshalb werden die verschiedenen Zeitebenen unentwirrbar in einander verwoben: „ein einziger Tisch für Ahnen und Enkel“ wie es in dem bei den Dokumentaraufnahmen des Marsches der roten Armee durch den Siwasch-See rezitierten Gedicht Arsenij Tarkowskijs Leben, Leben heißt. Übrigens findet sich in dieser Abschlussszene das gleiche paradoxe Ineinander und Nebeneinander von beschaulichem Frieden der Eltern, die Elternfreuden entgegenblicken, und der Eile der alten Mutter mit den Kindern, die sich von der Herrlichkeit des Buchweizens nicht aufhalten lässt: “Unsterblichkeit hab’ ich genug, damit mein Blut von einem ins andere Leben sich ergießt. Mein Leben gäbe ich für dich hin, für einen sicheren Winkel stetiger Wärme. Doch jagt die fliehende Nadel mich wie einen Faden durch die Welt.“ (Leben, Leben)

Der Regisseur hat sich in seinen Tagebüchern später sehr kritisch zum Schluss dieses Filmes geäußert6. Tatsächlich ist es ein etwas lose geschürzter Knoten und hat nicht die überwältigende Wirkung anderer Abschlüsse. Freilich gibt es während der Naturaufnahmen am Schluss, die vom Bachchoral begleitet werden, eine Einzelheit, die ich nicht so sehr künstlerisch bedeutsam finde, aber wert hervorgehoben zu werden, weil sie die Wahrheitsliebe des Regisseurs zeigt: die Kamera fährt in halb kultiviertem Gelände auf eine Grube zu, in der dunkel nicht näher definierte Objekte blinken, vermutlich Gegenstände nicht nur aus Metall, sondern auch aus Kunststoff, der von der Natur nicht zersetzt wird. Daneben halbverfaulte Holzbalken, auf denen Käfer krabbeln. Inmitten der poetischen Herrlichkeit der Abenddämmerung, in der der blühende Buchweizen leuchtet, kommt unvermittelt dieser etwas beunruhigende Hinweis auf die Verschandelung der Natur.

In Stalker (1979) sieht man die drei Männer wieder zum Ausgangspunkt ihrer Reise zurückgekehrt, einem heruntergekommenen Stehausschank. Der Stalker wird von seiner Frau und seiner Tochter abgeholt. Die Tochter sei gelähmt, was auf den Aufenthalt des Vaters in der Zone zurückgeführt wird. In einer Einstellung, die den ins Profil gewendeten Kopf der Tochter vor einer Industrielandschaft zeigt, wird vorübergehend der Eindruck erweckt als sei ihre Lähmung aufgehoben, denn ihr Kopf bewegt sich an der Landschaft vorbei, erst dann sehen wir, dass sie vom Stalker auf den Schultern getragen wird. Wichtig ist ein Farbakzent, der in dem mit Farbe äußerst sparsam umgehenden Film, nicht ignoriert werden sollte: das blass goldgelbe, gestrickte Kopftuch der Tochter. Der Film war zunächst nur in schwarzweiß, bzw. Sepiatönen gefilmt; erst in der Zone kam Farbe auf, beschränkte sich aber auf Grün und Grautöne, lediglich in der Höhle vor dem Raum war, wie gesagt, goldenes Licht aufgetaucht. Hier nun wird dieser Goldton wieder aufgegriffen. Die Tochter steht für das innere Leben, was die völlig rätselhafte Schlusseinstellung des Filmes verständlich machen kann. Es ist die Zeit der Pappelblüte: Samenflusen schweben durch den Raum. Stalkers vielleicht 12-jährige Tochter sitzt an einem Tisch und liest in einem Buch. Eine männliche Stimme aus dem Off rezitiert ein Gedicht von Fjodor Tjutschew:

„Ich liebe deine Augen, Doch noch viel reizender

Meine Freundin, Ist es zu sehn

Ihr helles Flammenspiel Wie du die Augen senkst

Wenn du sie Wenn du mich

Unerwartet hebst Leidenschaftlich küsst –

Und wie ein Und durch die

Blitz vom Himmel Halbgeschloss’nen Lider

In deine Runde schaust. Das dunkle Feuer

Des Begehrens…“

Das Mädchen legt ihr Gesicht auf die Tischplatte und bewegt die darauf stehenden Gläser nur mit der Kraft ihres Blickes. Diese Einstellung ist wiederum dialektisch gebildet, das heißt um einen inneren Widerspruch, denn das Kind weiß mit Sicherheit nichts vom „dunklen Feuer des Begehrens“. Zu Beginn des Films hatte sich unter dem Einfluss eines nah vorbeifahrenden Zuges, aus dem die Klänge von Beethovens Neunter und Ravels Bolero zu hören waren, auf dem Nachttisch im Schlafgemach des Stalkers und seiner Familie auch ein Glas bewegt. Tarkowskij zitiert einmal Hermann Hesse mit einem Wort aus dem „Glasperlenspiel“: „Was du Leidenschaft nennst ist nicht Seelenkraft, sondern Reibung zwischen Seele und Außenwelt.“7 Beethovens und Ravels Musik werden so in Verbindung gebracht mit der Bewegung, die durch Reibung zwischen Seele und Außenwelt entsteht. Das Psi-Phänomen der Telekinese hingegen wird zum Bild für Seelenkraft.8 Es ist im Übrigen eine besondere Pointe, dass die Tochter, die sich selbst nicht fortbewegen kann, anderes bewegt: eine Anspielung auf Gott, den „unbewegten Beweger“ des Aristoteles.

Wie im Rubljow die Pferde im Regen eine Art rätselhafter Nachhall sind für die Dreifaltigkeitsikone und den Erlöser, ist hier diese Szene ein Nachhall für die die nicht vollzogene Dreifaltigkeit der drei Männer vor dem innersten Raum der Zone.

In Nostalghia hingegen ist die Schlussszene noch komplexer und mit einigem Aufwand komponiert. Nachdem der schwer herzkranke Gortschakow in letzter Anstrengung das entleerte Becken in Bagno Vignoni mit einer brennenden Kerze durchquert hat, bricht er zusammen und stirbt offenbar. Wohl der junge Mann, der ihn mit dem Taxi gebracht hatte, kommt gelaufen und die verstörte Frau (eindrucksvoll Milena Vukotic), die verkrustete Gegenstände aus dem Schlamm des Beckens aufliest, blickt sorgenvoll: eine kümmerliche Ersatzfamilie. Dann sehen wir schwarzweiß ganz nah den lichtblonden Jungen aus den Erinnerungen an die russische Heimat. Die Mutter nähert sich langsam wohl in Zeitlupe von hinten und legt ihm sacht die Hände auf die Schultern. In dieser Haltung hatten wir die Beiden zuvor in größerer Entfernung gesehen. Ganz fern hören wir weinerlich klagende, fistelnde Frauenstimmen. Ein italienischer Freund mit Verwandtschaft in Sizilien fühlte sich an dortige Klageweiber erinnert. Schon in der ersten der Russlanderinnerungen konnte man diese Stimmen hören. Fernes Hundegebell. Wir sehen wie schon zuvor verschiedene Male das russische Bauernhaus. Auf halber Strecke lagert sehr entspannt Gortschakow, den rechten Arm aufgestützt, auf der Erde, neben ihm liegt sein Schäferhund. Vor ihm, in einer der großen Pfützen, spiegeln sich lichtvoll drei leicht spitzbogige Fenster ohne Glas. Die Pfütze kennen wir schon, weil in einem der Erinnerungsfetzen (die Gortschakow immer wieder heimsuchten und wie die treibenden Nebel der Eingangsszene seine Sicht so seine Geistesgegenwart vernebelten) die Tochter mit dem Hund gelaufen kam und dieser in die Pfütze sprang um irgendetwas zu apportieren. Die Kamera fährt langsam zurück und wir werden gewahr, dass das russische Bauernhaus mit den Bäumen dahinter in den wohlerhaltenen Außenmauern der Zisterzienserabteiruine San Galgano bei Siena liegt. Ganz leise hören wir den einsamen Gesang einer Frauenstimme, die ohne instrumentale Begleitung eine schwermütige russische Weise singt9. Ein leichter Schneefall setzt ein10. Nach einer Weile erscheint die Schrift: Der Erinnerung an meine Mutter gewidmet.

Tarkowskij hatte gewisse Vorbehalte gegen diese Schlusseinstellung. Hören wir ihn selbst: „Dieses konstruierte Bild hat etwas leicht Literarisches an sich. Es ist gleichsam ein Modell von Gortschakows innerem Zustand, von seiner Zerrissenheit, die ihn nicht mehr wie bisher weiterleben lässt. Wenn man so will, könnte man natürlich auch das Gegenteil behaupten und davon sprechen, dass dies das Bild einer neuen Einheit ist, die die Hügel der Toskana und das russische Dorf zu einem organischen, untrennbaren Ganzen zusammenschließt, die bei einer Rückkehr nach Russland von der Realität wieder auseinander geschlagen werden würde.“11

Wenn man es genau nimmt, sind weder die toskanischen Hügel noch ein Dorf zu sehen. Der Russe sah sie wohl in dem Bauernhaus und der Ruine repräsentiert. Vielleicht lässt sich sagen, dass die Kirchenruine für den Formenreichtum der Kultur des Abendlandes steht (insbesondere die italienische Kultur ist reich an Formen in der Kunst wie im täglichen Leben). Freilich ist das alles vergangen und es fehlt, so scheint es, das innere Leben. Tarkowskij scheint in dieser Vision in Aussicht zu stellen, dass die russische Geistigkeit dieses Gebäude beseelen könnte. Es wäre somit ein anderes Bild für die „beiden Lungenflügel“, von denen der russische Dichter Wjatscheslaw Iwanow sprach, eine Rede die von Papst Johannes Paul II. aufgegriffen worden ist12.

Die federleichte Zärtlichkeit des finalen Schneefalls wird im Film, wenn auch kaum merklich, angekündigt. Beim „Spatzenwunder“ vor der Madonna del Parto des Piero della Francesca, erschien nach den plötzlich hoch fliegenden Vögelchen einer der Opferstöcke in der Kirche mit vielen brennenden Kerzen und winzige, helle Flaumfedern rieselten darauf nieder. Sie knüpften so eine poetische Verbindung vom unverhofften Flug und Zwitschern der Vögel, die einfach die unbändige Freude am Leben zeigten, zu den brennenden Kerzen, die hingegen für das innere Leben stehen. In dieser Bedeutung wurde die brennende Kerze dann für die Askese der schier endlosen Szene der Durchquerung des Thermalbeckens wichtig.

Schon zu Beginn des Films, bei einer der ersten Erinnerungen an Russland, in Sepiatönen, sank eine weiße Feder es bezeichnend am Haupt Andrej Gortschakows vorbei und deutete somit die „Zeichnung“ der weißen Strähne als ein „Zeichen des Himmels“. In der Ferne vor dem heimatlichen Haus stand undeutlich und ganz in Weiß ein Engel13. Auch durch das offene Dach des verfallenen und versumpften Kirchleins, in dem der betrunkene Gortschakow der kleinen Angela begegnet war, senkte sich in kreiselnder Bewegung eine weiße Feder herab. In Tarkowskijs erstem Film Iwans Kindheit gab es bereits beim Blick aus der Tiefe des Brunnenschachts hinauf ins Licht eine solche herabkreiselnde Feder, ohne dass ich zu sagen wüsste, was sie dort bedeutete. In Nostalghia verhalten sich diese Federn zum Schneefall am Ende des Films wie Verheißung zu Erfüllung. Das spielt verhalten darauf an, dass es Gortschakow dort, wo er jetzt ist, besser geht: die Verbindung von Himmel und Erde ist nicht mehr nur sporadisch sondern kontinuierlich.

Der unzeitige Schneefall ist darüber hinaus auch eine Anspielung mit historischer Dimension. Wenn wirklich schon der Wintereinbruch gekommen wäre, würde Gortschakow nicht so selig auf der Erde lagern. Gortschakows einziger wirklicher Freund in Italien, der verwirrte Mathematiker Domenico, hat in seiner konfusen Rede auf dem Kapitol in Rom unter anderem von „Schnee im August“ gesprochen. Im Morgendämmer der Kirchengeschichte gibt es aus dem Jahr 352 die Geschichte von einem Schneefall im August. Angeblich habe ein Kaufmann dem römischen Bischof Liberius von einer Traumvision erzählt, derzufolge es auf einem der römischen Hügel im August schneien solle. Dort solle eine Kirche errichtet werden14. Der Legende nach stand das am Anfang des Baus der Kirche S. Maria Maggiore, der ältesten Marienkirche der Christenheit. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Geschichte dem Regisseur während seiner langen Aufenthalte in Italien zu Ohren gekommen sein könnte. Mit Sicherheit dürfte diese Mischung aus Geschichte und Poesie ihn fasziniert haben.

So ist der Schluss von Nostalghia auch so etwas wie eine poetische Aufforderung an die Kirchen zu einem Neubeginn.

In Offret ist die Schlussszene wieder ein Nachklang zum dramatischen Fanal von Alexanders Hausverbrennung und spannt zugleich den Bogen zurück zum Beginn des Filmes. Da hatte Alexander am Strand zusammen mit seinem immer nur „Jungchen“ genannten Sohn, der wegen einer Halsoperation nicht sprechen konnte, einen vertrockneten „Ikebana“-Baum15 gepflanzt und dazu folgende Geschichte erzählt: „…Einmal, vor sehr langer Zeit, verstehst du, da lebte ein alter Mönch in einem orthodoxen Kloster, Pamwe hieß er, der pflanzte auf einem Berg einen trockenen Baum, genau so. Und zu seinem Schüler, das war ein Mönch, der hieß Joann Kolow, sagte Pamwe, er solle diesen Baum täglich wässern, bis er zum Leben erwachen würde…und so füllte Joann jeden Morgen in aller Frühe einen Eimer mit Wasser und machte sich auf den Weg. Er stieg hinauf auf den Berg und wässerte den trockenen Baumstamm, und am Abend, als es schon dunkel war, da kehrte er zurück ins Kloster. Und so ging das drei ganze Jahre lang. Aber dann, eines schönen Tages, kam er auf den Berg und sah, dass sein ganzer Baum übersät war mit Blüten!“

Alexander ist nach seiner Wahnsinnstat von den berühmten „Männern mit den weißen Kitteln und Turnschuhen“ mühsam eingefangen und in Gewahrsam genommen worden. Da sehen wir Jungchen mit seiner Strandmütze am Strand wie er zwei schwere Eimer Wasser zu dem vertrockneten Baum schleppt, um ihn zu wässern. Die Altarie „Erbarme Dich“ aus der Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs, die beim Vorspann des Filmes zu hören war, erklingt wieder. Wir sehen die Dienerin Maria in nicht allzu großer Entfernung auf ihrem Fahrrad vorbeifahren und das Weite suchen. Diese Fahrt ins Weite ist gewissermaßen eine Antwort auf den mit seinem Rad in Kreisen fahrenden Postboten Otto zu Beginn des Filmes. Nach meinem Eindruck ist das Fahrrad mit seinen beiden Rädern für den sehr visuellen Tarkowskij in seinem letzten Film zu einer Art Chiffre geworden für das Gerät der Technik, mit dem er selbst am meisten befasst war: die Filmkamera. In graphisch vereinfachten Darstellungen erscheint sie oft mit diesen beiden Kreisen. Dieses Instrument kann einen magischen Bann ausüben, der dazu führt, dass man an sich selbst gefesselt bleibt, oder aber es kann ins Weite führen.- Im Vorbeifahren Marias wird eine Herde schwarzbunter Kühe sichtbar, wobei es mir zum ersten Mal dämmerte, was es mit den magischen Lockrufen auf sich hatte, die immer wieder im Film vernehmlich wurden: sie zerstreuen nicht, sie sammeln. Es sind nicht Sirenen, die ins Verderben locken, sondern, wie man jetzt weiß, traditionelle schwedische Hirtenrufe16.

Jungchen legt sich nach getaner Arbeit unter den Baum, blickt hinauf und wir hören ihn zum ersten Mal sprechen: „Im Anfang war das Wort. Warum Papa?“ Der religiös indifferente, aber offenbar durchaus biblisch belesene Alexander hatte eingangs halb im Scherz zu Jungchen gewendet gemeint: „Im Anfang war das Wort. Aber du bist stumm wie eine Plötze.“ Man hat dagegen eingewandt, ob nach Tarkowskij nicht viel mehr am Anfang das Bild stehen müsse17. Dieser Film ist ungewöhnlich wortreich und ist deshalb weiten Teilen des Publikums, nicht zuletzt aber auch Alexander selbst auf die Nerven gegangen: irgendwann unterbricht er sich in seinen endlosen Monologen und fragt ungeduldig, ob man nicht endlich mal etwas tun könne, statt immer nur zu reden. Als die atomare Katastrophe hereinzubrechen scheint, macht er dann einen Pakt mit Gott und kommt zu dem hirnverbrannten Aktionismus, das ihnen allen so liebe Ferienhäuschen am Meer anzuzünden. Er verspricht auch zu schweigen. Als er vom Freund des Hauses, dem Arzt Viktor nach der Brandstiftung eingeholt wird, setzt er zu einer Erklärung an, verstummt dann aber sofort. Auch ohnedies hat er sich zum Schweigen verurteilt, denn die Worte eines Verrückten verlieren jedes Gewicht. Alexander verstummt und Jungchen beginnt zu sprechen. Das erinnert an die Antinomie des „alten“ und „neuen“ Menschen bei Paulus: der „alte Mensch“ muss zum Schweigen gebracht werden, damit der „neue Mensch“ sprechen kann18. Mehr ins Psychologische gewendet, spricht Alexanders Frau Adelaide gleichfalls diesen Zusammenhang an in dem raren Moment, als sie nach ihrem hysterischen Anfall und Viktors Beruhigungsspritze etwas bei sich ist. Es sei da immer wie jemand in ihr, der sie dazu anhielte, auf keinen Fall sich selbst aufzugeben, sich jedenfalls und immer zu behaupten. Das ist die Antinomie von der anderen Seite gesehen.

Die Figur „Jungchen“ wird im Film auch in andere allegorische Bezüge gestellt: zum einen Nietzsches Zwerg, da Alexander ihn auf de Schultern trägt. Dann tigert er in Anspielung auf Nietzsches „blonde Bestie“ auf allen Vieren durch das hohe Grass und Alexander redet zuvor zu allem Überfluss und völlig aus dem Zusammenhang von einer Expedition „quer durch Afrika“. Dann fällt er den Vater in prometheischer Rebellion hinterrücks an und holt sich dabei selbstverschuldet eine blutige Nase. Seine Mütze ist ihm vom Kopf gefallen und wir sehen zum ersten Mal sein blondes Haar. Aber das hier ist das letzte Wort des Films. Sein einziger Satz kann – wenig überraschend – auch noch anders gelesen werden: „Am Anfang war das Wort: Warum Papa?“ Die ewige Beziehung „schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher) des Sohnes vom Vater, oder aber auch schlechthinniger Zugewandtheit zum Vater. Mit diesem „Warum?“ wandte der Sohn sich am Kreuz an den Vater in der Erfahrung der Verlassenheit. Da nannte er Ihn nicht Vater, sondern Gott. Man versteht, dass seinerzeit, als der Film in die Kinos kam, sich der Kritiker für Die Zeit, Andreas Kilb an eine Formulierung Walter Benjamins erinnert fühlte: „bodenloser Tiefsinn“19. Nach der Frage des Jungens geht die Kamera den Baum hinauf bis in dessen dürre, expressiv sich streckenden Arme und Krone. Der Baum ist gewissermaßen die Visualisierung des Fragens. Heidegger hat wohl mal gesagt, das Fragen gehe aus dem Lichten ins Dunkle. So war es noch im Rubljow erschienen bei der Unterredung von Andrej Rubljow und seinem Gehilfen Foma im Wald, als Rubljow darauf hinwies, das nur im Gebet wir wirklich sehend werden können. Fomas Gesicht wird im Profil so vor struppiges Wurzelwerk projiziert, dass diese hinter seinem Blick vom Hellen sehr bald ins Dunkle führen: wir sehen nicht sehr weit. Hier ist es nun umgekehrt: die Frage führt vom Dunkel ins Lichte. Das flirrende Licht auf dem Meer, unscharf und aus dem Fokus, greift ins Astwerk und weckt die Anmutung, dass der Baum blüht. Auch hier schließt sich ein Kreis: schon in Iwans Kindheit war das flirrende Licht auf dem Wasser in der Schlussszene wichtig geworden. Man hat Robert Bird vorgeworfen, dass er sämtliche Filme Tarkowskijs, angefangen von Die Straßenwalze und die Geige bis zum Opfer, völlig gleichberechtigt behandelt, so als habe es überhaupt keine Entwicklung gegeben. Die Kritik ist gewiss berechtigt, aber andererseits ist die Kontinuität doch auch beträchtlich. Zwischen Iwans Kindheit und Opfer liegen 24 Jahre – das ist so viel auch wieder nicht. In der Schlussszene von Offret ist das Licht so überwältigend, weil der ganze Film so dunkel und dämmrig ist, aber auch in Iwans Kindheit gab es schon diesen Kontrast zwischen den sehr düsteren Szenen im Krieg und den sonnenbeschienenen Erinnerungen.

Aus dem von dem Polen Michal Leszczylowski gedrehten Dokumentarfilm Regie: Andrei Tarkowskij (1988) zur Produktion von Offret geht hervor, dass Tarkowskij allen Ernstes nach einem blühenden Baum gesucht hat. Die Saison hatte er offenbar (und zum Glück) verpasst. Die Crew, die wohl einmal mehr seine Intentionen nicht richtig verstanden hatte, kam mit einem jungen Bäumchen mit prächtigem, grünem Blattwerk angetanzt. Tarkowskij am Fenster zum Hof, sichtlich ungehalten, legt sich die Hände in die Haare, schimpft wie ein Rohrspatz, winkt ab. Die Lösung, die er dann gefunden hat, war sehr viel besser und seiner Handschrift treu20.

1 In einem Interview unmittelbar nach Fertigstellung von Iwans Kindheit hatte Tarkowskij auf die Frage, ob er mit diesen letzten Bildern gewollt habe, dass der Film mit einer leichten Note ende, in der schroffen Art, die zeitlebens in Interviews immer wieder mal aufblitzte, geantwortet, das wäre doch wohl etwas banal. Nur um sogleich hinzuzufügen, dass Kunst allerdings ihrem Wesen nach optimistisch sei. Das sagte er, als sei das eine Selbstverständlichkeit, über die allgemeine Einigkeit bestünde. Dabei stand er mit dieser Überzeugung in der zeitgenössischen Kultur ziemlich allein auf weiter Flur. Denn der Optimismus, den er meinte, hatte wahrlich tiefere Wurzeln als der für die Sache des Sozialismus. http://www.kinematographie.de/HEFT39. Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963: „Der Zuschauer erblickt den Helden, der schon nicht mehr auf der Welt ist, und nimmt Bruchteile seines wirklichen und seines möglichen Schicksals in sich auf. Dieser letzte Traum – der Lauf über die Sandbank – wurde keineswegs deshalb gedreht, um das Finale des Films aufzuhellen (wie einige meinen); das wäre in einem Werk, in dem die Mehrzahl der Helden umkommt, falsch und geschmacklos (dass unsere Position als Filmschöpfer optimistisch ist, ist eine andere Sache.)“

2 Darauf wurde im Kapitel über Andrej Tarkowskij und die Kunst der Ikonen hingewiesen, p.

3 Eine gewissermaßen archetypische Anspielung auf die Odyssee des Homer ist das Motiv des Hundes, der Kris Kelvin bei seiner Rückkehr erkennt und ihm entgegenläuft.

4 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S.141 f.

5 Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt

6 Andrej Tarkovskij, Diari. Martirologio, Florenz 2002, 30. Juni 1982

7 A. Tarkowskij, Martyrolog, Eintrag vom 20. 9. 1970, a.a.O. S.55

8 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 241

9 Dank Internet und YouTube können wir das Lied identifizieren und auch eine leidlich gute englische Übersetzung finden. Das Lied heißt Kumushki und handelt, was Wunder, von unglücklicher Liebe.

10 Die Webseite von San Galgano hat diesen leichten Schneefall kommentarlos übernommen. Auf den Fotos der Klosterruine rieseln Flocken in elektronischer Animation: http://www.sangalgano.org/

11 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 216

12 Vgl. die Ansprache am 20. 5. 2010 von Papst Benedikt XVI. aus Anlass der Tage der russischen Kultur im Vatikan gewidmet von Patriarch Kyrill I. und ganz Russland auf der Webseite des Vatikans: „In der Musik werden also der Austausch, der Dialog, die Synergie zwischen Ost und West wie auch zwischen Tradition und Moderne bereits vorweggenommen und in gewisser Weise verwirklicht. An eine analoge einheitliche und harmonische Vision Europas dachte der ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II., als er das von Wjatscheslaw Iwanowitsch Iwanow verwendete Bild der »beiden Lungen« aufgriff, mit denen man wieder atmen müsse. So wünschte er ein neues Bewußtsein der tiefen, gemeinsamen kulturellen und religiösen Wurzeln des europäischen Kontinents, ohne die Europa heute wie seelenlos wäre und zumindest von einer eingeschränkten und unvollständigen Sichtweise gekennzeichnet.“

13 Auf Tarkowskijs Grabstein in Paris steht bekanntlich der Satz: „Der Mann, der den Engel gesehen hat.“

14 „Der Sage nach sei die Madonna in der Nacht auf den 5. August dem römischen Kaufmann Johannes und seiner Frau erschienen und habe versprochen, dass ihr Wunsch nach einem Sohn in Erfüllung ginge, wenn ihr zu Ehren eine Kirche an der Stelle errichtet würde, wo am nächsten Morgen Schnee läge. Das Ehepaar begab sich darauf hin zu Liberius, welcher denselben Traum hatte. Am Morgen des 5. August sei die höchste Erhebung des Esquilinhügels weiß gefärbt von Schnee gewesen. Deshalb trägt diese Kirche bis heute auch das Patrozinium Santa Maria ad Nives (deutsch: Maria Schnee). Die Basilika ist die größte der über 40 Marienkirchen Roms, sie wird deshalb Maria Maggiore genannt.“ (nach Wikipedia)

15 Tarkowskij hatte diesen dürren Baum kunstvoll präpariert, einen zusätzlichen Ast daran befestigt, um so etwas wie eine japanische Beseelung zu erzielen, eine raumgreifende Wirkung wie in der japanischen Ikebana-Kunst zu erreichen.

16 Gegen diese ambivalente romantische Verführung muss freilich Einspruch erhoben werden: wenn man bis zum Schluss nicht weiß, ob das nicht am Ende eine „Rattenfängerweise“ ist, um es mit Bezug auf ein Gedicht vom Vater Arsenij Tarkowskij zu wenden, wie soll man sich dann dazu stellen?

17 Robert Bird, Andrei Tarkovsky Elements of Cinema, University of Chicago Press London, 2008. Bird beginnt das Kapitel über Word and Image, (S. 91-106) mit diesem Zitat. Er tendiert dazu die Bedeutung der Worte herunterzuspielen und kann sich auf Aussagen des Regisseurs berufen.

18 Paulus, Kol., 3, 9-10: „Belügt einander nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen angezogen habt, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bilde dessen, der ihn erschaffen hat.“

19 Andreas Kilb, Andrej Tarkowskij: Abschied von einem Visionär des Kinos Der Herrscher des Lichts. Zum Tode des russischen Regisseurs und zu seinem letzten Film „Opfer“ im Archiv von Zeit.Online, 9.1.1987 Eine flüchtige Recherche im Internet fördert allerdings zutage, dass die Formulierung spätestens seit Schop(p)enhauer durch die Literatur geistert.

20 Auf Nostalghia.com finden sich die Aufzeichnungen eines schwedischen Journalisten, der die Dreharbeiten zu diesem Film begleitet hat. Er berichtete davon, dass eines Sonntags die Crew mit Familien und Kindern kamen, um in einer groß angelegten Aktion aus den blühenden Wiesen sämtliche Blüten auszurupfen: nur der Baum sollte blühen. Eine ähnliche Blumenrupfaktion gab es übrigens auch schon bei den Dreharbeiten für den Stalker (1979)

Tarkowskij über die Musik

Die Lektüre von Marcel Prousts Eine Liebe von Swann in diesem Sommer hat mich dazu bewogen, doch ein paar Zeilen zu Tarkowskijs Aussagen über die Musik zu schreiben. Was mich lange zögern ließ, ist die Tatsache, dass ich mich als quasi Außenstehender an die wende, die es angeht. Wenn ich ganz ehrlich bin, höre ich auch heute noch mit fast sechzig Jahren lieber den jungen Bob Dylan als, sagen wir, Schuberts Winterreise in der Interpretation Dietrich Fischer-Dieskaus und Alfred Brendels. In Sachen musikalische Sensibilität kann man da wahrscheinlich nur sagen: Hopfen und Malz, Gott erhalt’s! Ich schreibe daher auch nicht über Tarkowskij und die Musik in seinen Filmen. Da muss ich das Feld wohl oder übel Kompetenteren überlassen. Ich konzentriere mich auf wenige Aussagen in dem Film Stalker, die mir ein besonderer Juwel zu sein scheinen und mehr des Nachdenkens wert als Marcel Prousts monströser Vergleich von Chopins Musik mit Zärtlichkeiten an einem endlos langen Hals, was mich an eine japanische Gespensterdarstellung mit einem ebensolchen Hals auf einem Holzschnitt aus dem 19. Jahrhundert erinnert.

Stalker ist mit seinen beiden anonymen Kunden, dem „Schriftsteller“ und dem „Professor“, sowjetisch abgewirtschafteten Vertretern von C. P. Snows „zwei Kulturen“, schon einige Zeit durch die behexte Zone gewandelt, weshalb man ein wohlverdientes Ruhepäuschen einlegt. Alle drei haben sich auf vereinzelte Inseln in einigermaßen wässrigem Gelände hingestreckt. Es lohnt im Übrigen nicht ihre Positionen rekonstruieren zu wollen, denn der Regisseur lässt sie unter der Hand beständig die Standorte wechseln. (Zu guter Letzt lehnt sogar der Schriftsteller friedlich seinen Kopf an den Professor an.) Der Schriftsteller und der Professor haben sich im Dämmer „auf das unabsehbar weite Feld persönlicher Beleidigungen begeben“ (Ephraim Kishon). Die Kamera zeigt uns, dass im Wasser undefinierbare Gegenstände, alte Spritzen, Münzen, Waffen, ein zerborstenes Behältnis mit kleinen Fischen, aber auch Abbildungen von Rembrandts Radierung der Landschaft mit drei Bäumen auf dem Kopf und von Johannes dem Täufer auf Jan van Eycks Genter Altar liegen. Eine Frauenstimme zitiert aus dem Off düstere Aussagen der Apokalypse von der Sonne, die schwarz wie ein härener Sack wird, um in lautlosem Gelächter zu enden. Auch Stalkers Gesicht, das unterdessen mehrfach ins Bild kommt, sehen wir schließlich kopfunter, wobei sich leicht der Eindruck des Dämonisch-Fratzenhaften einstellt. Dann richtet Stalker sich auf und erinnert an die Episode der beiden Jünger, die vor Emmaus mit dem auferstandenen Jesus unterwegs waren. Stalker nennt den einen der beiden Jünger mit Namen, Cleophas, womit seine beiden anonymen Gefährten aus dem Halbschlaf auftauchen.

Stalker wechselt dann unvermittelt das Thema und spricht vom Sinn des Lebens und der Uneigennützigkeit der Kunst: „. Nehmen wir die Musik, sie ist am wenigsten mit der Wirklichkeit verbunden, vielmehr zwar verbunden, aber ohne Idee, mechanisch durch den bloßen Klang ohne Assoziationen. Trotzdem dringt die Musik durch irgendein Wunder bis in die Seele. Was gerät ins Schwingen in uns als Antwort auf die zur Harmonie gebrachten Geräusche und verwandelt sie für uns in eine Quelle erhabenen Genusses, verbindet und erschüttert uns? Wozu ist das alles? Und vor allem für wen? Sie werden antworten für niemanden und für nichts – nur so, uneigennützig. Nein, kaum, kaum. Alles hat doch letzten Endes seinen Sinn, Sinn und Ursache.“

Vielsagend und tiefsinnig ist, wie diese Aussagen auf Bildern aufruhen. Wir sehen zuerst bemooste Steine an einem Seeufer. Die Kamera fährt langsam hoch und sekundenlang ist die Bildleinwand leer, die Kamera fährt leicht wachsendem Licht entgegen. Dann tauchen Spiegelungen von Bäumen auf und schließlich sehen wir diese Bäume am gegenüberliegenden Ufer des Sees. Ein weiträumiges Landschaftsbild entsteht wie sonst kaum je in dem Film. Schriftsteller und Professor hören aufmerksam zu, unverwandt in die Kamera blickend und mit eng benachbarten Köpfen.

Im Hintergrund mischen sich Allerweltsgeräusche, die wie das ganze Ambiente nichts sonderlich Reizvolles oder Exotisches haben und uns in unseren Breiten zur rechten Jahreszeit ohne weiteres begegnen können: so der insistierende und etwas enervierende Ruf des Wendehalses. Hat Tarkowskij mit der ihm auch von mir gern nachgesagten prophetischen Begabung das enervierende Getön der Wendehälse nach der Wende antizipiert?

Dann ist da aber auch der Ruf des Kuckucks mit seinem wunderbaren Hall, der Zweifel aufkommen lässt, ob er nicht doch mehr ist als – sehr frei nach Erich Fried – das Röhren eines fetten Brutparasiten, – so etwas wie eine Metapher: das diskrete Klopfen an einer fernen, im Winter unserer Weltzeit weitgehend vergessenen Tür. (Übrigens ertönt gegen Ende des Films nach der Rückkehr des Stalkers in seine schäbige Wohnung dort eine Kuckucksuhr. Damit ist das erste Mal das Motiv einer platonischen Urbild-Abbild-Relation aufgebracht, das Tarkowskij in wachsender Deutlichkeit in seinen beiden letzten Filmen entwickelt. In Nostalghia wird, als die Handlung definitiv nach Rom umschwenkt, als Auftakt dazu ein Panorama von Rom im Abendlicht gezeigt, wobei der gewaltigen Kuppel des Petersdoms im Hintergrund, die kleinere Kuppel einer anderen Kirche im Vordergrund entspricht, die ich bislang nicht eindeutig identifizieren konnte. In  Offret wird das Bild noch deutlicher: im Vordergrund steht die Miniaturversion des Hauses mit dem großen Haus dahinter.)

Die bemoosten Steine am Anfang mögen für die von Stalker genannte Wirklichkeit stehen, der völlig abstrakte See eben für die Abstraktheit der Musik. Die Leere ist ja ein pointierter Kontrast zu den im flachen Wasser liegenden Gegenständen, die fortwährend Assoziationen wecken und deshalb an einen Traum erinnern. Dagegen geht es hier um „den bloßen Klang ohne Assoziation“. Das jenseitige Ufer steht für die Verbindung zur Seele, die die Musik geheimnisvoll herstellt, eine Art von Transzendenz. Der Schriftsteller und der Wissenschaftler werden einträchtig beieinander gezeigt, was das Wunder der Musik, die uns „verbindet“, hervorhebt. Auch die Tatsache, dass die beiden ganz gegen ihre Gewohnheit bis zu Ende der Einstellung in Schweigen verharren, gibt der Aussage Nachdruck.

In Stalker wird auf etwas indirekte Weise noch eine andere Aussage über Musik gemacht. Gleich zu Beginn des Films sehen wir Stalker im Ehebett mit seiner Frau und seiner Tochter im Schlaf. Ein Zug fährt vorbei, was durch die Erschütterung auf dem Nachttisch „einen Sturm im Wasserglas“ verursacht: ein Wasserglas verrückt langsam und sein Inhalt gerät heftig ins Schaukeln. Unter dem Rattern des Zuges hört man kaum die Marseillaise. Etwas später wird Stalkers Frau, nachdem er sich wieder einmal von ihr verabschiedet hat, um in die Zone aufzubrechen, von ihrer Verzweiflung zu Boden geworfen und sie wälzt sich in konvulsivischen Zuckungen, dazu wieder der Lärm eines vorbeifahrenden Zuges und verborgen darunter die letzten Akkorde aus der Ouvertüre von Richard Wagners Tannhäuser.

In der Zone wird vom Stalker eine Aussage gemacht, die Tarkowskij schon einige Jahre zuvor bei Hermann Hesse gefunden hat: „Was ihr Leidenschaft nennt ist keine innere Kraft, sondern lediglich Reibung der Seele mit der Außenwelt.“ Tarkowskij hat diese Aussage offenbar bei seiner Lektüre von Hesses Glasperlenspiel gefunden und notierte sie am 20. September 1970 in seinem Tagebuch. Wir sehen offenbar in einen runden Brunnenschacht hinein, ein recht abstraktes Bild: hinein in die Flüssigkeit fällt tintenartig ein gewaltiger Spritzer, der von der hellen Oberfläche ganz allmählich wieder zurückgedrängt wird. Die in Aufsicht gegebene kreisrunde Form erinnert an das Glas vom Beginn des Films.

Das Motiv der hereinbrechenden Finsternis wiederholt sich etwas später in einem anderen Bild: die drei sind bis zum innersten Raum der Zone vorgedrungen, wo der geflieste Boden unter Wasser steht. Man sieht die auseinander geschraubte Bombe, die der Wissenschaftler schließlich da hinein entsorgt hat. Zwei Fische schwimmen darum herum, von denen nur einer im Bild bleibt.Dann schwappt in leichter Wellenbewegung eine bedrohlich schwarze, ölige Flüssigkeit ins Bild. Wir hören wieder das Rattern eines vorbeifahrenden Zuges und darunter verborgen die Klänge von Maurice Ravels Bolero.

Wie wäre es, wenn die Erschütterung durch den vorbeifahrenden Zug ein Bild für die „Reibung zwischen der Seele und der Außenwelt“ ist? Zugleich scheint das einen kritischen Vorbehalt gegen die Moderne (die Marseillaise) und die dazugehörige Musik zu artikulieren.

Kurz vor dem erwähnten Zitat in seinem Tagebuch hat Tarkowskij eine andere Aussage aus dem Glasperlenspiel zur Musik notiert, bei der Hesse die Überzeugung eines chinesischen Denkers wiedergibt, dass nämlich die Musik eines Zeitalters dessen inneren Zustand verrate.

Das Motiv des verrückenden Glases vom Beginn des Filmes wird an seinem Ende wieder aufgegriffen, aber jetzt ist es eindeutig das Resultat „innerer Kraft“, denn die gelähmte Tochter Stalkers bewegt Gläser mit der Kraft ihres Blickes.

In seinen anderen Filmen hat Tarkowskij kaum noch grundsätzliche Aussagen zur Musik gemacht. Im Film Nostalghia (1983) bringt er indirekt seinen Unmut über die Entwicklung der europäischen Musik insgesamt zum Ausdruck, den er in seinen Schriften dann noch deutlicher formuliert hat. In sehr ironischer Brechung lästert der glatzköpfige General im dampfenden Thermalbad über die Sentimentalität Verdis und schwört auf alte chinesische Musik, „die Stimme Gottes, der Natur“. Im Hotel in Bagno Vignoni hört man zwischendurch diese chinesische Musik. Der fast monotone Gesang einer Männerstimme erinnert an Gesänge buddhistischer Mönche. Tarkowskij ist davon fasziniert, wie in dieser Musik das „Ich“ verschwindet, während ihn an der Musik des Westens stört, dass sich das Ich zur Schau stelle: „Seht wie ich liebe, wie ich leide“. (Der schöne englische Ausdruck „self importance“, für den es keine genaue Entsprechung im Deutschen gibt, kommt in den Sinn.)

Tarkowskij zeigte sich wie zerrissen zwischen Ost und West und er sah darin wohl sein Schicksal als Russe.

Hochprozentiges bei Tarkowskij

Die Nähe und den Hang zum Rausch hat man gelernt als Selbstverständlichkeit der slawischen condition humaine hinzunehmen. Man weiß aus Nikolaj Gogols Taras Bulba, dass die Kosaken sich nur aus Anlass besonderer kriegerischer Ereignisse zur Nüchternheit durchringen konnten. Die wurde mit drakonischen Strafandrohungen durchgesetzt. Rauschhaft sind immer wieder die Chöre, nicht nur die der Don-Kosaken, sondern auch die liturgischen Gesänge. Etwas boshaft könnte man sagen, dass die marxistische Redensart von der Religion als Opium des Volkes in Russland mehr als anderswo etwas Richtiges traf.
Tarkowskij hat es geschafft, sogar zu diesem Thema etwas relativ Tiefschürfendes, um nicht zu sagen Tiefschlürfendes beizusteuern. Weiterlesen …

Tarkowskijs Unruhe

Dem russischen Regisseur eilt der Ruf voraus, in seinen Filmen Zeit zu haben wie Heu.
Wir kennen das mit einem etwas anderen Dreh: wir sagen „jemand hat Geld wie Heu“.
Und wir sagen „Time is money“. Kaum wird das als eine eherne Gesetzmäßigkeit bei der Produktion von Filmen in Zweifel gezogen werden. Eine Gesetzmäßigkeit, die unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus bis zu einem gewissen Grade außer Kraft gesetzt zu sein schien. Weiterlesen …