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ANDREJ TARKOWSKIJS FILM NOSTALGHIA GENAUER (WAHR)GENOMMEN

November 21, 2022

1983 kam der Film Nostalghia des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij in die Kinos. Der Film handelt von der Odyssee eines russischen Intellektuellen im damaligen Italien. Da die Beziehungen der Westeuropäer zu Russland zur Zeit so sehr im Argen liegen, kam mir in den Sinn über diesen Film zu schreiben, der in seiner Art einzigartig ist. Freilich muss man vielleicht bereit sein, mehr als ein Aufsätzchen zu schreiben, eher ein kleines Buch, um diesem Film Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Regisseur hat sich wiederholt enttäuscht über die Auseinandersetzung von Kritikern mit seinem Werk geäußert. Tatsächlich hat man oft den Eindruck bei Kommentaren, dass die Autoren ihre Aufgabe möglichst bald abhaken möchten. Sehr bald nehmen sie Zuflucht zu Abkürzungen, die oft zu sachlich falschen Wiedergaben führen. Tarkowskij erwartetete sich hingegen von Leuten, die seine Filme kommentieren, „a labour of love“; und zu Recht, weil die Filme genau das sind: „a labour of love“1. Wenn ich mich also anschicke diesen Film zu kommentieren, erwarte ich darin unterzugehen. So stelle ich das Wort von Giacomo Leopardi meinen Ausführungen voran: „E il naufragar m’è dolce in questo mare – Süß ist es für mich, in diesem Meer unterzugehen“.

Ich sprach von der Odyssee eines russischen Intellektuellen, das ist insofern irreführend, weil das an aktives Abenteurertum denken lässt, während der ehrfürchtig als Dichter angesprochene Schriftsteller Andrej Gortschakov mit zunehmender Mattigkeit durch Italien irrt, begleitet von einer jungen und schönen italienischen Übersetzerin, die passenderweise Eugenia heißt: „wohlgeboren“ kann man sie wirklich nennen: groß, schön gewachsen, üppig, mit einer noch üppigeren rotgoldenen Lockenpracht, die ihrer Farbe wegen an Sandro Botticellis Geburt der Venus denken lässt. Die Darstellerin Domiziana Giordano hat als Person Ähnlichkeit mit der Dolmetscherin: sie hat nicht nur als Schauspielerin gearbeitet, sondern ist Künstlerin, selbstbestimmt, selbstbewusst. Oleg Jankowskij, der einzige Russe unter den Darstellern in diesem Film, kam schon in Tarkowskijs früherem Film Spiegel (1975) zum Einsatz, er spielt dort in einem kurzen Auftritt den heimkehrenden Vater. Er hat Ähnlichkeit mit Tarkowskijs Vater wegen der schön gewölbten Stirn und Augenbrauen. Freilich war Arsenij Tarkowskij im Unterschied zu ihm rabenschwarz in Haaren und Augen. Als sich abzeichnete, dass für Nostalghia die Wahl auf ihn fallen könnte, war der Regisseur leicht alarmiert. So schreibt er am 2. März 1982 in seinem Tagebuch: „Jankowskij? Er ist fragil, geistig schwach, leider. Ihn härter erscheinen lassen, die Haare kurz schneiden.“2 Im Film hat er sich dann für einen andere Lösung entschieden, indem er die Schwäche des Hauptdarstellers als Symptom eines krank machenden Heimwehs erscheinen ließ. Irgendwo sprach Jankowskij in einem Interview davon, dass ihn Tarkowskij früher, zwei Monate vor Beginn der Dreharbeiten nach Italien kommen ließ, um ihn längere Zeit der Situation der Fremde auszusetzen. Als der Regisseur ihn dann wiedertraf war er zufriedengestellt, weil der Schauspieler im richtigen Zustand war.

Doch wie hebt der Film an? Im Vorspann sehen wir in Schwarzweiß ein von Baumgruppen umstandenes, von Nebeln verhangenes Flusstal, in das weibliche Figuren, ein kleiner Junge und ein Schäferhund hineingehen. Das Einzige, was die Aufnahme von einem Landschaftsbild der Romantik unterscheidet, ist ein Telegrafenmast in ihrer Mitte, der leicht hätte vermieden werden können. Eine Frauenstimme singt ein russisches Lied Kumushki über einen Fluss, vielleicht sogar den Europafluss Donau, das von dunklen Klängen der Streicher aus Verdis Requiem abgelöst wird.

Dann beginnt der eigentliche Film: grüne Wiesen in der Dämmerung, von rechts kommt ein VW-Käfer, fährt durchs Bild kehrt in einem Bogen zurück und hält weiter vorne im Bild. Die Dolmetscherin steigt aus dem Auto und sagt etwas auf russisch. Aus dem Auto hören wir die Stimme eines Mannes, der sie – nicht sehr gentlemanlike – bittet, italienisch zu reden. Sie lässt es sich nicht verdrießen, stellt fest, dass das Licht sie an bestimmte Atmosphären in Moskau erinnert und verkündet, dass sie das erste Mal als sie die Madonna del Parto gesehen hat, weinen musste.

Diese Art, emotionale Erfahrungen zu veröffentlichen, kann man als typisch westlich, genauer: typisch italienisch ansprechen.

Sie geht voran, einen schmalen Pfad, der durch die Wiesen senkrecht in die Höhe führt. Der Russe weigert sich auszusteigen:“Ich will nicht“. Dann sagt er auf russisch etwas, was seine Haltung erklärt: „Ich bin dieser krankmachenden Schönheiten überdrüssig. Ich will nichts mehr nur für mich allein.“ Der Grund für seinen Widerwillen ist die Tatsache, dass er diese Erfahrungen nicht mit den Seinen teilen kann. Das Bedürfnis nach Mitteilung ist eine grundlegende Charakteristik der russischen Mentalität. Man erinnere sich an Tolstois Beobachtung englischer Gäste in Luzern, die Konversation betrieben, aber offenbar ohne das Bedürfnis, irgendetwas Wesentliches mitzuteilen. Die positive Wertung von Telegraphenmasten, die sowohl im Vorspann als auch hier ins Bild kommen, steht in Beziehung zu ihnen als Mittel der Kommunikation.

Tarkowskijs Filme stehen in der Spannung, in dem Widerspruch, einerseits überwältigende Angebote zur Mitteilung zu sein, so umfassend, dass man sich keinen Augenblick der Unaufmerksamkeit erlauben darf, andererseits so wie die gesamte moderne Lyrik aus Protest gegen die rationale Banalisierung des Lebens kryptisch zu sein, oder wie Tarkowskij einmal in einem Interview gesagt hat, Rätsel zu schaffen, an denen sich die Menschen noch in Jahrhunderten abarbeiten sollen.

Andrej Gortschakow folgt dann doch der Italienerin, obwohl er wiederholt gesagt hat, dass er nicht will. Wir sehen sie durch treibende Nebelschwaden wandern. Aus der Dokumentation von Ebbo Demant über Tarkowskij geht hervor, dass der Russe große Bewunderung für Caspar David Friedrich hegte. Auf dessen Bild Über dem Nebelmeer (Hamburg, 1818) sehen wir diese treibenden Nebelschwaden, die der Szenerie etwas Traumhaft-Unwirkliches geben. In der Filmszene sind die ziehenden Nebel ein Bild für die ständig in die Heimat ziehenden Erinnerungen Gortschakows.

Schon in diesen ersten Bildern kann man Tarkowskijs Hang zu sinnbildlicher Verdichtung beargwöhnen, so als sei die in den Jahrhunderten bestehende Rückständigkeit der Russen emotional in ihrer schwerblütigen Schwermut begründet. Wir sind versucht, diese emotionale Rückständigkeit an der Wurzel eines Krieges zu vermuten, der vielleicht auch begonnen wurde, weil Ilja Repins Gemälde Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief einen so zentralen Platz in der russischen Folklore hat und diese Kosaken auf dem Territorium der heutigen Ukraine lebten.

Ilja Repin, Die Saporoger Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan, Öl auf Leinwand, 203 x 358 cm ,1880-91, St. Petersburg

Die Vermutung, dass Vieles in Tarkowskijs Filmen „symbolisch“ sei legt sich nahe, wurde aber von ihm immer wieder energisch bestritten. Er wehrte sich gegen ein Symbolverständnis, das Bedeutungen festschreibt, die man dann in Nachschlagewerken rubrizieren kann. Er sprach lieber von „Bildern“ und führte gerne Beispiele aus der Haiku-Dichtung des Japaners Baschô an3.

Das Wunder des Lebens

Schnitt zur nächsten Szene, die uns in den Innenraum einer Kirche versetzt. Die Kamera fährt horizontal von rechts nach links durch einen Wald kleiner Säulen. Wir befinden uns nicht am tatsächlichen Ort der Aufbewahrung der berühmten Madonna del Parto von Piero della Francesca (1410/20 – 1492) in Monterchi, sondern in der Krypta der Kirche San Pietro in Tuscania, etwas mehr als neunzig Kilometer nordwestlich von Rom. Eine Reproduktion des Freskos ist hier angebracht worden. Die durch die Krypta stolzierende Eugenia sieht im Hintergrund andächtig kniende Gläubige. Sie fragt einen älteren Mann, der sich im Weiteren als Sakristan vorstellt und den Tarkowskij mit seiner Beleuchtung als wahren Philosophenkopf erscheinen lässt, warum es vor allem Frauen sind, die sich im Gebet anvertrauen. Er erläutert, dass wenn man zerstreut ist, gar nichts passiert. Aber wirklich gläubigen Menschen können alle Wünsche in Erfüllung gehen. Das wiederholt die Aussage, die im Vorgängerfilm des Regisseurs Stalker über den innersten Raum der Zone gemacht wurde. Wir werden sehen, dass Tarkowskij auch andere Elemente dieses Films aufgreift. Eine Mindestanforderung ist aber, fügt der Sakristan hinzu, dass man bereit ist, niederzuknien.

Sie macht einen halbherzigen Versuch und bekennt dann, dass sie das nicht kann. Das greift einen Vorwurf auf, der Westeuropäern nicht nur von Russen, sondern allgemein von Osteuropäern gemacht wird, dass es ihnen an Demut fehle, was sich unter anderem in der fehlenden Bereitschaft niederzuknien zeige.

Wir werden nun Zeugen einer langsamen Prozession von Frauen, die Turmaufbauten von brennenden Kerzen und eine von einem Velum verhüllte Statue wohl der Madonna herbeitragen.

Das ist insofern nicht völlig aus der Luft gegriffen, als es tatsächlich Proteste gab als das Fresko der Madonna del Parto in ein Museum übertragen wurde, weil das Fresko offenbar einen Platz in der Volksfrömmigkeit hatte.

Während in Italien Kerzen „der Geruch der Sakristei“ anhaftet, haben Menschen in Ländern mit anhaltender Dunkelheit ein emotionaleres Verhältnis zu ihnen. In diesem Film wird ihnen eine wichtige Rolle beigemessen. Der Aufbau mit der Madonnenstatue wird so abgestellt, dass wir im Hintergrund undeutlich das Fresko sehen. Eine junge Frau mit Schleier kniet vor der Statue nieder und flüstert atemlos eine Litanei, in der es um die Mutterschaft Marias und ihren Beistand für alle Mütter geht.

Der Sakristan hatte zuvor der Dolmetscherin in ungelenken Worten gesagt, dass es seiner Meinung nach Aufgabe der Frauen sei, Kinder zu gebären und aufzuziehen. Eugenia fragt unwillig, ob sie zu mehr nicht nütze seien und geht.

Piero Della Francesca, La Madonna del Parto, Fresko, 260 x 203 cm, 1455 Monterchi

Nun geschieht ein Wunder: die kniende Frau öffnet mit leiser Gewalt – man hört das Knacken der Knoten – das Velum vor der Madonnenstatue und heraus fliegen im Schwarm zwitschernde Vögelchen. Nach meinem Eindruck ein erster poetischer Höhepunkt des Films, der als eine kreative Weiterentwicklung des Freskos zu verstehen ist. Das Fresko zeigt die Madonna in einem Zelt stehend, dem Zelt der Bundeslade4, das von zwei Engeln feierlich geöffnet wird. Die deutlich schwangere Madonna hat die rechte Hand auf die spaltbreite Öffnung ihres blauen Gewandes gelegt, als schicke sie sich an, eine weitere Öffnung anzudeuten, die Öffnung ihres Schoßes. Eben dies Motiv hat Tarkowskij mit der Öffnung des Velums aufgegriffen, um das Wunder des Lebens zu feiern. Es hat in Russland den Brauch gegeben, an Ostern Vögel aus Käfigen freizulassen, auf den Alexander Puschkin sich in einem kurzen Gedicht berief:

Das Vöglein

Den alten Brauch, den gibt es ewig,
dem ich in Fremde folgen mag:
Ich lass ein Vöglein aus dem Käfig
an fröhlich heitrem Frühlingstag.

Nun meine Seele wird genesen;
Gibt’s einen Grund zum Traurigsein,
wo ich nur einem Lebewesen
bescher‘ den freien Sonnenschein?

Der Regisseur ergänzt mit diesem Bild entscheidend die kargen Worte des Sakristans über die Rolle der Frau. Kinder zu gebären groß zu ziehen ist als Aufgabe wahrhaftig nicht hoch genug einzuschätzen.

Freilich zeigt sich hier auch so etwas wie eine beinahe ideologische Festlegung. Der Russe sah Mann und Frau komplementär. In seinem Leben hatte er es in seiner Sicht der Selbstaufopferung seiner Mutter zu verdanken, die eine emanzipierte Frau war und beachtliche schriftstellerische Versuche hinterlassen hatte, dass er der geworden ist, der er war.Als alleinerziehende Mutter in der Sowjetunion hatte sie einigen Aufwand betrieben, um ihrem Sohn eine umfassende musische Förderung zuteil werden zu lassen: Musikschule und Kunstschule Tarkowskij selbst hat sie in einem Interview einmal als „Nihilistin“ bezeichnet, was in Russland der Name für die Feministinnen der ersten Stunde, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war. Der Vater hatte die Familie früh verlassen und war in den Augen der Mutter ein Egoist. Von dem Dichter, zu dem die Beziehung zunächst einmal sehr kompliziert war, hatte Tarkowskij vieles von seiner inneren Welt geerbt und so schrieb er einmal sinngemäß in den Tagebuchaufzeichnungen: wenn er ein Egoist ist, bin ich es auch.

Im Film sehen wir nun Gortschakow in sepiagetönter Nahaufnahme. Es bleibt unklar, ob er das Fresko der Madonna, deren Gesicht wir in atemberaubender Nahaufnahme sehen, überhaupt gesehen hat. Jetzt wird er von einem Tagtraum gefangengenommen. Eine weiße Feder schwebt von oben herab, um sein Haupt zu streifen und in eine Pfütze zu sinken. Der weiße Fleck in seinem Haar, den auch der Stalker hatte, wird so deutlich als eine Zeichnung von oben gekennzeichnet. Der Prophet Ezechiel erhält im Alten Testament den Auftrag, alle mit einem Zeichen zu versehen, die über die in der Stadt begangenen Gräueltaten seufzen und stöhnen (Ez 9, 4). Für Tarkowskij wichtiger war vermutlich die Beziehung zur Offenbarung des Johnannes, wo davon die Rede ist, dass 144000 mit dem Zeichen des Lammes versehen werden (Offb 14)

In der Ferne sieht Gortschakow ein Holzhaus, das ihm Heimat bedeutet, und davor undeutlich einen Engel.

Das dunkle Hotel

In der nächsten Szene sitzen Gortschakow und Eugenia im Finstern. Wie sich im Weiteren herausstellt, ist es das Foyer des kleinen Hotels, wo sie Unterbringung finden. Die extrem dunkle Gestaltung dieser Passage des Films hat dazu beigetragen, dass der Gesamteindruck des Films, wie Tarkowskij nachher beim ersten Sehen etwas überrascht feststellte, der einer großen Verdüsterung ist. Manche mögen wegen dieser vorherrschenden Schwermut, die nach einem konventionellen Dafürhalten typisch für die Slawen im Allgemeinen und für Russen im Besonderen sein sollen, mit dem Film etwas fremdeln. Da die Melancholie mein natürliches „Habitat“ ist, nehme ich sie fast nicht wahr und gebe mich ungestört der Faszination durch das hin, was ich provisorisch Tarkowskijs „Sinnfülle“ nenne.

Eugenia beklagt sich bei Andrej, dass er das Fresko, über das er zuvor viel gesprochen hatte, überhaupt nicht sehen wollte. Sie liest ein Buch von ins Italienisch übersetzten Gedichten Arsenij Tarkowskijs. Er: Wirf das weg. Denn Dichtung, überhaupt Kunst lasse sich nicht übersetzen. Was Dichtung angeht, könne sie ja einverstanden sein, aber was ist mit Musik? Er stimmt leise eine russische Weise an. „Ihr versteht gar nichts von Russland.“ Wie ist es denn umgekehrt mit Dante, Petrarca, Machiavelli? Wir verstehen nichts, wir armen Teufel. Was könnte denn die Lösung sein? Man muss die Grenzen abschaffen, die des Staates. Mittlerweile sind die Grenzen zwischen den Staaten abgeschafft, aber es scheinen weiterhin gewisse Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Völkern zu bestehen. In dieser Unterhaltung sehen wir Gortschakow im Dunkeln von hinten, der sich dann umdreht; Eugenia sehen wir im Profil. Sie kehren einander halbwegs den Rücken zu. Andrejs sich filigran kräuselnder Zigarettenrauch wird zum Bild für seine mutlosen Raisonnements.

Zwischendurch scheint ein kurzer Erinnerungsfetzen aus der russischen Heimat auf: der Kopf einer dunkelhaarige Frau von hinten, die ein blitzblankes Weinglas anhaucht, um es noch zusätzlich zu polieren. Sie hat das in Zöpfen geflochtene Haar in einer Schnecke aufgerollt und in einen Knoten gebunden: in etwa die gleiche Frisur, wie sie die Mutter im autobiographischen Film Der Spiegel (1976) in jungen Jahren trug. Es ist in diesem flüchtigen Einsprengsel, dass wir Andrejs Frau zum ersten Mal sehen, wie sich dann spätrer klärt und nur von hinten. Das Putzen des Glases bringt auch das Thema der Reinheit zum ersten Mal ins Spiel.

Eugenia erzählt beiläufig von einer Zeitungsnotiz, die durchaus als Interpretationshilfe für einen der noch zu erläuternden Höhepunkte des Films gelesen werden kann: eine Hausangestellte aus Süditalien hat in Mailand das Haus ihrer Herrschaft angezündet: aus Heimweh – sie wollte zurück nach Calabrien.

Dann fragt sie ihn zu Sasnofskij, den russischen Musiker und Komponisten der im 18. Jahrhundert in Italien gelebt hat und über den Gortschakow forscht, er ist der eigentliche Grund seines Italienaufenthalts. Er sei aus Heimweh nach Russland in die Leibeigenschaft zurückgekehrt und habe sich dann das Leben genommen. Er gibt ihr einen Brief des Musikers, dessen Original in Bologna aufbewahrt wird. Sie solle ihn lesen, dann werde sie verstehen. Mittlerweile ist die Besitzerin des kleinen Hotels erschienen. Sie zeigt ihnen ihre Zimmer und glaubt verstanden zu haben, dass der Russe verliebt ist. Der wiederum wird von Erinnerungen an seine nun lächelnde dunkelhaarige Frau heimgesucht. Ein Mädchen rennt mit dem Schäferhund von dem heimatlichen Haus aus auf eine große Wasserlache zu und wirft etwas hinein, was der Hund apportieren soll. Damit endet der Erinnerungsfetzen abrupt.

Andrej inspiziert zögernd sein völlig finsteres Zimmer. Neben dem altertümlichen Bett, das an seinen Enden ein mit kunstvollen Windungen verziertes Gestell zeigt, was ein vertrauter Anblick aus Tarkowskij-Filmen ist, findet sich ein Lichtschalter, der kaltes, aber unstetes Neonlicht spendet. Rechter Hand öffnet sich die Rückwand in ein Badezimmer, linker Hand in eine türähnliche Nische mit einem großen Fenster, das von Läden geschlossen wird. Wie sich herausstellt, geht dieses Fenster nicht ins Freie, sondern auf einen düsteren Lichtschacht. Im Badezimmer trinkt Andrej etwas Wasser, nimmt seine Medizin zu sich. Andrej findet auf einem Sims eine Bibel, die als Lesezeichen einen mit Wolle oder Haaren gefüllten Kamm hat: eines der Rätsel am Rande. Nach meinem Eindruck war Tarkowskij nicht nur geheimnisvoll, sondern auch ein Geheimniskrämer. Etwas, das er mit meinem anderen Spezi Rembrandt gemeinsam hat. Bei Tarkowskij mochte auch die Erfahrung seines Jahres in der sibirischen Taiga als junger Mann eine Rolle spielen: Geräusche im Wald, für die man keine Erklärung findet. Gortschakow lauscht, eine Münze fällt im Dunkel zu Boden, um rollend zur Ruhe zu kommen. Dieses Motiv hat Tarkowskij in seinem letzten Film Opfer in größerer Deutlichkeit ausformuliert. Wer möchte, mag an das Bibelwort von der verlorenen Münze denken (Lk 15, 8-10).

Die Tür vom Flur zu seinem Raum öffnet sich wie von Geisterhand und davor steht Eugenia. Ohne dass sie angeklopft hätte, hat er ihre Anwesenheit wahrgenommen. Sie hält das schmale Bändchen mit den Gedichten Arsenij Tarkowskijs in den Händen. Jetzt sehen wir sie im Profil vom Flur aus, während Andrej das Licht im Flur anschaltet. Er kehrt zurück zur Tür. Sie fragt ihn, ob sie ein Telefonat nach Moskau anmelden soll, er habe seit zwei Tagen nicht mit seiner Frau gesprochen, eine Tatsache, die sie irgendwie bekümmert oder jedenfalls bemerkenswert zu finden scheint. Bei all dem schlägt sie sich mit dem Buch unablässig und leicht ungeduldig in den Schoß. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Andrej nimmt ihr das Buch ab und schließt wortlos, wieder nicht sehr gentlemanlike, die Tür hinter sich.

Im Flur auf sich allein gestellt, hat sie einen spielerischen Einfall: sie kniet (!) wie beim Start eines Sprints und rennt bei „Los“ los, nur um nach wenigen Schritten wegen ihrer Stöckelschuhe zu Fall zu kommen. Da muss sie selbst über sich lachen. Tarkowskij hat hier pantomimisch wortlos, seine Zweifel an bestimmten Aspekten der feministischen Ideologie zum Ausdruck gebracht. Die Anspielung auf den Sport erinnert uns daran, dass es sehr schnelle Frauen gibt, die schnellsten Männer aber schneller sind. Schon in Tarkowskijs frühem Film Iwans Kindheit sehen wir eine Art Wettlauf am Strand zwischen Iwan und seiner kleinen Schwester, bei dem er sie weit hinter sich lässt. Wenn wir pflichtschuldigst Fußballerinnen, Boxerinnen und Gewichtheberinnen bewundern, müssen wir uns doch eingestehen, dass aufs Ganze gesehen bei dieser Ordnung der Dinge die Frauen immer im zweiten Glied bleiben. Haben Frauen nichts Spezifisches, bei dem sie Männern überlegen sind? Weil im Hintergrund dieser Szene die Treppe zu sehen ist, die Eugenia dann hinaufgeht, legt sich der Verdacht nahe, dass Tarkowskij seine Aussage über den Sport hinaus ausdehnen möchte und es generell um Karrierestreben geht: ein Stich ins Wespennest.

Schnitt, und wir sehen wie Andrej das Buch in eine Ecke des Raumes schleudert. Diesen Schleudergestus haben wir in der Erinnerungs- oder Tagtraumsequenz gesehen. Das Mädchen schleuderte etwas offenbar in der Absicht, dass der Hund es zurückbringe…

Er setzt sich auf den Bettrand, um seine Schuhe abzustreifen und sich hinzulegen. Bezeichnenderweise legt er seinen schweren Mantel nicht ab, im ganzen Film legt er diesen Mantel mit dem zeitlosen Fischgrätmuster nicht ab, wohl weil er sich nirgendwo hier im Westen wirklich zuhause fühlt. (Jemand hat behauptet, dass er im Dunkeln den Mantel ablegt – nach meinem Eindruck ist das schlechterdings nicht auszumachen.)

Tarkowskij hat in Nostalghia die Wassermusik, bzw. die minimalistische Tropfenmusik aus dem Vorgängerfilm Stalker mitgebracht, die dort in der Szene vor dem geheimnisvollen Raum der Zone einen ersten Höhepunkt feierte. Jetzt beginnt es in Strömen zu regnen und hinter dem mit Läden geschlossenen Fenster scheinen sich dünne Schollen von Schmutz zu lösen, die nieder gleiten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch hier alles einen tieferen Sinn haben soll. Auffällig ist die Gegenüberstellung des verdunkelten Fensters mit dem strömenden Regen und dem hell erleuchteten Badezimmer mit dem modernen Design des Spiegels, einer kreisrunden, weißen Plastikfassung. Als Andrej den Wasserhahn schloss, hörte man das Gluckern stagnierenden Wassers. Jetzt sehen wir im Badezimmer die wabernden Lichtreflexe des Regens.

Wie angedeutet steht zu befürchten, dass hier eine Aussage über Russland und den Westen getroffen werden soll. Der tschechische Jesuit Tomaš Špidlík hat darüber geschrieben, dass viele russische Denker, nachdem sie sich anfänglich für westliche Philosophien begeisterten, später häufig deren Leblosigkeit beklagten5. Nachweislich war Tarkowskij an den deutschen Romantikern interessiert. In Joseph von Eichendorffs Marmorbild hat der Kreis eine negativ-magische, lähmende Bedeutung. Wer weiß, vielleicht hat der kreisrunde Spiegel hier auch nichts Gutes zu bedeuten.

Der strömende Regen fließt im Dunkeln als Wasserlache in den Raum und mit ihm taucht aus dem Badezimmer ein Schäferhund auf, der sich vor das Bett legt, wobei man hört wie ein Gefäß umfällt. Einen Schäferhund kennen wir schon aus den Heimaterinnerungen, wo er etwas aus einer großen Lache apportieren soll.

Während des strömenden Regens nähert sich die Kamera im Dunkel dem Kopf Gortschakows von vorn. Während der Regen abebbt intensiviert sich das Licht auf dessen Stirn, die Stirnadern treten hervor und mit dem pulsierenden Geräusch der Tropfen, das vom Regen übrig geblieben ist, vermittelt sich uns ein Gefühl von Verletzlichkeit, von bedrohtem Leben.

Als Andrej auf dem Bett liegt, träumt er von seiner Frau, die sich im Profil langsam vor einer wie zerfurchten Wand auf die rechts stehende Eugenia zubewegt. Die beiden Frauen liebkosen einander, umarmen ihre Häupter, beide sind zart bewegt, Eugenia zu Tränen. Dann sehen wir Eugenias phantastische Haare wie ein Goldregen sich auf Andrej herabsenken.

Auf dem Bett, von dem sich Andrej erhoben hat, liegt hell erleuchtet in dem anderweitig sich nun völlig verfinsternden Raum eine deutlich Hochschwangere, anscheinend Andrejs Frau. Diese Traumvision gibt der Sehnsucht nach Einheit Ausdruck, eines der Leitmotive dieses Films. Da es zwei Frauen sind, die sich umarmen, Russland und der Westen, kann es nur im übertragenen Sinn um die Leibesfrucht ihrer Begegnung gehen. Sie steht wie gesagt für die Sehnsucht nach Einheit.

Domenico und die Therme der hl. Katharina von Siena

Dann wird Andrej durch das Klopfen Eugenias geweckt: in einer halben Stunde gibt es Essen. Man wüsste zu gerne, ob Mittag- oder Abendessen. Was die Tageszeiten betrifft, haben wir völlig die Orientierung verloren. Wenig später im Film an der antiken Therme von Bagno Vignoni erfahren wir, dass es sieben Uhr morgens ist. Die heißen Dämpfe, die aus dem Bad aufsteigen, umnebeln die Badegäste, von denen einer einen Borsalino trägt, eine Dame einen Turban und zu allem Überfluss wird im Wasser auch geraucht. Es ist ein großartiger Ort hatte Eugenia angekündigt. Sogar Santa Caterina sei hier gewesen. In der Tat gibt es nicht viele Länder in unserem alten Europa, die mit solchen Antiquitäten aufwarten können, ein Thermalbad, das schon den Etruskern bekannt war und in dem im Mittelalter der Legende nach der jugendlichen Caterina die religiösen Flausen vergehen sollten, so sei es der Wille der Mutter gewesen. Tarkowskij hat die Örtlichkeit nonchalant zu einer mild absurden Inszenierung genutzt. Die Badegäste fragen Eugenia, was es mit ihrem Begleiter auf sich hat.

Er wandelt auf den Spuren des russischen Komponisten Sasnofskij, der Ende des 18. Jahrhunderts auch nach Bagno Vignoni kam. Gefällt dem Russen Italien? Ja, sogar zu sehr. Obwohl…

Auftritt Domenico, ein älterer Mann, der uns in der Konversation der Badenden vorgestellt wird. Er wird von Erland Josephson dargestellt, einem schwedisch-jüdischen Schauspieler, der mehrfach Hauptrollen in Ingmar Bergmans Filmen gespielt hat. Er trottet mit seinem Schäferhund am Becken entlang und führt Selbstgespräche, oder spricht doch eher zu seinem Hund, den wir nicht sehen, sondern nur leise hecheln hören. Mit seinem dunklen Mantel und vor allem der dunklen Mütze erinnert er etwas an einen orthodoxen Mönch. Er kommentiert die Gespräche der Badenden und sagt einerseits, dass man zuhören solle, weil man immer etwas lernen könne. Wenig später aber bemerkt er bekümmert: Hörst du worüber sie reden? Was sie interessiert? Man muss über wichtige Themen reden! Jemand fragt den glatzköpfigen General: Was ist das für eine Musik, die sie uns jeden Morgen hören lassen. Chinesische Musik, tausendmal besser als Verdi, keine sentimentalen Klagen, sondern die Stimme der Natur, die Stimme Gottes. Lassen Sie bitte Verdi da raus! Eine besondere Pointe ist, dass einige Akkorde aus Verdis Requiem in diesen Film hinein gewebt wurden. Nun war Tarkowskij nicht so einfältig, dass er diese Konversation einfach rundweg als eitles Geschwätz abqualifizierte. Diese Aussage scheint viel mehr zu denen zu gehören, denen man sorgfältig zuhören soll und sich in diesem Fall mit Tarkowskijs eigenen Überzeugungen berührten. Über Domenico berichten die Badenden, er habe sich und seine Familie für sieben Jahre eingesperrt, in Erwartung des nahen Weltendes. Über die Gründe für Domenicos Handlung gehen die Meinungen auseinander. Einer meint, er habe aus Eifersucht gehandelt, immer schon habe er seine Frau mit dieser Eifersucht verfolgt. Die Frau spricht von einer religiösen Krise. Der Mann ist verrückt und basta, bescheidet der glatzköpfige General, dass sehe man doch mit bloßem Auge, „a occhio nudo“ von einem Glatzkopf gesagt entbehrt nicht einer gewissen Komik. Nein, er hatte einfach nur Angst, meint ein anderer. Wovor denn? Na, vor allem, ist doch klar. Domenico fragt seinen Hund: Weißt du warum sie da in dem Wasser sind? Sie wollen ewig leben! Die wohlig einschläfernde Wirkung des heißen Wassers und die Benebelung machen die Begrenztheit der Existenz vergessen. Andererseits soll schon mal jemand eingeschlafen und ertrunken sein. Domenico spricht Eugenia an: Ich rauche nicht, haben Sie eine Zigarette für mich? Mit solchen absurden Aussagen thematisiert Tarkowskij sein eigenes Problem. Er hat seit seiner Jugend stark geraucht und ist schließlich auch an Lungenkrebs gestorben. Dann kommt Domenico auf Caterina von Siena zu sprechen: Vergiss nie, was er zu ihr gesagt hat. Wer ist er? fragt Eugenia. Domenico weist energisch zum Himmel. Und sie? Die heilige Caterina, ruft Domenico aus, wie jemand, der die Geduld verliert. „Du bist die, die nicht ist. Ich bin der, der ist.“ Das ist hohe Mystik, und die Aussage erhält Einprägsamkeit, weil Domenico sie macht als er als dunkle Silhouette vor den im Nebel auftauchenden und verschwindenden Badenden erscheint. Von den Badenden ruft prompt einer in spontanem Spott: „Bravo Domenico!“

Caterina war Dominikanerin, und dass es Domenico ist, der von ihr spricht, beweist einmal mehr, dass Tarkowskij Beziehungsreichtum liebte. Gortschakow zeigt sich beeindruckt von Domenico: Er ist nicht verrückt, er hat Glauben. Während wir vorher Domenico vor der Nebelkulisse des althehrwürdigen Bades nach links im Profil sahen, sehen wir jetzt Gortschakow an Eugenia vorbei nach rechts gehen im Profil. Er spricht sehr bestimmt, wenn auch nicht akzentfrei. Er bezweifelt, dass Domenico verrückt ist. Er habe Glauben. Eugenia hilft ihm etwas maliziös mit dem russischen Wort. Die sogenannten Verrückten stören uns, sie sind sehr allein, aber sie sind näher an der Wahrheit. Eugenia klärt ihn über eine Besonderheit der italienischen Gesundheitspolitik auf. Die psychiatrischen Abteilungen waren einige Jahre zuvor aufgelöst worden. So wurde das Verhältnis von psychisch Kranken und sogenannten Gesunden vielleicht durch diese aktuelle Konstellation zu einem zentralen Thema im Film. Gortschakow will unbedingt mit Domenico reden. Zurück im Hotel hält Gortschakow die vorübergehende Eugenia an: sie sei so schön in diesem Licht. Sie ist offenkundig geschmeichelt. Als Gortschakow sagt, er beginne zu verstehen, verrät ihr Minenspiel, dass sie Morgenluft wittert. Nur als er sie fragt, warum Domenico seine Familie eingesperrt habe, schläft ihr das Gesicht ein: Was weiß denn ich. Zugleich beginnt im Hintergrund ein Telefon zu klingeln, der Stundenschlag einer Standuhr stimmt im gleichen Rhythmus ein. Was das zu bedeuten hat? Eine Preisfrage an die werte Leserschaft: ein Anruf von irgendwem gewinnt zeitliche Dringlichkeit. Wahrscheinlich eine Frage, die ohne Antwort bleiben soll.

Die nächste Szene findet vor dem Haus Domenicos statt, einem lang gestreckten wunderbaren altem Gebäude, wie man sie in Italien finden kann, aber wahrscheinlich auch nur nach längerem Suchen: vielleicht ein ehemaliges Klostergebäude? Zwei Türen, vielleicht zehn Meter auseinander mit halbrunden oberen Abschlüssen sind die Orte der Handlung. An der Wand eine verblasste Sonnenuhr. Gortschakow und Eugenia sind von einem Mann zur rechten Tür geleitet worden. Domenico sitzt vor der linken Tür auf einem Fahrrad, das er als eine Art Hometrainer benutzt. Aus Tarkowskijs Aufzeichnungen geht hervor, dass er die Szene mit dem Fahrrad von Anfang an im Sinn hatte. Was sie zu bedeuten hat, ist etwas rätselhaft. Die Szene kann als weiteres Indiz dafür genommen werden, dass Domenico eine Schraube locker hat. Vladimir Vysotskij, den Tarkowskij früh kannte, hat ein Lied über Morgengymnastik geschrieben, das in wildem Spott über die, die ewig leben wollten, unter anderem davon handelt, dass man im Lauf auf der Stelle tritt. Das Radfahren ohne sich von der Stelle zu bewegen stimmt als Kontrast mit der, wie Eugenia berichtete, von Domenico geplanten Aktion zusammen, das Thermalbad mit einer angezündeten Kerze zu durchqueren. Denn in die Existenz kann man sich nicht häuslich einrichten, als wolle man ewig leben, wie Domenico es ausdrückt, also auf der Stelle treten, sondern sie muss durchschritten werden, hat einen Anfang und ein Ende. Das, was Domenico vorschwebt, nennt man in der zeitgenössischen Kunst eine Performance. Nur wird sie ihm nicht erlaubt, weil er als verrückt gilt. Eugenia versucht, für Gortschakow ein Gespräch mit Domenico anzubahnen. Mehrmals legt sie mit großen Schritten die Distanz zwischen den beiden Türen zurück, kann aber nichts erreichen. Sie habe gehört, Domenico habe eine interessante Erfahrung gemacht. Ja, auch ich habe davon in den Zeitungen gelesen, lautet dessen dubiose Antwort. Nach zwei gescheiterten Versuchen, mit Domenico ins Gespräch zu kommen, verabschiedet sie sich wutentbrannt von Gortschakow, sie betrachte die Reise als beendet und kehre nach Rom zurück. Mit vereinzeltem Donnergrollen kündigt sich ein Unwetter an.

Gortschakow sucht nun selbst das Gespräch mit dem Radfahrer. Er verstehe, dass er sich und seine Familie eingeschlossen habe. Domenico geht in das Haus. Gortschakow folgt ihm. Als er die Tür öffnet, liegt da eine sonnenbeglänzte Flusslandschaft. Wassertropfen und Vogelstimmen zwitschern. Hinter dem Fluss ragen Berge auf. Jetzt hören wir den Klang einer Kreissäge. Dieser Klang wird immer wiederkehren, er ist sozusagen ein Leitmotiv, ein memento mori: rechteckige Bretter, die durchsägt werden. Das spielt auf das rechteckige Becken und vor allem seine Begrenzung an. Domenico ruft ihn zu sich herein und es entwickelt sich eine Art von Gespräch, zu dem Gortschakow auch wegen seiner begrenzten Sprachkenntnisse kaum mehr als ein „Va bene“ beisteuert. Das macht Domenico nervös: er bläst die gerade angezündete Kerze aus: „Non va bene, va male!“ Er spielt eine Passage aus Beethovens 9. Symphonie ein, bis kurz vor der Stelle, als die Ode an die Freude erneut anhebt. Die Kamera inspiziert derweil Domenicos Inneneinrichtung: getrocknete Pflanzen, Bilder, die man nicht genau erkennen kann. Dann taucht aus dem Dunkel eine versehrte, wie tot wirkende Puppe auf. Ein mir befreundeter Arzt bemerkte dazu, dass dieses Bild eine Frau, die abgetrieben hat, schockieren müsse. Domenico verhält sich geheimnisvoll und feierlich. Er lässt zwei Tropfen Olivenöl in seine Hand fallen. „Ein Tropfen und ein Tropfen bilden einen größeren Tropfen, nicht zwei Tropfen.“ Es heißt von ihm, er sei Mathematiker und doch hat er groß an eine der Innenwände seines Hauses die Formel geschrieben: 1 +1 =1, Ausdruck der Sehnsucht nach Einheit, wie sie schon in der Traumsequenz mit der Umarmung der beiden Frauen aufgetaucht ist. In einer eher liturgischen Geste reicht er Gortschakow Brot und Wein, was freilich auch an die in slawischen Ländern übliche rituelle Geste der Gastfreundschaft erinnert, einem Ankömmling Brot und Salz zu reichen. Beim Kauen des Brotes schaut Domenico in einen Spiegel, sein Kauen verlangsamt sich und während er sich aus den Augenwinkeln beobachtet scheint er zusehends erschrocken. Nun hat Regen eingesetzt. Domenico trägt Andrej auf, die Aktion mit der Kerze zu übernehmen, wobei man freilich nicht den Eindruck hat, dass er sich direkt an ihn wendet, sondern wir sehen ihn von hinten vor dem von Gardinen und tropfnassem grünem Blattwerk verhangenen Fenster und er spricht nicht in Andrejs Richtung, sondern vor sich hin wie im Gebet. In seine weitläufige Behausung regnet es rein. Wir sehen einige leere Flaschen aufgestellt und den Regen leuchtend darauf und daneben niedergehen. „Wir müssen größere Ideen haben“, sagt Domenico. Das ist die Interpretation des Bildes: die Öffnung der Flaschen ist so klein, dass nur sehr wenig Wasser in sie hineingelangt. So sind einige der von Tarkowskij gefundenen Bilder tiefsinnig, während andere ein dunkles, melancholisches, dem Depressiven nahes Lebensgefühl widerspiegeln, das sich stets als bedroht, gefährdet erlebt. Der erschrockene Blick Domenicos in den Spiegel, der an gewisse, krisenhafte Selbstporträts van Goghs erinnert, ist von dieser Art, wie auch die an der Stirn hervortretenden Adern des schlafenden Gortschakow.

Domenico erläutert, was er mit größeren Ideen meint. Er sei Egoist gewesen, denn er habe nur seine Familie retten wollen, man müsse aber alle retten. Er fragt Andrej nach seiner Familie, ob seine Frau schön sei. Wie die Madonna del Parto nur ganz schwarz antwortet Andrej lachend, hat dabei die Hände am regennassen Fenster benetzt und greift mit den nassen Händen Domenico an die Eingeweide. Eine beiläufige, gleichwohl ungewöhnlich „nahe gehende“ Geste nonverbaler, suggestiver Kommunikation, über die, wer mag, sich den Kopf zerbrechen kann. Ich tippe auf die große, dunkle, feuchte Mutter, die bei Dostojewskij in den Dämonen auftaucht: eine irrationale Gleichsetzung der Muttergottes mit der Mutter Erde, wie sie die geistig schlichte Marya Lebyadkina wiedergibt. Mittlerweile hat der Taxifahrer gerufen, der Gortschakow zurückbringen soll. Domenico verkündet geheimnisvoll, dass sie in Rom etwas Grandioses planen, dann schaut er sich suchend nach seinem Hund Zoe um, weil er Angst hat und beschwört ihn, man dürfe nicht immer an die gleiche Geschichte denken.

Das „Ende der Welt“

Nun tauchen Erinnerungsbilder in Schwarzweiß von der Befreiung aus der siebenjährigen selbstgewählten Gefangenschaft auf. Wir sehen einen tief bekümmerten Domenico mit seinem Hund auf irgendeiner Treppe in die Tiefe steigen. Aus völligem Dunkel taucht das blonde Köpfchen eines Kindes auf. Als eine Tür geöffnet wird sieht man, dass es den Kopf auf die Schulter seiner Mutter gelegt hat. Im nächsten Bild sehen wir Domenico, diesmal ohne Mütze, sondern mit Locken, der zwei Kinderkoffer aus dem Verlies retten will, die ein weiß bekittelter Angestellter des Gesundheitswesens ihm abzunehmen versucht. Die Mutter umarmt wild schluchzend die gestiefelten Beine eines Polizeibeamten. Eine umgekippte Milchflasche entleert sich stoßweise. Dieses Motiv äußerster Unterwerfung, das Umklammern und Küssen der Füße, kennen wir von Ikonen. Vor einem Vertreter der öffentlichen Ordnung irritiert es etwas: ein Polizist, der als Heiland erscheint, der den Lazarus aus dem Grab holt. Man darf nicht vergessen, dass Tarkowskij in der Sowjetunion durch die Schule einer dialektischen Ästhetik gegangen ist, so sind manche Bilder dialektisch konzipiert, in sich einen Widerspruch enthaltend. Das Weiß der sich entleerenden Milchflasche ist ein Bild für den vergeblichen Versuch, sich durch Verschluss rein zu erhalten. Dann sehen wir Domenico, wie er immer noch mit den zwei Köfferchen in den Händen seinem kleinen Sohn über die Stufen einer großen Freiteppe folgt, die zu der an den Platz grenzenden Kirche hinaufführt. Vor der Kirchentür steht ein Pfarrer im Talar und spricht Domenico an. Der lädt die Köfferchen bei ihm ab. Auch wenn man diese Geste nicht wirklich versteht, beschleicht einen doch das dunkle Gefühl, dass die Kirche hier keine ganz glückliche Figur abgibt. Warum überlässt ihm aber Domenico die Kinderkoffer, die er dem Angestellten des Gesundheitswesens nicht geben wollte?

Nicht nur weil diese Szene in Zeitlupe erscheint, spürt man den Widerspruch zu der Beschreibung, die die Badenden in Bagno Vignoni von dieser Szene gegeben haben. Sie behaupteten, Domenico habe seinen Sohn gejagt und alle hätten befürchtet, er wolle ihn umbringen. Hier sehen wir, dass er ausgesprochen vorsichtig die Stufen hinter seinem Sohn herabsteigt. Schnitt, die nächste Szene ist in Farbe: wir sehen in der Ferne eine wunderbare Stadt auf dem Berge, wie sie in Italien nicht ganz selten sind. Im Vordergrund, durch eine Schlucht von der Stadt getrennt, das regenbeglänzte Stück einer Straße, auf dem ein Auto vorbeifährt. Der davor sitzende Sohn wendet sich um und blickt zu seinem Vater auf: „Papa, ist das das Ende der Welt?“ Der Kontrast zu der Aufgeregtheit der Befreiungsszene, die an die angekündigte Reinigung durch Katastrophen in der Endzeit gemahnt, könnte größer nicht sein: ein Auto taucht auf und verschwindet. Ob es je die Verheißung der Stadt auf dem Berge im Hintergrund erreichen wird, bleibt ungewiss. So ist das individuelle „Ende der Welt“ jedes Einzelnen, und das soll die Performance Art der durch das Becken getragenen Kerze in Erinnerung bringen.

Vor dem „Haus der Gefangenschaft“ verabschieden sich Domenico und Andrej und wir sehen aus einiger Entfernung wie sie sich umarmen, was beweist, dass sie sich als Freunde gefunden haben. Dann wird Andrej von seinem Taxi bescheidener Dimensionen, einem kleinen weißen Fiat fortgefahren. Es folgt noch einmal eine Rückblende: der Augenblick, als das Versteck Domenicos und seiner Familie entdeckt wurde und die Carabinieri anrückten. Zwei große Kinder kommentieren, dass sie schon immer geahnt haben, dass in diesem Haus jemand ist, worauf ein Esel schreit, was vielleicht bedeuten soll, dass sie etwas besonders Dummes gesagt haben.

Eugenia reicht es

Als Nächstes sehen wir Andrej stürmischen Schritts in das Hotel zurückkehren. Beim Durchqueren einer zweiflügeligen Schwingtür bleibt er mit dem Ärmel seines Mantels an einem der Griffe hängen. Früher hat er in seinem Zimmer den Lichtschalter zum Badezimmer auf der falschen Seite der Tür gesucht. Missgeschicke passieren, aber in so kleiner Münze nie in amerikanischen Filmen, und das ist vermutlich der Grund dafür, dass Tarkowskij meinte, diesen Tribut an den Realismus zahlen zu sollen, auch wenn ansonsten Realismus für ihn keine Priorität war.

Als er in sein Zimmer kommt sitzt Eugenia auf seinem Bett und föhnt sich die Haare. Der Wasser in ihrer Dusche sei ausgegangen, sie hoffe, dass er sie deswegen nicht umbringen werde. Wer in den 70er oder 80er Jahren Italien bereist hat, wird zugeben, dass das ein realistisches Szenario ist. Er wundert sich, dass sie noch nicht abgereist ist. Sie glaubt ihm nicht, dass er darüber erfreut ist. Er zeigt ihr die Kerze, die Domenico ihm gegeben hat, sie schaltet den Föhn, den sie zuvor abgeschaltet hat, mit höherer Stufe wieder ein und fährt aus der Haut. Sie findet, dass er vor allem Angst hat, voller Komplexe ist und sie wird dann grundsätzlich: Ihr redet von Freiheit, aber ihr könnt mit ihr gar nichts anfangen. Es ist zu vermuten, dass sie von der sexuellen Befreiung redet, wobei angemerkt werden sollte, dass diese Befreiung auch zu einer Art Sklaverei führen kann. Sie macht ihrer Verzweiflung Luft, dass sie in diesem Land offenbar nicht die richtigen Männer kennenlernt. In Moskau sei das anders gewesen. Sie geht zu dem Fenster, das sich in den Lichtschacht öffnet, fuchtelt mit einer Drahtbürste. Sie entblößt ihre in der Tat wunderschöne Brust: Wollt ihr das? Oh nein, du natürlich nicht. Du bist so eine Art Heiliger, der sich für Madonnen interessiert. Außerdem kleide er sich miserabel. Ob er wisse, was ein langweiliger Typ sei? Jemand mit dem man lieber schläft, als ihm erklären zu müssen, warum man das nicht will. Andrej versucht sie zur Vernunft zu bringen: Eugenia, was redest du? Sie fleht ihn an: ich habe mich in einer sehr peinlichen Situation befunden. Sie geht durch den Raum, schleudert die Bürste von sich, irgendetwas zerbricht. Als sie in der Tür des Badezimmers steht, fällt eine Besonderheit ihrer aktuellen Garderobe auf: über einem ziemlich kurzen Rock trägt sie einen langen aber transparenten Seidenrock, was seinerzeit wahrscheinlich als raffiniert galt. Tarkowskij sah darin vermutlich wenig würdige Locksignale.

Dann erzählt sie die Schreckensvision, die sie hatte in der Nacht, nachdem sie ihn kennengelernt hatte: ein Wurm mit vielen klebrigen Beinchen sei ihr auf den Kopf gefallen. Sie haben ihn zu Boden geschleudert und versucht zu zertreten, was ihr aber nicht gelungen sei. Er sei unter den Schrank gekrochen. Seither fühle sie immer den Zwang ihr Haar zu berühren6. Die Vision eines Wurmes scheint eine Art Projektion zu sein. (Hier sind Psychologen gefragt.) Zum Glück sei es zwischen ihnen nicht zu Intimitäten gekommen, allein beim Gedanken daran, müsse sie sich übergeben. (Während ihrer Tirade hört man übrigens beständig das Waschbecken gluckern.) Er sagt auf russisch, dass sie übergeschnappt sei und verlässt das Zimmer. Sie folgt ihm und behauptet, er sei ein Schwein wie alle anderen und hätte um ein Haar seine Frau betrogen. Sie tritt nah an ihn heran: Heuchler! Als sie sich abwendet, um zu gehen, schlägt er ihr auf den Allerwertesten. Sofort hat er Nasenbluten, was mich an einen bekannten Ausspruch Mahatma Gandhis erinnert: „Du und ich – wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.“

Bedauerlicherweise hat bislang niemand es unternommen, diesen Ausbruch Eugenias genauer zu untersuchen. Kommentare sind bislang nicht weiter gediehen als zu behaupten, Eugenia sei in Andrej verliebt und enttäuscht, weil von ihm keine Antwort kommt. Ich bin mir da nicht so sicher. Mir scheint auch möglich, dass sie eine Art Trophäenjägerin ist, die sich gerne die Skalps mehr oder minder interessanter Männer an den Gürtel hängt. Ihre Wut hätte dann mehr mit verletzter Eitelkeit zu tun. Man glaubt gerne, dass sie bislang bei ihren Beutezügen erfolgreich war. Deshalb ist sie so aufgebracht über Andrej, der nicht ganz bei der Sache ist.

Es gibt aufschlussreiche Dokumentaraufnahmen von den Dreharbeiten zu dieser Szene, in denen Tarkowskij mit großem Nachdruck von der Schauspielerin fordert, sie dürfe nicht als Opfer erscheinen, auf keinen Fall dürfe sie in Tränen ausbrechen.

Der glatzköpfige General mit einem Enkelkind auf dem Arm war im Flur Zeuge der Tätlichkeit geworden und hatte sich fluchtartig ins obere Stockwerk verzogen mit der Ankündigung, dass sie nun Musik hören zu wollen. Die befremdlichen Klänge des chinesischen Gesangs tragen zu einer heimatlosen Atmosphäre bei. Eine schlanke ältere Dame mit Cockerspaniel und extravagantem Schlapphut, die schon einmal als Hotelgast begegnete, trippelt vorbei und schwört, den chinesischen Gesang kommentierend, sie werde sich nicht aus dem Hotel ekeln lassen. Eine der seltenen humoristischen Einlagen im Film. Andrej hat sich, um sein Nasenbluten zu stoppen auf eine Holzbank im Flur ausgestreckt – ein sprechendes Bild seiner Ortlosigkeit.

Eugenia taucht wieder auf, mit zwei Reisetaschen, das Haar in einer Wollmütze versteckt und offenkundig bereit zur Abreise. Zuvor aber liest sie den Brief des russischen Komponisten, den ihr Andrej anfangs zugesteckt hatte mit der Empfehlung: dann würde sie verstehen.

Dieser Brief ist in der Tat ein eindrucksvolles Stück Literatur. Sosnofskij schreibt einem Freund und schildert einen furchtbaren Traum. Er war von seinem Herrn beauftragt worden eine bei einer Aufführung im Freien mitzuwirken, zu der es gehörte, dass die Komparsen nackt und weiß bemalt als Statuen bewegungslos mit erhobenen Armen in der Kälte stehen mussten. Der Herr ging umher, um sich mit unbestechlichem Auge davon zu überzeugen, dass seine Anweisung befolgt wurde. Er fühlte, wie die Kälte in ihm aufstieg, wie die Kräfte nachließen als er aufwachte und feststellen musste, dass das kein Traum war, sondern die Realität seines Lebens. Man zögert, die äußerst beklemmende Atmosphäre dieses Traumes kafkaesk zu nennen. Nach dem Spiegel war Tarkowskij angetragen worden, einen Film über Kafka zu realisieren. Sein letzter Kommentar zum Thema Kafka findet sich in seinen Tagebüchern am 25. 9. 1976: „Kafka sagt mir nichts.“ Eher wäre ich versucht an Michel Foucault zu denken, dessen Surveiller et Punir 1975 herausgekommen ist. Eine polemische Schreckensvision, die heute kaum noch jemand für bare Münze nimmt, aber die Möglichkeit der totalen Überwachung ist mittlerweile nicht aus der Welt, ganz im Gegenteil. Im Zusammenhang mit Foucaults Analyse der Segregation der Geisteskranken mag sein Name Tarkowskij zu Ohren gekommen sein. Im Register der sorgfältig edierten italienischen Version von Tarkowskijs Tagebüchern taucht Foucaults Name nicht auf.

Tagträume und Selbstmitteilungen Andrej Gortschakows

Als Gortschakow im Dunkel auf der Bank liegt, folgt die ausgedehnteste Szene aus seiner russischen Heimat. Seine Frau richtet sich im Bett auf, weil sie ihn ihren Namen „Maria“ nennen gehört hat, wobei das Metallgestell ihres Bettes vor ihrem Kinn einen wunderschönen konkaven Schwung zeigt. Sie steht auf, geht zum Fenster, zieht eine Gardine zur Seite, eine dort sitzende Taube schlägt mit den Flügeln, sie geht zur Tür, löst die Verriegelung. Die Tür öffnet den Blick auf die uns schon bekannte Flusslandschaft. Der kleine, blonde Sohn wartet draußen mit dem Hund und ist in eine viel zu große Jacke gehüllt, die vielleicht seinem Vater gehört; die große Schwester kommt im Nachthemd und schützt sich mit einem gestrickten Umhang vor der Kälte; die Schwiegermutter, ebenfalls im Nachthemd mit einem schweren Mantel darüber, schließt sich an. In der Ferne steht das fortwährend grasende weiße Pferd. Der Schäferhund zieht unruhig am Boden schnüffelnd seine Kreise, was mit der leise scheppernd herüber klingenden Unterhaltungsmusik zusammenstimmt. Vielleicht ein Touristendampfer auf der Wolga oder einem anderen Fluss? Man hört die klagende Stimme eines wohl eher kaukasischen als russischen Sängers. Diese scheppernde Musik weckt bei mir Kindheitserinnerungen an Jahrmärkte, wo die von ferne herüberklingende Musik freudige Erwartungen hervorrief, die sich dann in der Nähe in Enttäuschungen verwandelten.

Sie stehen in der Morgendämmerung und scheinen auf etwas zu warten. In der langsamen Kamerabewegung erscheint die ganze Gruppe ein zweites Mal. Dann hört man ein Schiffshorn und die Sonne geht über dem Haus auf. Die Gesichter sind von schmerzlicher Sehnsucht gezeichnet. Sie scheinen die Rückkehr von Andrej zu erwarten und zugleich gewinnt man den Eindruck, dass auf eine Rückkunft im religiösen Sinne angespielt wird. Wenn es die Sonne ist, die aufgeht, dann richten sie ihre Blicke nach Osten. Es schien zumindest zu Dostojewskijs Zeiten sozusagen Teil von Russlands religiöser Folklore gewesen zu sein, dass die Wiederkunft Christi in Russland erwartet wurde. Das sind Dinge, die im Westen im Allgemeinen wenig bekannt sind. In seinem Buch Die versiegelte Zeit führt Tarkowskij ein Gespräch zwischen Stawrogin und Schatow aus Dostojewskijs Dämonen an, um zu zeigen, eine wie unstet flackernde Flamme der Glaube bei Dostojewskij ist: « „ ‚Ich möchte nur erfahren, ob Sie selbst an Gott glauben oder nicht.‘ Nikolaj Wsewolodowitsch blickte ihn streng an. ‚Ich glaube an Russland und seine Rechtgläubigkeit… Ich glaube an Christi Leib… Ich glaube, dass seine Wiederkunft in Russland stattfinden wird… Ich glaube‘ stammelte Schatow ganz außer sich.’Und an Gott? An Gott?‘ ‚Ich … Ich werde an Gott glauben.’“ Was ist dem noch hinzuzufügen? Auf geradezu geniale Weise wurde hier jener verwirrte Seelenzustand eingefangen, jene geistige Verarmung und Unzulänglichkeit, die immer mehr zum unverbrüchlichen Merkmal des modernen Menschen wird, den man als geistig impotent bezeichnen kann.7»

Übrigens hat Tarkowskij eine erste Skizze dieser Szene schon im September 1976 in seinen Tagebüchern aufgezeichnet: „Wir sind um elf Uhr dreißig nachts auf die Wiese gegangen und haben uns den Mond im Nebel angesehen (ich, Larissa, Anna Semjonowna und Olga). Es war ein unbeschreiblich schöner Anblick! Episode: Einige Menschen betrachten verzückt den Mond im Nebel. Sie stehen und schweigen. Sie bewegen sich hin und her. Entzücken in ihren Gesichtern. Alle tragen den gleichen Ausdruck in ihrem Antlitz. Es liegt fast Schmerz in ihren Augen.“ (15. September 1976)

Der weitere Verlauf des Films ist insofern etwas rätselhaft, weil Gortschakow noch einmal kurz auf der Bank im Hotel gezeigt wird, der zunächst in die Richtung des Korridors und der an dessen Ende stehenden Skulptur schaut und dann in unsere Richtung, und dann sehen wir einen Mamorengel unter lebhaft strömenden, klaren Wasser: ein Flügel in der Art des römischen Barocks der Schule Berninis. Sein Gesicht ist von Pflanzen überdeckt. Außerdem wird nur sein erhobener rechter Arm noch sichtbar. Man hört planschende Schritte in dem Bach und schmutziges Wasser wird von oben herangetragen. Man findet bei Tarkowskijs Polaroidaufnahmen einen ähnlichen Engel, dessen Kopf mit einem Handtuch verhüllt ist. Offenbar war ein Engel für ihn nur in teilweiser Entzogenheit akzeptabel. In einem der Erinnerungsfetzen sah Gortschakow einen Engel vor seiner russischen Izba, aber eben auch in einiger Undeutlichkeit. Das der Engel im Wasser liegt lässt das Bild sehr filmisch werden aufgrund der fluktuierenden Bewegung, was dem Wesen des Barock entgegen kommt, das sich auch in diesem Flügel und seiner potentiellen Dynamisierung zeigt. Außerdem bringt das trüb verschmutzte Wasser das Motiv der Reinheit und deren Verlust ins Spiel.

Wir sehen Gortschakow von hinten, der bis über die Knie tief im Wasser watet, das Buch mit den Gedichten von Arsenij Tarkowskij auf dem Rücken hält und sich einer verfallenen kleinen Kirche nähert, bei der nur der Eingang mit einem massiven Dreiecksgiebel ihre einstige Würde verrät. Er scheint ein Gedicht zu rezitieren, in Wahrheit hören wir Arsenij Tarkowskij, den Vater des Regisseurs im O-ton. Einerseits murmelt er, um dann aber seine Stimme zu pathetischem Donnern zu erheben. Er spricht selbstverständlich russisch und wir können den Inhalt des Gedichtes, nur den Untertiteln entnehmen. Es ist nicht zum ersten Mal, dass der Regisseur Gedichte seines Vaters in seine Filme integriert. In Spiegel (1976) waren es vier Gedichte und er konnte seinen Vater dafür gewinnen, sie teils selbst zu rezitieren. Auch in Stalker (1979) hat eines der Gedichte des Vaters einen wichtigen Part. Von Nostalghia ließe sich behaupten, dass der Film insgesamt wie ein modernes Gedicht komponiert ist, nur eben von monumentalen Dimensionen. Was Baudelaire „correspondances“ nannte, hieß bei Tarkowskij Korrelationen und spielt eine wichtige Rolle. So stellt sich auch die Frage, wie dieses Gedicht in den Film hinein verwoben ist. Das Gedicht beginnt:

Als Kind wurde ich krank

von Hunger und Angst

Ich ziehe Stücke der Haut von meinen Lippen

In meiner Erinnerung

lecke ich Spuren von Salz, von Frische

Ein Kind erfuhr Krankheit und zwar von Hunger und Angst, also keine ganz harmlosen Bedrohungen. Außerdem fällt das beständige Schwanken zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Dass von den Lippen, vom Geschmack von Salz und Frische die Rede ist, lässt an den kleinen Jungen denken, der zum Vater aufblickt und fragt: „Papa, ist das das Ende der Welt?“ Dieser Junge hat Herpes am Mundwinkel. Das Herpes zu einer Aussage werden kann, hat man schon im Spiegel gesehen. Das Mädchen, das von Tarkowskijs Stieftochter Olga gespielt wurde, hatte Herpes und das wurde in Beziehung gesetzt zu einem Kaminfeuer, was an das Bibelwort bei den Propheten denken lässt, wo mit einer glühenden Kohle die Lippen rein gemacht werden. Im weiteren wankt er voran und hat den Eindruck der Flöte des Rattenfängers zu folgen. Doch dann ertönen Trompeten, was wiederum an die Apokalypse und das Schiffshorn denken lässt, das ertönte, als über der russischen Heimat die Sonne aufging. Die Ambivalenz lockender Signale hat der Sohn geerbt: in seinem letzten Film Offret wird erst am Ende klar, dass die sirenenhaften Lockrufe der schwedischen Hirtinnen sammeln und nicht zerstreuen. Am Ende des Gedichtes taucht die Mutter auf, hoch oben fliegend, sie winkt und verschwindet, was herzzerreißend ist. Im Film findet sich ganz am Ende die federleichte Andeutung einer Mutterbeziehung und vor allem der finale Schriftzug, dass der Film der Mutter gewidmet ist, die schon im Oktober 1979 gestorben ist.

Mittlerweile sind wir im Inneren der verfallenen Kirche, was der Stimme des Dichters einen ganz anderen Hall gibt. In Maueröffnungen am Rande des Blickfeldes taucht huschend – fast wie ein Äffchen – eine Kindergestalt auf. Schwer zu sagen, was das auf der Ebene der Suggestionen leistet.

Es folgt ein filmisch bewegtes Stillleben: ein kleines Feuer vor den das Sonnenlicht reflektierenden

Wellen des Wassers, so dass Flammen und Lichtreflexe ineinander spielen. Ein Buch, wohl das der Gedichte, wird von Gortschakow daneben geworfen. Außerdem steht da eine Flasche Wodka mit einem Plastikbecher, was mich an eine erheiternde Passage aus Tarkowskijs Tagebüchern erinnert. Im Zusammenhang der Polemik gegen den Film Stalker kam es zu folgendem Wortwechsel: „ ‚Weshalb das Wort Wodka verwenden? Es ist zu russisch. Wodka ist ein Symbol für Russland.‘ Darauf ich: ‚Ein Symbol Russlands? Was reden Sie da, Boris Wladimirowitsch! Stehe Gott Ihnen bei…‘ Ist das nicht ein Idiot?“ (13. 4. 1979) Durch die Nachbarschaft zum Feuer bebt und schwankt der Becher, kippt um. Gortschakow gießt Wodka hinein und so gewinnt der Becher Standfestigkeit. Ich fragte meine oberschlesische Großmutter, die Bildhauerin Grete Tschaplowitz-Seifert, einmal, warum die Russen so viel trinken. Ihre Antwort überraschte mich: „Wahrscheinlich ist es das furchtbare Temperament.“ Ich hätte mir eine Antwort erwartet wie: Weil das Leben so traurig ist oder ähnliches. Tarkowskij hat das „furchtbare Temperament“ mit diesem Bild genial eingefangen: der Becher bebt in der Nähe des Feuers. Der Regisseur hatte für die Rolle Gortschakows ursprünglich seinen Lieblingsschauspieler Anatolij Solonizyn vorgesehen, doch erlag der, kurz bevor die Dreharbeiten begannen, einem Krebsleiden. An ihm bewunderte Tarkowskij unter anderem die „flackernden Hände“, eine Qualität, die Jankowskij nicht hatte, und die jetzt auf dem Umweg über den Plastikbecher dennoch indirekt vermittelt wurde. Gortschakow watet in das Wasser, das das Innere des Kirchleins erfüllt. Es sieht dort wie in einer wirklichen Sumpflandschaft aus. Er murmelt vor sich hin, dass er eine Jacke abholen muss, die er drei Jahre bei seinem Vater im Schrank hängen ließ. Er will nirgendwo hingehen, ist einfach nur mutlos. Dann entdeckt er ein kleines Mädchen, das hinter ihm auf einem erhöhten Mauersims sitzt, beleuchtet von wandernden kalten Lichtreflexen, deren Herkunft unklar ist.

Gortschakow ist schon schwer angetrunken und man mag sich wundern, warum der Regisseur hier so bereitwillig Superklischees bedient: ein volltrunkener Russe, der durch einen Sumpf wankt. Vielleicht weil Klischees oft ein Körnchen Wahrheit enthalten. Wenn man sich mit einer gewissen Schonungslosigkeit zu solchen Klischees bekennt, hat das möglicherweise auch etwas Befreiendes, vielleicht sogar der Kommunikation Förderliches.

Er spricht das Mädchen in seinem gebrochenen Italienisch an, das unter Alkoholeinfluss nicht besser wird: Du musst keine Angst haben vor mir, ich muss Angst haben vor dir. Alle schießen hier in Italien. Das spiegelt die Zeit der Brigate Rosse in Italien wieder, deren Terrorakte noch lebhaft in Erinnerung waren. In der Zwischenzeit hat Russland in den 90er Jahren eine Phase großer Gesetzlosigkeit und wilder Mafia-aktivitäten erlebt. Dann kommt Gortschakow auf eine Spezialität Italiens zu sprechen: die Schuhe, die so wichtig sind und die alle kaufen. Er hebt seinen Fuß aus dem Wasser: hier diese Schuhe sind zehn Jahre alt. Das ist nicht wichtig. Eine Szene, die ich humorig finde für alle, die bei Tarkowskij über fehlenden Humor klagen. Eine kritische Anmerkung aus der Perspektive der sozialistischen Planwirtschaft an den exzessiven Konsumangeboten des Kapitalismus.

Dann fragt er das Mädchen, ob es die großen Liebesgeschichten kenne: keine Küsse, nichts dergleichen, ganz rein. Die Gefühle, die nicht zum Ausdruck gebracht werden, vergisst man nicht. Hier ist manches rätselhaft. Da ist zum Einen die ablehnende Antwort auf die lateinische Extraversion Eugenias, die zu Beginn des Films lauthals verkündete, dass sie geweint habe, als sie die Madonna del Parto zum ersten Mal gesehen habe.- Aber die großen Liebesgeschichten wie etwa Anna Karenina habe ich nicht als so platonisch in Erinnerung wie es hier behauptet wird. Auch war Tarkowskij nach allem, was man weiß, nicht ein solcher Tugendbold, dass er diese Position mit Autorität hätte vertreten können. Allein, dass er die Sehnsucht nach Reinheit zum Ausdruck brachte, machte ihn im Westeuropa des ausgehenden 20. Jahrhundert zu einem Alien.

In den Worten Domenicos bei seiner Rede auf dem Campidoglio geht es um ein Festhalten an Idealen: „Jemand muss schreien, dass wir Pyramiden bauen werden, es ist unwichtig, wenn wir sie dann nicht bauen. Man muss den Wunsch danach wachhalten!“

Außerdem erzählt er dem Mädchen eine Art Witz auf russisch, weil ihm das leichter fällt. Ein Mann liegt in einer Sumpfpfütze. Ein anderer zerrt ihn unter Aufbietung all seiner Kräfte da raus. Dann liegen beide erschöpft am Rande dieses Sumpfes und der „Gerettete“ schimpft: „Du Idiot! Warum hast du das gemacht? Ich lebe da!“ Er war sehr beleidigt, schiebt Gortschakow nach. Zum ersten Mal sehen wir ihn ausgiebiger lachen. Von vorneherein war die Kommunikationssituation hier asymmetrisch: das kleine Mädchen konnte nicht verstehen, was ihr der Russe sagen wollte. Nun, da er russisch spricht, ist es ganz aus damit. Es geht um den Wunsch nach Mitteilung, den er anders nicht ausleben kann.

Er fragt sie: „Wie heißt du?“ „Angela.“ Davon ist er erbaut: „Angela! Brava! Bist du zufrieden?“ „Womit?“ „Mit dem Leben!“ „Mit dem Leben? Ja.“ Sie schlägt ein Bein über das andere. Er wiederholt: Brava! Im gleichen Moment löst sich in seinem Mund der Filter von der Zigarette. Mit kaum merklichen Suggestionen wird uns vermittelt, dass leider die Unschuld der kleinen Angela unterminiert ist. „La vita – Das Leben“ ist unter anderem auch ein Synonym für Prostitution im Italienischen. Das Ablösen des Zigarettenfilters ist ein Bild dafür, dass jemand versucht sich zu beruhigen, eben wie der Filter den Raucher hinsichtlich der Gefahr des Rauchens beschwichtigen soll. Der Name des Mädchens lässt an die im Wasser versunkene Engelsstatue am Eingang dieser Szene denken und die dunkle Schmutzwolke, die sie überzieht, daran, dass Zweideutigkeit und Verdorbenheit auch in die Welt der Kinder eindringen. Dass ist eine Kritik an den Errungenschaften der westlichen Zivilisation, die tiefer dringt als die von Gortschakow verbal geäußerte. Die Umweltverschmutzung gibt es auch als geistige.

Sie wirft ein Steinchen ins Wasser, was ein Zitat aus dem Stalker ist, als die drei Protagonisten in einer unvollendeten Trinität vor dem innersten Raum der Zone sitzen. Wir hören nun ein weiteres Gedicht Arsenij Tarkowskijs, aber nicht mit dessen Stimme, sondern von einem Sprecher in italienischer Übersetzung. Wiederum sehr rätselhaft, stellt es Anspielungen dar nicht zu Vorangegangenem im Film, sondern zum Finale. Wir kommen darauf zurück. Das Gedicht endet mit: „posthum als Feuer sich entzünden wie ein Wort.“ Wir sehen Andrej ausgestreckt am Rand des Wassers, neben seinem Haupt liegt das geöffnete Buch der Gedichte, das zu brennen begonnen hat. Die Flammen mischen sich wieder mit den Lichtreflexen der Sonne auf dem Wasser, die sich von rechts, also vom Kopf Andrejs nach links zu dem Buch bewegen und auch von oben nach unten, als hätten die Lichtreflexe das Buch entzündet. Es ist von Tarkowskijs besonderem Verhältnis zu den Elementen gesprochen worden, insbesondere zu Wasser und Feuer. Dass Feuer cinematographisch etwas hermacht, hat sich auch bei anderen Regisseuren herumgesprochen, aber kaum je lässt sich beim Umgang anderer Regisseure mit Feuer die meditative Dimension ausmachen, die sich bei Tarkowskij findet. Man muss sich einmal klar machen, was es heißt, dass er als junger Mann ein ganzes Jahr mit einer geologischen Equipe in der sibirischen Taiga war, d.h. über viele Monate war sein einziges „Kino“ das allabendliche Lagerfeuer.

Das nächste Bild zeigt eine eher enge (römische) Gasse mit Kopfsteinpflaster, die zu diesem Zeitpunkt menschenleer ist, wenn man von Andrej absieht. Zwar ist nicht Nacht, aber die Sonne glänzt durch Abwesenheit. Die Szene ist in dunkle Sepiatöne getaucht und es herrscht ein surrealer Grad der Verwahrlosung: das Pflaster ist übersät mit Stoff und Papierfetzen. Hinten in der Gasse erhebt sich mühsam Andrej und kommt mit langsamen Schritten nach vorn. Man hört nur seine Schritte und im Hintergrund das Leitmotiv, das „Memento mori“ der Kreissäge. An der Seite liegt eine Schrankschublade, aus der Textilien quellen. Dann geht er an einem Schrank vorbei, kehrt um und beginnt ein Selbstgespräch, in dem er sich die Erfahrung Domenicos zu eigen macht, die eigene Familie jahrelang eingesperrt zu haben. Wie konnte ich sie des Sonnenlichts berauben? Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Tarkowskij hier auf die Situation der Sowjetunion anspielt, die ihre Menschen nicht für sieben Jahre, sondern für sieben Jahrzehnte eingesperrt hat, um sie vor den verderblichen Einflüssen des Kapitalismus zu bewahren. Gortschakow tritt an den Schrank, ergreift die mit einem großen Spiegel versehene Schranktür, um sie langsam zu öffnen. Domenico, nicht mit seiner Mütze, sondern mit Locken erscheint als sein Spiegelbild. Was es mit dem Motiv des Schrankes auf sich hat, ist eine offene Frage: Als Eugenia in ihrem Traum den Wurm zertreten will, verschwindet der unter dem Schrank. Im Schrank beim Vater hängt seit drei Jahren eine Jacke, die Andrej abholen sollte. Und hier erscheint im Spiegel der Schranktür Domenico, nicht mit Mütze, sondern mit dem grauen Lockenkopf, den man auf den Erinnerungsbildern von der Befreiung aus der Isolation sieht. Vor der Öffnung der Schranktür sehen wir recht lange Andrej von hinten und er erinnert in dieser Aufnahme an einen Schrank, er wird also mit dem Schrank identifiziert. (Am Beginn von Stalker gab es ähnliche Aufnahmen.)

Andrej schließt die Schranktür rasch, er lehnt am Schrank. Damit schließt die Szene und geht unvermittelt zu einer langsam wandernden Aufnahme der Kirchenruine San Galgano über, einer Zisterzienserabtei, der im 18. Jahrhundert die Blechdächer zum Verkauf abgenommen wurden. Wieder ein Zeugnis christlicher Vergangenheit, dieses Mal grandios, monumental. Die Gewölbe sind eingestürzt, die Grundmauern der in Italien ungewöhnlichen Zisterzienserarchitektur sind jedoch stehen geblieben. Andrej geht von links nach rechts über die Grasnarbe quer zur Richtung der Kirchenschiffe durch die Ruine und wir hören im Hintergrund neben dem kurzen, klagend-melodiösen Ruf einer Männerstimme die Stimme einer Vorbeterin, vielleicht ein Kind, vielleicht eine Frau, die mit übertrieben leiernder, gedehnter, gewissermaßen immer wieder durchhängender Intonation das bekannteste italienische Morgen-und Abendgebet rezitiert: „Ich bete Dich an, mein Gott“. Aus dem OFF hören wir dann eine Frauenstimme: Herr, siehst Du nicht wie er nach Dir fragt? Sag etwas zu ihm.“Eine Männerstimme antwortet: „Stell Dir vor, was passieren würde, wenn er meine Stimme hört.“ Lass ihn Deine Gegenwart fühlen.“ „Ich lasse sie ihn immer fühlen. Er ist es, der sie nicht bemerkt.“ Jetzt hört man vereinzelt quietschende Kinderstimmen und das Flattern von Vogelflügeln, während Andrej in einiger Entfernung im Dunkel des rechten Seitenschiffs steht.

Schon 1978 hatte Tarkowskij in seinen Tagebüchern einen ähnlichen Kurzdialog festgehalten: (11. April 1978) DER RUFENDE IN DER WÜSTE. Eine Wüste. Die Stimme eines Menchen: „Gott! Gott! (immer wieder) So antworte mir doch!“ Die Kamera nähert sich dem Portal mit einer angelehnten Tür. Von innen vernimmt man Flüstern: 1. Stimme: „Antworte ihm! Ruf ihn zu Dir! Sieh doch wie er leidet!“ Er: „Wie soll ich ihm denn antworten? Was wird er denken? Wird er denn glauben, dass ich Gott bin? Ich darf ihm mein Interesse nicht bekunden.“ Soll die rufende Männerstimme im Film an den „Rufer in der Wüste“ erinnern?

Durch das offene Dach nun wieder der kleinen Kirche sinkt trudelnd eine weiße Feder herab und senkt sich auf das Wasser, dessen flacher Grund von Schutt bedeckt ist; vielleicht ein Bild für die Schwierigkeit Gottes mit dem Menschen zu kommunizieren. Wieder sehen wir Andrej am Rand des Wassers liegen, in der Zwischenzeit ist das Buch ganz verkohlt. Diese Einstellung schafft eine Klammer: die Bilder in der Gasse und in der Abtei waren also Erinnerungen.

Der spektakuläre Auftritt Domenicos in Rom und die unspektakuläre Parallele

Eine Luftaufnahme Roms, das man an der Kuppel der Peterskirche erkennt, in der Abenddämmerung weht eine rote Flagge mit dem Malteserkreuz, im Hintergrund hört man das Geräusch von Flugzeugen. Schnitt: Gortschakow steht auf der Rückseite eines Hotels, zu seinen beiden Seiten Taschen: links ein schwarzer Koffer, rechts Tragetaschen, wie man sie bei Einkäufen in Geschäften bekommt in verschiedener Größe. Ein junger Mann kommt, um zu sagen, dass er in zehn Minuten bereit sei zum Flughafen zu fahren. Ein Hotelangestellter folgt ihm auf dem Fuße mit der Nachricht, für Signor Gortschakow gebe es einen Anfruf. Gortschakow bittet den Chauffeur noch einen Moment zu warten. Jetzt sehen wir Eugenia, die anruft, im Profil mit hochgestecktem Haar. Das böse Blut bei ihrem Abschied in Bagno Vignoni scheint vergessen. Sie erzählt ihm, dass sie ihn von Domenico grüßen soll, der seit drei Tagen Reden hält „wie Fidel Castro“. Domenico möchte wissen, ob er, Andrej gemacht habe, was sie vereinbart hätten. Er lügt: ja, ja. Sie erfährt von ihm, dass er es nicht mehr aushält, er keine Kraft mehr hat und er nach Russland zurückfliegen will. Sie sagt, auch sie wolle zusammen mit ihrem Mann verreisen, wahrscheinlich nach Indien. Ihr Mann Vittorio interessiere sich für spirituelle Fragen und entstamme einer bekannten Familie aus Orvieto. Während des Gespräches haben wir Gelegenheit, Vittorio aus einiger Entfernung an seinem Schreibtisch zu beobachten. Er nimmt eine Zigarette, isst aber gleichzeitig eine Kleinigkeit. Hinter ihm steht wartend eine Frau, dann auch ein junger Mann, offenbar Bittsteller. Ohne sich umzudrehen, schlägt er die weiße Tischdecke zurück, worauf der Mann dort eine „bustarella“ ablegt, einen Briefumschlag vermutlich mit Geldscheinen, den Vittorio mit dem Tischtuch zudeckt. Als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, wurde mir von einem Italiener diese Szene erklärt. Im italienischen Kontext ist sonnenklar, dass es sich um ein Schmiergeld handelte. Mit provokanter Knappheit wurde so die Korruption denunziert, von der erst zehn Jahre später ans Tageslicht kam, wie allgegenwärtig sie war, was zum Untergang der sogenannten „Ersten Republik“ in Italien führte.

Eugenia murmelt nach einigem Zögern, sie gehe Zigaretten kaufen und erhebt sich. Hier spielt Tarkowskij offenbar mit dem Gemeinplatz, dass diese Formel einen endgültigen Abschied bedeuten kann. Zumal sie das nicht sehr beiläufig sagt, sondern eher bedeutungsschwer, gefolgt von ihrem gleichfalls akzentuierten Sich-Erheben und ihrem sich dann entlang einem langen Gang Entfernen. Jetzt sehen wir noch eine Nahaufnahme von Vittorio, der eine Gabel mit einem Stück Fleisch zum Mund führt. Sein stumpfer und leerer Gesichtsausdruck trägt kaum dazu bei, die Behauptung, er interessiere sich für spirituelle Fragen, glaubhaft erscheinen zu lassen. Die Szene spielt in einem altehrwürdigen Palast mit dreibogigem Fenster hinter Vittorios Schreibtisch. Da die Dreizahl auch bei den lichtdurchfluteten Fensteröffnungen der Abtei San Galgano auffällig war, gewinnt man den Eindruck, dass Zeichen des Christlichen wie etwa hier der Verweis auf die Trinität in Italien allgegenwärtig sind. (Auch wenn die Dreizahl schon vor dem Christentum in der Architektur der Antike wichtig war.) Die Luftaufnahme von Rom zeigt eine Flagge mit Kreuz und dahinter eine Kuppel, die von einem Kreuz bekrönt wird. Im Übrigen blättert von den Wänden der Putz. Offenbar mussten für Tarkowskij Wände Spuren der Zeit zeigen.

Andrej sagt seinem Chauffeur, dass er den Abflug um zwei Tage verschieben und nach Bagno Vignoni fahren möchte. Der junge Mann kommentiert, er habe gewusst, dass Gortschakow nicht heute abreisen würde. Während er von der Hotellobby aus die Umbuchung unternimmt geht Andrej die lange Achse der Unterführungen auf uns zu. Ein ähnlich langer Weg wie der Eugenias nur in umgekehrter Richtung. Er greift sich ans Herz und lässt eine eben erst angezündete Zigarette fallen. Es geht ihm offensichtlich nicht gut. Sein plötzlicher Sinneswandel hat offenbar einzig mit Loyalität gegenüber Domenico zu tun, die ihn dazu führt eine Handlungsanweisung auszuführen, die ihm so abstrus erschienen war, dass er sie schon wieder vergessen hatte. Aber er schätzt den sonderbaren Mann so sehr und fühlt sich so sehr mit ihm verbunden, dass er sich dennoch verpflichtet fühlt, den absurden Auftrag zu erfüllen.

Schnitt und wir sehen Köpfe in Nahaufnahme, das Gesicht eines mutmaßlich von Krankheit gezeichneten älteren Mannes und direkt neben ihm ein anderer von hinten, Kaugummi kauend; eine jüngere Frau, vermutlich auch krank, nähert sich von hinten. Die Kamera schwenkt langsam nach links und zeigt weitere Menschen, die offenkundig psychisch krank sind. So weit ich weiß, sind die Hintergründe der Dreharbeiten zu diesem Film nirgends dokumentiert. Dem Augenschein nach sind die ersten Statisten, die Tarkowskij hier zeigt, wirklich psychisch Leidende. Auch die Tatsache, dass eine so bedeutende Lokalität wie das Campidoglio zum Schauplatz einer der wichtigsten Szenen des Filmes gemacht werden konnte ist ein besonderer Glücksfall, der mit den relativ guten Beziehungen der Sowjetunion zu Italien zu tun gehabt haben wird und damit, dass der damalige Bürgermeister Roms Kommunist war. Den ironischen Seitenhieb auf die endlosen Reden Fidel Castros, eines der einsamen Bannerträger des Kommunismus im Westen, wird man Tarkowskij nachgesehen haben.

Nun ist die Rede Domenicos an der Oberfläche alles andere als politisch. Was wir zunächst hören ist eine Klage über sein persönliches Leiden, seine Zerrissenheit. Bei aller Tragik hat sein Auftritt auch etwas Lächerliches. Domenicos Namenspatron hat den Predigerorden, den Ordo Praedicatorum gegründet und so würde man hoffen, dass er diesem Vorbild mit seinem Sermon etwas Ehre machen würde, doch ist der leider hochgradig verwirrt. „Welcher meiner Vorfahren spricht aus mir? Ich kann nicht zugleich in meinem Kopf und in meinem Körper leben.“ Neben dem zermarterten Gesicht eines Kranken mittleren Alters erscheint ein schwarzweißes Poster an einem Pilaster, das einen Artikel mit dem Titel „Irrenhäuser“ und einen von Schriftzügen gespaltenen Kopf zeigt. „Deshalb gelingt es mir nicht, nur eine einzige Person zu sein. Ich bin fähig, mich als eine Unendlichkeit verschiedener Dinge zu fühlen. Das wahre Übel unserer Zeit ist, dass es die großen Meister nicht mehr gibt. Der Weg unseres Herzens ist von Schatten bedeckt.“ Eine hagere Frau, seltsam gekleidet, lehnt neben dem Pilaster mit dem Poster. Später, während der dramatischeren Entwicklung vor ihren Augen, konzentriert sie sich auf einen kleinen Handspiegel, um ihr Make-up nachzuziehen. Ein Kranker mit hängendem Kopf dreht sich ruckweise, unterbrochen von völligem Stillstand, um die eigene Achse. Rechts von ihm ein schon damals altertümliches Tonbandgerät, links von ihm ein Ständer mit Mikrofon. Daneben ein älterer Herr, der hinter einem mit Zeitungen und einer Hupe (!) bepackten Tischchen sitzt, das zudem mit Zeitungsartikeln behangen zu sein scheint. Links neben ihm steht ein Megafon. Das deutet auf Menschen mit ungehörten Botschaften hin. Ostentativ missmutig kehrt ein Mann der Szene den Rücken, der eine ähnliche Strickmütze wie Domenico trägt, nur erinnert er mit Bart und Brille eher an Lucio Dalla, freilich sehr in die Länge gezogen. Bei den vertikalen, breiten, rotbraunen Streifen auf seiner hellen Hose bleibt unklar, ob es sich dabei um ein fashion statement oder eine Schlafanzughose handelt. In dieser Versammlung findet sich auch Zoé, Domenicos Schäferhund, neben ihm lehnt eine kleine dickliche Frau, die sich Militärdecken als Rock umgebunden hat und einen Schutzhelm trägt. Dann eine andere dickliche Frau, deren Kleidung etwas weniger auffällig ist. An ihr fallen ihr unmotiviertes Lächeln und ihre Mauseschwänzchen auf. „Man muss auf die Stimmen hören, die unnütz zu sein scheinen. In die Gehirne, die besetzt sind von den langen Röhren der Kanalisation, den Mauern der Schulen, dem Asphalt und den Formalitäten der Sozialhilfe soll das Summen der Insekten dringen. Unser aller Augen und Ohren müssen mit den Dingen angefüllt werden, die der Anfang eines großen Traumes sind. Jemand muss schreien, dass wir Pyramiden bauen werden. Es ist unwichtig, wenn wir sie dann nicht bauen. Man muss den Wunsch danach lebendig halten. Wir müssen die Seele nach allen Seiten auseinanderziehen, als wäre sie ein Betttuch, dehnbar bis in die Unendlichkeit.“

Mittlerweile ist die Kamerabewegung weiter nach links fortgeschritten und wir sehen eine große Freitreppe, was nach meinem Eindruck nicht den Gegebenheiten in Piazza di Campidoglio entspricht, sondern eher eine Hexerei von Tarkowskij und seiner Crew zu verdanken ist. Auf dieser Freitreppe stehen regungslos Statisten, soweit sich aus der Entfernung erkennen lässt, keine Kranken sondern sogenannte Normale, die meisten allein, einige in Zweiergruppen, mit großen Abständen untereinander. Ihr Stillstand hat etwas Surreales und erinnert an die Erstarrung der nackten Statisten im Alptraum Sosnofskijs. Eine Gestalt, die sich bewegt, ist eine Frau in langen Gewändern in schwarz und weiß, was vage an den Dominikanerorden erinnert. Sie steigt die Stufen hinab. Ein Mann kreuzt ihren Weg, der sich nach oben entfernt.

Das Summen von Insekten ist in diesem Film nirgends zu hören, aber ein Publikum, das diesem Regisseur zu folgen versucht, wird unfehlbar sehr hellhörig.

Dann sehen wir zum ersten Mal den Redner, seine Position ist in dieser Nahaufnahme vorläufig wenig klar. Über seinem Kopf spannt sich von links nach rechts ein Seil, an dem weiße, schwarz beschriftete Stofffetzen hängen, die wie an Ärmeln zusammengebunden sind.

„Wenn ihr wollt, dass die Welt vorangeht, müssen wir uns an den Händen halten. Wir müssen uns mischen, die sogenannten Gesunden und die sogenannten Kranken. Ehi, ihr Gesunden, was bedeutet eure Gesundheit?“ Jetzt wird deutlich, dass Domenico auf einem Gestell mit Metallröhren steht, mit dem die Reiterstatue des Marc Aurel eingerüstet ist. Vermutlich ist es ein schöner Zufall, dass zur Zeit der Dreharbeiten die restaurierungsbedürftige Plastik so eingerüstet war, dass Domenico da oben sicher stehen konnte. Direkt vor ihm wird der Kopf des Philosophenkaisers sichtbar. Bei seinem Appell an die Gesunden streckt seinen linken Arm nach vorn, wie Marc Aurel seinen rechten Arm vorstreckt.

„Die ganze Menschheit starrt in den Abgrund, in den wir alle stürzen werden. Die Freiheit nützt uns nichts, wenn ihr nicht den Mut habt, uns ins Gesicht zu schauen, mit uns zu essen, mit uns zu trinken, mit uns zu schlafen. Es sind gerade die sogenannten Gesunden, die die Welt an den Rand einer Katastrophe gebracht haben!“ Domenico zieht aus der Manteltasche Flugblätter, die er in die Luft schleudert. „Mensch, höre! In dir Wasser, Feuer und dann die Asche. Und die Knochen in der Asche. Die Knochen und die Asche.“ An diesen Knochen werden sich die Interpreten noch in Generationen die Zähne ausbeißen, was vermutlich Tarkowskijs Absicht war.

Die Kamera hat sich so weit rausgezoomt, dass wir jetzt die Schrift auf den hemdähnlichen Stofffetzen, die der Länge nach über den Platz gespannt sind, lesen können: NON SIAMO MATTI SIAMO SERI „Wir sind nicht verrückt, wir sind ernsthaft.“ Zu Füßen des Monuments marschiert ein Mann mit einem selbstgebastelten Plakat: Domattina è la fine del mondo – Morgen früh ist das Ende der Welt. Hier zeigt sich wieder einmal Tarkowskijs hintergründig-grimmiger Humor, denn das letzte o von mondo hat im Schriftzug dieser Zeile keinen Platz mehr gefunden und klettert in panischem Schrecken am Rand des Plakats hinauf.

Tarkowskij hatte schon am 20. April 1976 in seinen Tagebüchern (nur in der italienischen Fassung) mit Emphase eine Aussage Leo Tolstois aufgezeichnet: Man muss schreiben wie ein Yurodivy. Über die Tradition der heiligen Narren im alten Russland ist verschiedentlich geschrieben worden. Die Figur des Domenico wandelt auf den Spuren dieser heiligen Narren, bei denen auch nicht immer klar war, ob sie tatsächlich verrückt waren, oder sich nur verrückt stellten. Domenicos Rede fordert Größe der menschlichen Seele, sie soll unendlich ausgedehnt werden, er fordert große Träume, den Wunsch Pyramiden zu errichten, selbst wenn sie dann nicht errichtet werden, kurz das Streben nach Größe, im Gegensatz dazu aber auch das Lauschen auf das Summen der Insekten, auf die Stimmen, die unnütz scheinen. Ohne erkennbaren Zusammenhang damit fordert er auch die Verbrüderung der sogenannten Gesunden mit den sogenannten Kranken, den Mut den Kranken ins Gesicht zu sehen. Denn die Gesunden scheinen in der gegenwärtigen Lage mit ihrer Selbstgenügsamkeit nicht gut beraten, denn gerade sie haben die Menschheit an den Rand des Abgrunds gebracht.

Wir haben festgestellt, dass Tarkowskij Kunstwerke, die er in seine Filme integriert, dadurch ehrt, dass er sie kreativ weiterentwickelt, wie sich am Beispiel der Madonna del Parto zeigen ließ, bei der das Öffnen des Schoßes mit dem Öffnen des Zeltes vorgebildet wird und eben das Öffnen einer Art Zeltes bei der Statue die flatternden Vögel befreit. Dabei zeigt er das Fresko gar nicht so genau, dass wir die Entsprechung zwischen Öffnung des Zeltes und Schlitz im Gewand sehen: das müssen wir uns selbstständig erschließen.

Hier auf dem Kapitol greift Tarkowskij eine Qualität auf, die im Film ebenfalls kaum in Erscheinung tritt: das geniale, von Michelangelo entworfene weiße Muster auf dem Platz, das viel zu dessen suggestiver Wirkung beiträgt. Tarkowskij knüpft daran an, indem er nicht einfach ein Spruchband ausgerollt hat, sondern weiße Stofffetzen, die wie gesagt an Hemden erinnern, mit einander verbunden hat, so dass sie die Vorstellung von einem Netzwerk nahelegen, was sich mit dem formvollendeten Netzwerk Michelangelos verbindet, um sich dann potentiell, virtuell ins Unendliche fortzusetzen…

Szenenwechsel nach Bagno Vignoni, wo im Thermalbad das Wasser abgelassen worden ist. Mehrere Menschen sind mit der Reinigung des Beckens beschäftigt. Das Auto, das Andrej hergebracht hat, fährt um das Becken. Er steigt aus und fordert den Chauffeur auf, ein Stück zurückzufahren. Er steigt auf die Umfassungsmauer, um das „Buon giorno!“ eines vorbeigehenden älteren Mannes mit einem Kopfnicken zu erwidern.

Wir sehen mit weißem Schlamm verklebte Gegenstände: eine alte Sturmlaterne, eine kopflose nackte Puppe, das verbogene Rad eines Fahrrads sind vor der Umfassungsmauer des Beckens deponiert worden. Im Becken liegt das zugehörige Fahrrad. Diese Gegenstände erinnern zum Teil vage an Früheres im Film, an das Fahrrad, auf dem Domenico in die Pedale trat, an die Puppe in einem Winkel seiner Behausung, lediglich die Sturmlaterne weist voraus, nicht zurück.Wir sehen eine verstörte, tief bekümmerte Milena Vukotic Münzen in ein Glas sammeln.

Nun sehen wir Andrej von hinten, der in das Becken hinabgestiegen ist und vollkommen entkräftet, zusammengekrümmt auf einem Sims lehnt. Er fingert in seiner Manteltasche nach Tabletten, die er notgedrungen wie schon zuvor trocken zu sich nimmt.

Szenenwechsel zurück zum Kapitol: Wir sehen Domenicos Stehen auf dem Pferd, nur von den Unterschenkeln abwärts, wie er von einem Fuß auf den anderen tritt mit der Frage: „Wo bin ich, wenn ich nicht in der Realität, aber auch nicht in meiner Fantasie bin?“ Vielleicht ein Hinweis auf die eigene Wirklichkeit des Films. Die folgenden Aussagen scheinen für wirklichen Wahnsinn zu sprechen: „Ich mache einen neuen Pakt mit der Welt: Die Sonne soll in der Nacht scheinen und im August soll es schneien.“ Dann wird es wieder sinnvoller: „Die großen Dinge enden. Die kleinen überdauern. Die Gesellschaft muss wieder geeinter werden und nicht so zerrissen sein. Schaut nur auf die Natur, dann versteht ihr, dass das Leben einfach ist. Ihr müsst vor den Punkt zurückkehren, an dem ihr die falsche Richtung eingeschlagen habt. Wir müssen zu den Grundlagen des Lebens zurückkehren ohne das Wasser zu verschmutzen. Was für eine Welt ist das, wenn euch ein Verrückter sagen muss, dass ihr euch schämen sollt?!“ Diese letzte Aussage hat wieder mehr Durchschlagskraft. Das Anliegen der Einheit hatte Domenico schon vorher vorgebracht, bislang schien es beschränkt auf die interpersonale Ebene, jetzt geht es um die ganzen Gesellschaft. Wenn Domenico fordert an den Punkt zurückzukehren, „an dem ihr den falschen Weg eingeschlagen habt! fragt es sich, ob aus ihm der Russe Tarkowskij spricht, der dem Westen vorwirft, den falschen Weg eingeschlagen zu haben. Da deckten sich Tarkowskijs Überzeugungen in etwa mit denen Solzhenitsyns, der fünf Jahre vor diesem Film in seiner Harvard-Rede 1978 den Beginn der Verirrung des Westens in der Renaissance sah. Insofern war Tarkowskij in Italien durchaus an der richtigen Adresse, am historischen Ursprung der Fehlentwicklung.

Nun folgt ein geniales Verwirrspiel. Domenico hat seine Rede beendet und ruft: „Und jetzt die Musik!“ Einige seiner Mitarbeiter eilen herbei und heben einen recheckigen, silbern glänzenden Kubus zu ihm hinauf. Der übertölpelte Zuschauer fragt sich, ob es sich dabei um einen Lautsprecher handelt. Domenico hät inne, er hat etwas vergessen, kramt einen Zettel aus der Manteltasche. Nun meldet er sich ein letztes Mal zu Wort: „Oh Mutter, oh Mutter, die Luft ist das leichte Ding, das um deinen Kopf kreist und heller wird, wenn du lachst!“ Hier wendet er sich völlig außerhalb jeden Zusammenhangs an die Mutter, und wenn man nach irgendeinem Anknüpfungspunkt im Film für diese Aussage sucht, wird man zu der Nahaufnahme vom Kopf der Madonna del Parto von Piero della Francesca geführt. Sie hat ein weißes Band um den Kopf gewunden, was Tarkowskijs sonderbar-dinghafte Verfestigung der Luft vertretbar erscheinen lässt. Das Licht auf ihrem Gesicht ist wunderbar subtil, aber sie lächelt nicht oder kaum. Tarkowskij sucht die Kunstwerke, die er filmisch aufgreift, weiterzuentwickeln, zu steigern.

Was Domenico in den Händen hält ist ein Benzinkanister und nun wird sein Vorhaben deutlich: er zieht sich die Mütze ins Gesicht und übergießt sich mit Benzin. Die Musik lässt weiter auf sich warten. Einer von Domenicos Assistenten kommt eine weitere Freitreppe, auf der wiederum regungslose Statisten stehen, aufgeregt heruntergestürzt. Wir sehen Domenicos Hand, die das Feuerzeug mehrfach vergeblich zu entzünden sucht. Schließlich gelingt das doch, und er führt das Feuerzeug vor seinen Körper. Er geht in Flammen auf und zeitgleich brandet die Musik in einem gewissermaßen berstend-expressiven Ausbruch an, bevor sie sich als die Ode an die Freude aus Beethovens 9.Symphonie zu erkennen gibt. Wie er brennend hinter Mark Aurel steht wachsen ihm Flammenflügel, die das Reiterdenkmal für mehrere Sekunden zu einem geflügelten Pegasus, dem Dichterross machen, was die Formulierung des Dichtervaters aufgreift: „Und nicht mehr leuchten in der Nacht an meinen Schultern zwei Flügel…“

In der Europahymne heißt es in den Worten Schillers an die Freude gerichtet: „Wir betreten feuertrunken, Himmlische, Dein Heiligtum“. Was bei Schiller metaphorisches Reden bleibt, wird von Tarkowskij drastisch umgesetzt, zugleich leistet die Parallelisierung von Feuer und Musik und die Beziehung zur Dichtung einer Ästhetisierung der Szene Vorschub, was zu den unauflöslichen Widersprüchen beiträgt, wie sie Tarkowskij in seiner Kunst zu gestalten suchte. Denn andererseits führte er Kunstgriffe ein, die das Geschehen als Realität spürbar machen sollen. So wird Domenicos Handlung von einem anderen Verrückten unten auf dem Platz pantomimisch abgebildet: er hat schon Domenicos vergebliche Versuche mit dem Feuerzeug imitiert und als Domenico vom Denkmal springt und dahinter verschwindet, wälzt der Imitator sich im Vordergrund wild im eingebildeten Schmerz zappelnd. Was geschieht durch diese Doppelung? Es wird die Situation der im Film abgebildeten Realität abgebildet, von der wir wissen, dass sie gespielt und nicht real ist, und dadurch wirkt das Geschehen realer, macht sozusagen einen Sprung auf uns zu. Die Ode An die Freude endet abrupt bei: „Alle Menschen werden…“ Das Wort „Brüder“ hören wir nicht mehr, sondern nur noch das schmerzerfüllte Brüllen Domenicos. Es wird behauptet, dass er den Namen seines Hundes: „Zoe“ brüllt, was ich nicht bestätigen kann. Tatsache ist, dass in dieser Szene nur der Hund „menschliche Regungen“ zeigt. Er liegt zwar an der Leine, beginnt aber unruhig zu winseln und zu bellen, springt nach vorn, als Domenicos Wahnsinnstat sich abzuzeichnen beginnt, während die Menschen um ihn herum in Lethargie und Desinteresse verharren. Tarkowskij hatte eine sehr enge Beziehung zu seinem Schäferhund in Russland, dem er ein ungewöhnliches Wahrnehmungsvermögen zuschrieb.

Der russische Regisseur hat schon am 9. September 1970 am Ende einer seitenlangen Einlassung (später finden sich solche langen Eintragungen nicht mehr) in seinem Tagebuch geschrieben: “Und all jene, die an die Seele gedacht haben – im Lauf der Jahrhunderte bis zum heutigen Tag – , hat man physisch vernichtet oder vernichtet sie immer noch. Das einzige, was uns jetzt retten kann, ist eine neue Ketzerei, die alle ideologischen Gebäude unserer unglückseligen, barbarischen Welt zum Einsturz bringen wird. Die Größe des heutigen Menschen liegt im Protest. Ruhm gebührt dem, der sich aus Protest vor dem Antlitz einer stumpfen schweigenden Menge verbrennt – demjenigen, der auf den Platz hinaustritt, bewaffnet mit Plakaten und Losungen, und sich den schlimmsten Repressalien ausliefert, auch all jenen, die nein sagen zum Egoismus und zur Gottlosigkeit.

Sich über die Möglichkeit zu leben erheben, sich praktisch unserer Vergänglichkeit, unserer Sterblichkeit klar bewusst werden, gerade im Namen des Künftigen, im Namen der Unsterblichkeit… Ist die Menschheit dazu imstande, dann ist noch nicht alles verloren. Dann besteht noch eine Chance.“ Warum er darin eine Chance sieht, erläutert er nicht. Vielleicht sieht er in der Ehrlichkeit, die dazu gehört, eine Voraussetzung für eine Lösung der dringlichen Probleme. Diese Ehrlichkeit fällt bei Tarkowskij immer wieder auf sowohl in seinem Werk als auch in überlieferten Interviews, was man anerkennen sollte, selbst wenn man manche seiner Positionen problematisch finden kann. Diese Überzeugung von der Ehrlichkeit als wichtiger Voraussetzung von Kunst scheint er unter anderem von Tolstoi übernommen zu haben. Darüber hinaus ist es der Glaube, der in diesem Denken, in diesem „sich über die Möglichkeit zu leben erheben“ zum Ausdruck kommt. Schließlich war es der „Glaube“, den Gortschakow an Domenico wahrgenommen hat. Ein Glaube, der für Tarkowskij selbst alles andere als selbstverständlich war, um den aber sein Denken kreiste.

Im Grunde hat Tarkowskij hier zwölf Jahre bevor er den Film Nostalghia geschaffen hat dessen Programm formuliert. Warum er eine so extreme Tat wie die Selbstverbrennung nennt, hat vielleicht mit dem tiefen Eindruck zu tun, den Ingmar Bergmans Film Persona (1966) auf ihn gemacht hat. Eine der Protagonistinnen sieht im Fernsehen entsetzt die Selbstverbrennung des buddhistischen Mönches in Saigon (1963), die so schockierend ist, weil ihre Realität außer Frage steht. Persona war wohl der Film Bergmans, der Tarkowskij am nachhaltigsten beeindruckt hat. Ob er auch von der Selbstverbrennung des tschechischen Studenten Jan Palach wusste, der sich im Januar 1969 aus Protest gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in sein Heimatland auf dem Wenzelsplatz in Prag angesteckt hatte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.

Weder der buddhistische Mönch noch Jan Palach waren wahnsinnig, so bleibt auch offen, ob Domenico wirklich wahnsinnig war. Sein Appell für die Einheit der Gesellschaft deckt sich mit der Aussage der Ode, dem hohen Pathos von Schiller und Beethoven: „Alle Menschen werden Brüder“. Nur weist der russische Regisseur darauf hin, dass dieses Ziel nicht mit „Friede, Freude, Eierkuchen“ zu erreichen ist. Er hat immer wieder die Bereitschaft zum Opfer hervorgehoben, was dann auch der Titel seines letzten Films wurde. Vielleicht deckt sich seine Überzeugung mit den Worten von Jesus: „Und wenn ich erhöht sein werde von der Erde, werde ich alle an mich ziehen.“ (Joh 12, 32)

Das Solidaritätspathos, wie es in Westeuropa in der Moderne seinen Ausgang genommen hat, war von Anfang an auf einem Auge blind: es werden eben nicht alle Menschen Brüder, die Verrückten waren von vorneherein ausgeschlossen. Michel Foucault hat den Finger auf diese Wunde gelegt. Und Domenico macht das mit seiner „Ketzerei“, die in der Forderung gipfelt, den sogenannten Geisteskranken nicht nur ins Gesicht zu sehen, sondern sogar mit ihnen zu schlafen, eklatant.

In der letzten Szene des Films, die auch berühmt geworden ist, weil sie ohne Schnitt mehr als neun Minuten dauert, versucht Gortschakow eine angezündete Kerze vom einen Ende des entleerten Beckens in Bagno Vignoni zum anderen Ende zu bringen, nur um sein Versprechen an Domenico zu erfüllen.

Zu Beginn hantiert Andrej mit einem Feuerzeug, versucht mehrfach vergeblich eine Flamme damit zu schlagen, was eine deutliche Parallele zu der Szene schafft, als Domenico das Gleiche mit seinem Feuerzeug versucht. Dann schlägt er mit der Hand an den rechten Rand des Beckens, an den Startpunkt, was an ein übliches Ritual in einem Kinderspiel erinnert. Tarkowskij hatte dem Schauspieler erklärt, dass er diese Szene so spielen sollte, als sei sie die Darstellung eines ganzen Menschenlebens. Andrej ist, wie wir gesehen haben, schwer krank, sehr geschwächt. Er schlurft mit winzigen Schritten durch Schlick, Steine und feuchte Nebelschwaden, sorgsam die Flamme der Kerze schützend. Doch zweimal erlischt sie, als er fast schon das Ziel erreicht hat. Er kehrt jedes Mal an den Ausgangspunkt zurück, und das mühsame Spiel beginnt von vorn. An die Kindheit erinnert, dass er jedes Mal die Hand am Startpunkt anschlägt wie in einem Kinderspiel.

Im Hintergrund lehnt ein umgekehrter Reisigbesen am Beckenrand, was bei Tarkowskij durchaus ein Hinweis auf böse Mächte und Hexenwesen sein kann. Angeblich soll aber der Besen mit dem Reisig nach oben als Abwehr gegen Hexen dienen. Schließlich gelingt es Gortschakow mit letzter Kraft zu den leise anhebenden Klängen aus Verdis Requiem die brennende Kerze am Zielpunkt aufzustellen und er bricht zusammen. In zweiten Gedicht Arsenij Tarkowskijs heißt es unmittelbar nach der Zeile, in der von den leuchtenden Flügeln die Rede war: „Beim Fest habe ich, Kerze, mich verzehrt,/ sammelt am Morgen mein geschmolzenes Wachs/ und dort lest, dass Weinen es ist, worauf man stolz sein soll“.

Wenn man fragt, was die brennende Kerze zu bedeuten hat, soll man im Hinterkopf behalten, dass es nicht im Sinne dieses Regisseurs war, eindeutige Zuordnungen zu schaffen. Da Gortschakow bei Domenico seinen „Glauben“ bewunderte, steht die Flamme vielleicht für eben diesen Glauben, theologisch ausgedrückt, für das Leben der Gnade, oder allgemeiner für das innere Leben.

Um noch einmal den Tagebuchauszug zu zitieren: „Sich über die Möglichkeit zu leben erheben, sich praktisch unserer Vergänglichkeit, unserer Sterblichkeit klar bewusst werden, gerade im Namen des Künftigen, im Namen der Unsterblichkeit… Ist die Menschheit dazu imstande, dann ist noch nicht alles verloren. Dann besteht noch eine Chance.“ Dafür ist die sich verzehrende Kerze auch ein Bild: unsere Vergänglichkeit, unsere Sterblichkeit, die gegenüber den Menschen, die sich im wohlig warmen Wasser und seinen Dämpfen einnebeln und „ewig leben wollen“. Deshalb auch das „Memento mori“ der Kreissäge, das im Film immer wieder zu hören ist und an Schnitt und Abbruch erinnert.

Worin besteht nun die Beziehung zum Geschehen auf der Piazza di Campidoglio? In beiden Fällen geht es um Brennen und sich Verzehren. (Es ist angebracht, sich an die eingangs von Eugenia erwähnte Zeitungsnotiz zu erinnern, in der die Rede davon war, dass eine Hausangestellte in Mailand das Haus ihrer Herrschaft in Brand gesteckt hat, um nach Calabrien, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Domenico setzt seinen Körper in Brand, weil er sich darin fern seiner wirklichen Heimat fühlt…) Einmal die große Flamme der spektakulären Selbstverbrennung „Wir sind zum Schauspiel für Menschen und Engel geworden.“ (1 Kor 4,9) Dem gegenüber die still durchgetragene Existenz, von kaum jemandem beachtet. Ein Professor, der mit dem Film insgesamt nicht sehr viel anfangen konnte, zeigte sich beeindruckt von der Beharrlichkeit, der Zähigkeit, wie sie in der dieser Szene zum Ausdruck kommt. Die charismatische Chiara Lubich hat Ende der 50er Jahre einmal Eigenschaften der verschiedenen Völker genannt, die für andere vorbildhaft sein könnten; bei den Slawen nannte sie „Zähigkeit“.

Tarkowskij sprach davon, dass die Bilder seiner Filme im Betrachter fortwirken sollten. Da war das Element der Sturmlaterne, assoziativ verknüpft mit dem die brennende Kerze tragenden Gortschakow und dem Kapitolsplatz im Hintergrund: es lenkt assoziativ auf Nietzsches „tollen Menschen“ aus der Fröhlichen Wissenschaft, der am Vormittag eine Laterne anzündet, über den Platz geht und unablässig ruft: „Ich suche Gott!“. Er wird von allen verspottet. Wer das weit hergeholt findet, muss immerhin zugeben, dass auf diese Weise die Laterne „aufgeräumt“ ist, ihr assoziatives Potential zum Einsatz kommt. Die parallel geschalteten Szenen in der Imagination übereinander zu blenden liegt nahe. Tarkowskijs Beschäftigung mit Nietzsche wird in seinem letzten Film Offret (1985) explizit.

Als Andrej zusammenbricht, stürmt sein junger Chauffeur herbei. Es stellt sich heraus, dass sich doch eine ganze Reihe Schaulustiger eingefunden hat. Auch Milena Vukotic erscheint noch einmal in Nahaufnahme, noch verstörter, noch bekümmerter dreinblickend. Dann ein letzter Blick auf die flackernde Kerze während wir weit im Hintergrund die fistelnden Stimmen irgendwelcher Klageweiber hören. Wechsel zu Schwarzweiß und wir sehen den lichtblonden kleinen Jungen aus den Russlanderinnerungen wie er sich umwendet. Die Mutter nähert sich langsam von hinten und legt ihm federleicht die Hände auf die Schultern. Dann das Schlussbild: Andrej lagert auf der Erde mit aufgestütztem Arm, neben ihm liegt der Hund, hinter ihm das heimatliche Haus vor nebelverhangenen Bäumen, vor ihm die Wasserlache, in der sich die drei Fensteröffnungen der Abtei von San Galgano spiegeln. Denn es stellt sich heraus, indem die Kamera herauszoomt, zurückweicht, dass die russische Heimat von der majestätischen Ruine der Kirche umfasst ist. Nur im mutmaßlichen Tod Andrejs ist die Einheit von russischer Innerlichkeit, „slawischer Seele“ und italienischer altehrwürdiger Formvollendung gelungen. Dann beginnt ein leichter Schneefall, eine federleichte Zärtlichkeit wie die Geste der Mutter. Zugleich verhält sich der Schneefall zu den beiden herabsinkenden Federn zuvor wie die Erfüllung zur Verheißung.

Domenico forderte in seinem verrückten „neuen Pakt mit der Welt“ Schnee im August. Es gibt die wenig bekannte Legende, dass die größte Marienkirche Roms, Santa Maria Maggiore, an der Stelle errichtet werden sollte, wo am Morgen des 5. August eine schneebedeckte Fläche gefunden wurde. Das war sowohl einem patrizischen Ehepaar als auch dem Papst Liberius im Traum bedeutet worden. Diese poetische Geschichte geht in die Fühzeit der Kirche, in das Jahr 352 zurück. So können wir in dem Abschlussbild des Films eine Aufforderung sehen, gemeinsam an die Ursprünge der Kirche zurückzukehren, sie neu aufzubauen.

Nachdem wir nun einigermaßen umsichtig durch den Film gewandert sind, stellt sich die bange Frage, ob der Film uns in der gegenwärtigen Situation etwas sagen kann. Zu seiner Entstehungszeit waren Russen veritable Exoten im Westen. Mittlerweile sind sie keine so seltene Erscheinung mehr. In den Nachrichten wird immer wieder von prolligen Oligarchen berichtet, mehr oder minder kultivierte Neureiche besuchen unsere Länder. Einsame Sucher wie der Dichter Andrej Gortschakow sind eher selten darunter.

Umso belastender wirkt der Krieg, der von einem isolierten und der Realität entfremdeten russischen Präsidenten vom Zaun gebrochen wurde. Es bleibt zu hoffen, dass der Film des russischen Regisseurs, der im eigenen Land eine Art Heldenstatus gewonnen hat und im Westen vorwiegend in intellektuellen Kreisen bekannt ist, weiterhin als Stimulanz wirken kann den Dialog zwischen den so verschiedenen Kulturen zu suchen.

1Erwähnt werden sollte eine aus ihrem Blickwinkel eher „zu gründliche“ Auseinandersetzung mit dem Film von Julia Selg, die in einem sehr schön gestalteten Buch mit zahlreichen Abbildungen Gestalt gefunden hat: Julia Selg, Andrej Tarkowskij und die Gegenwart der Alten Meister. Kunst und Kultus im Film Nostalghia, Stuttgart 2009. Generell bin ich einverstanden, dass man einzelne Aussagen etwa die von dem „verrückten“ Domenico auf dem Kapitol, dass heute „die Meister“ fehlen, zu Anlass nimmt, den Film auf die Anwesenheit der Alten Meister zu befragen. Nur führt das dazu, dass die Autorin auf Schritt und Tritt zum Teil sehr kryptische Zitate der Alten Meister entdeckt, wobei ich ihr recht bald die Gefolgschaft aufgekündigt habe. Zumal Tarkowskij sich von nachstellenden Bildzitaten distanziert hat; vgl. Mikhail Romadin, On Film and Painting, Romadin zitiert Tarkowskij indirekt: „What will you have, if instead of figure drawn on a canvas by the artist we see instead a live actor? This is a surrogate painting, a ‚live picture‘.“ (Nostalghia.com Website)

2Übersetzt aus der italienischen Fassung, Andrej Tarkovskij, Diari, Martirologio,Firenze 2002

3Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Frankfurt Berlin 1986, S. 112

4Als Bundeslade Gottes wird Maria in der Lauretanischen Litanei angesprochen.

5Tomaš Špidlík, Russische Spiritualität, Regensburg 1994, S. 22

6 Das Berühren der Haare ist ein Motiv, das in dem letzten Film Tarkowskijs aufgegriffen wird: der igendwie zwielichtige Bote Otto greift sich immer wieder ins Haar. Das ist, abstrakt genommen, ein Bild für die „recurvatio in se ipsum“, das „Zurückbezogensein auf sich selbst“ als Inbegriff der Sünde.

7Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 47f.

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