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Tarkowskij und unser Kommen und Gehen

November 26, 2014

Kürzlich habe ich den jüngsten preisgekrönten Film Michael Hanekes Liebe (2012) in der ARD gesehen und war im Großen und Ganzen angetan, auch wenn nicht zu leugnen ist, dass die üblichen Verbeugungen in Richtung des Zeitgeistes ihm an Größe nehmen. Man könnte sagen, dass der Film dem Geist Simone de Beauvoirs verpflichtet ist, die sich am Ende ihres langen Lebens „geprellt“ fühlte: die Kunst, die Musik, alles leere Versprechungen. Dabei waren ihr die Spielregeln, zu denen wir antreten, seit ihrer Kindheit bekannt: sie konnte sich kaum mit Recht geprellt fühlen.

Der Film erzählt die Geschichte eines kultivierten älteren Ehepaars in Paris, dem das fortgeschrittene Alter zusetzt: sie kann sich nach einem Schlaganfall kaum noch selbst helfen. Er sieht sie, wenn er eine CD hört, sie in einem Tagtraum am Flügel sitzen und spielen: die ehedem großartige Pianistin. Die Landschaftsgemälde an den Wänden der Wohnung werden in stummem Vorwurf als vergehend, zurückbleibend gezeigt. Er (Jean-Louis Trintignant) geht an einem Nachmittag zu einer Beerdigung und berichtet nach seiner Rückkehr nur widerstrebend davon. Das macht seine wenigen Worte nur umso wirkungsvoller. Der Priester sei ein Schwachkopf gewesen. Dass es Priester gibt, die Schwachköpfe sind, sei unbenommen, aber in dieser lakonischen Beiläufigkeit wird suggeriert, dies sei der quasi unvermeidliche Normalfall.

Die Frage des Danach, ob irgendetwas nach dem Tod kommen könnte, auf den man hier unaufhaltsam zusteuert, wird konsequent ausgespart. Die Möglichkeit der Unsterblichkeit der Seele geistert als vage Möglichkeit in der Gestalt einer grauen Taube, die sich zweimal in die Wohnung verirrt hat, unausgesprochen durch den Film. So ist unsere Zeit: der Zeitgeist kennt in dieser Frage kein Pardon. Das kommt nicht auf den Tisch.

Im Zeitalter von YouTube konnte ich bei der Nachbereitung dieses Films eine eigentümlich beklemmende Erfahrung machen: ich sah ein Interview mit der Hauptdarstellerin Emmanuelle Riva aus dem Jahr 1959, nachdem der Film Hiroshima mon amour von Alain Resnais, der sie zum Star machte, herausgekommen war. Eine junge Frau, die mit ihrem natürlichen, mädchenhaften Charme den Atem raubt, und gerade eben hat man dieselbe Frau als Greisin gesehen. Der Film ermöglicht solche bestürzenden Erfahrungen, die man mit der Fotografie so nicht macht. Auch Fotos können den Alterungsprozess bewusst machen, aber hier kommen die Bewegungen, die Mimik, die Stimme hinzu, und das macht den Eindruck überwältigend. Und doch scheint, soweit ich sehe, Tarkowskij der einzige Filmkünstler zu sein, der über diesen Aspekt des Films in seinen Filmen reflektiert hat.

In Solaris (1972) zeigt zu Beginn der Solaris-Experte Berton einen Dokumentarfilm, der einige Zeit zuvor bei einem Kongress zur Solaristik gedreht worden ist. Berton, der mittlerweile eine sehr hohe Stirn hat, trug damals das volle Haar gescheitelt. Das Motiv verschiedener Zeitebenen wird noch dadurch variiert, das bei diesem Kongress damals große Transparente mit graphischen Darstellungen von bärtigen vergangenen Geistesgrößen zu sehen sind. Unversehens wird man so mit der Thematik unseres Kommens und Gehens konfrontiert. Das erste Bild des Filmes zeigt in Nahaufnahme ein herbstlich gefärbtes Blatt, das schnell auf einem Bach vorbeischwimmt.

Auf der Raumstation zeigt Kris seiner ehemaligen Geliebten Hari wiederum einen Dokumentarfilm, für den sich Tarkowskij die Mühe gemacht hat, einen vielleicht sechzehnjährigen Jungen ausfindig zu machen, der als der junge Kris glaubhaft ist.

In dem Film Spiegel (1974) scheint mir der Gedanke weiterentwickelt. Irgendwann wird auf den Anfang von Dantes Divina Commedia angespielt: die Freundin der Mutter zitiert ihn übermütig hüpfend in den Dreißiger Jahren in einer Moskauer Druckerei. Der Film endet damit, dass er in einen dunklen Wald zurückweicht. Die Bewahrung der Lebendigkeit aller Beteiligten im Film wird zu einer Metapher der jenseitigen Welt.

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