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Tarkowskij und die Gretchenfrage

September 29, 2014

Man könnte meinen diese Frage sei überflüssig, da Tarkowskijs notorische Religiosität vielleicht der Hauptgrund ist, weshalb der Regisseur in gewissen Kreisen immer noch als „uncool“ gilt. Er hat von sich selbst allerdings wiederholt als Agnostiker gesprochen und das nicht nur in Interviews, sondern auch im Tagebuch, bei dem der Verdacht taktischer Erwägungen wegfällt (13. August 1981). Dann war er freilich ein Agnostiker ganz besonderer Art, meilenweit entfernt von der mehr oder minder gutmütigen Gleichgültigkeit in der Gottesfrage, die man gemeinhin mit dieser Haltung verbindet. Religiöse Fragen faszinierten ihn nachdrücklicher als Günter Grass alias Oskar Matzerath die katholische Konfession, die der bekanntlich mit einem rothaarigen Mädchen verglich.

In Iwans Kindheit (1962) kommt am Rande Religiöses ins Bild etwa die Reste eines Freskos von Maria und dem Kind in der Art der Ikonenmalerei im wild flackernden Schein eines brennenden Holzscheits oder ein schräg ins Bild ragendes Metallkreuz, das zunächst bei Detonationen von spritzender Erde und Rauchschwaden verhüllt, dann aber vor das milde Licht der wieder aufscheinenden Sonne projiziert wird. Tarkowskij selbst hat diese Bezüge in einem Interview als klischeehaft klein geredet1. Bei Interviews zeigte Tarkowskij eine eigentümliche Mischung aus Ehrlichkeit und List. Im Laufe der Jahre hat m. E. die Ehrlichkeit die Oberhand gewonnen.

Im Andrej Rubljow (1966) ist die religiöse Thematik vom Sujet vorgegeben. Tarkowskij versäumte nicht schon 1962 während der Vorbereitungen zu diesem Film darauf hinzuweisen, dass kein Geringerer als Lenin die Wichtigkeit der künstlerischen Beschäftigung mit dem berühmtesten Ikonenmaler hervorgehoben hatte. Der Regisseur hatte also Gelegenheit sich gewissermaßen offiziell mit den christlichen Wurzeln der Kultur seines Landes zu befassen, musste freilich auch dem offiziellen Atheismus der Sowjetunion Rechnung tragen. Schon im Vorfeld zur Entstehung des Films bekannte die am Drehbuch arbeitende Editorin N. V. Beliaeva: „Für mich ist hier ein kaum zu fassender Geist am Werk, mit dem zu kämpfen sehr schwer ist.“2 Das erinnert auf unheimliche Weise an eine Aussage des Apostels Paulus: „Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister der Bosheit in der Himmelswelt.“ (Eph 6, 12) Man kann davon als gesichert ausgehen, dass der Regisseur am Ende seiner Arbeit für diesen Film ein vertieftes Verständnis sowohl der Kunst der Ikonen als auch der christlichen Traditionen seines Landes erworben hatte. Es hat sich schon im Aufsatz über die Ikonen die Gelegenheit ergeben, aufzuzeigen, dass in Tarkowskijs Kunst der Glaube lebendig wurde. Hier soll nur einiges zur Ergänzung nachgetragen werden, um ein ausgewogeneres Bild zu erhalten. In einer Tagebuchaufzeichnung aus dem September 1970, also einige Jahre nach Abschluss der Arbeiten am Rubljow, gab Tarkowskij zu erkennen, dass er – wie groß er auch die Bedeutung der Religion sah – der Kirche wenig zutraute (9. 9. 1970). Diese Skepsis wird auch schon in dem Film über das russische Mittelalter deutlich. Man denke an die Szene der missglückten Versöhnung der beiden Fürstenbrüder. Der jüngere Bruder ist früher eingetroffen und wartet im Schnee vor dem Eingang der Kirche, aus der die gewaltigen Gesänge der orthodoxen Liturgie zu hören sind. Dann kommt der ältere Bruder mit seinen Leuten, er wurde bekanntlich vom gleichen Schauspieler (Juri Nasarow) mit slawisch-undurchdringlichem Blick dargestellt. Der Metropolit tritt den beiden mit seinen Klerikern entgegen. Der Jüngere muss zum Zeichen seiner bußfertigen Unterwerfung ein Kruzifix küssen. Dann umarmen sich die beiden Brüder zum innigen Bruderkuss. Die Kamera gleitet hinab und wir sehen wie der Überlegene den Unterlegenen demütigt, indem er ihm auf den Fuß tritt. Der anbrandende Gesang hat offenbar nicht so weit Gewalt über die Herzen, dass er sie im Grunde umstimmen könnte. Oder ist vielleicht der ältere Bruder so überwältigt und verwirrt, dass er dem anderen aus Versehen auf den Fuß tritt? Aber der hat es offenbar nicht so empfunden; er hat sich, bzw. seinen Fuß, das kann man sehen, unter dem festen Tritt verzweifelt gewunden. Diese Demütigung hat ihn dann dazu bewogen, die ganze Stadt Wladimir den Mongolen auszuliefern. Es bleibt festzuhalten, dass hier der Tradition des sozialistischen Bruderkusses ein zweifelhaftes Denkmal gesetzt worden ist.

Selbst bin ich in früheren Versuchen über Tarkowskij der Versuchung erlegen, die extreme Langsamkeit der späteren Filme mit der orthodoxen Liturgie in Verbindung zu bringen, den Autor also gewissermaßen zu klerikalisieren. Wenn man allerdings darauf achtet, wie im letzten Segment vom Rubljow die Weihe der Glocke wiedergegeben wird, muss man feststellen, dass die Kleriker, die die Glocke umschreiten und die Weihezeremonie von allen vier Seiten wiederholen, als ausgemachte Langweiler daherkommen im unmittelbaren Kontrast zu einer der wenigen Szenen, in denen Tarkowskij wirkliche Spannung aufgebaut hat: wird die Glocke klingen oder nicht?

In Solaris (1972) kulminiert der Film in der Abschlussvision des auf der Raumstation fiebernden Kris Kelvin. Johann Sebastian Bachs Orgel-Präludium zum Choral „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 639), das im Film verschiedentlich angeklungen ist, nimmt gegen Ende des Films elektronisch wummernd überhand, bzw. wird zu einem allgemeinen Dröhnen. Wir sehen Kris zum Vaterhaus heimkehren, wie bei Homers heimkehrenden Odysseus erkennt ihn der Hund wieder und läuft ihm entgegen. Kris späht mit vorgehaltener Hand von außen durch das Fenster und erblickt den Vater in einer völlig irrationalen Verdichtung von Sonnenlicht und Regen, der durch die Zimmerdecke bricht und in der Sonne auf dessen Lederwams dampft. Die Kamera beginnt diskret zurückzuweichen. Der Vater kommt an die Haustür und Kris fällt vor ihm auf die Knie wie Rembrandts Verlorener Sohn in der Eremitage von dazumal Leningrad. Das gewaltigste Gemälde Rembrandts (1669, Öl auf Leinwand, 262x 206cm) bezieht seine emotionale Gewalt auch aus der monumentalen Einfachheit der Gebärden und etwas davon hat sich auf Tarkowskijs Filmbild übertragen. Dieses Bild war mein erster bleibender Eindruck von einem Tarkowskij-Film in den fernen 70er Jahren an einem altersschwachen Schwarzweißfernsehgerät. Ein Bild der Umkehr des nur noch an sich selbst glaubenden modernen Menschen mitten aus der Sowjetunion! Schon in der Bibliothek auf der Raumstation Solaris war Kris in Reue vor Hari auf die Knie gefallen, was der reizbare und zynische Sartorius gar nicht vertragen konnte. Tarkowskij hat es sich mit wörtlichen Zitaten nach Gemälden nicht leicht gemacht, sie widersprachen eigentlich seinen Überzeugungen. Er hat sich dieses Bild buchstäblich abgerungen, und es ist auch nicht einsinnig religiös, etwas von der fast schon asiatisch komplizierten Beziehung zum eigenen Vater ist darin eingegangen (siehe die Tagebuchaufzeichnung vom 14. 9. 1970). Deshalb das ohrenbetäubende Dröhnen des Synthesizers: es macht Worte überflüssig, und wie wichtig ist das! Der Autor hat sich hier einem neuralgischen Punkt des eigenen Seelenlebens angenähert. Die nach oben zurückweichende Kamera zeigt das Vaterhaus umgeben vom Ozean Solaris, und die Vision des barmherzigen Vaters wird so zu einer Selbstaussage Gottes. Es bleibt noch genügend Rätselhaftes: Was soll der Regen in der Wohnung zusammen mit dem Sonnenschein? Eine Anspielung auf den Ozean Solaris? Der Ozean heißt Solaris, was allerdings die Sonne ins Spiel bringt. Die Synthese von Feuer und Wasser als Bild des Unfasslichen?

In seinen Bemerkungen im Tagebuch zum Spiegel (1975) meinte der Autor, der Film sei antibürgerlich und religiös und deshalb auf Schwierigkeiten gestoßen (20. April 1976). Es muss allerdings festgestellt werden, dass der Film auch in dieser Hinsicht der rätselhafteste ist. Das Religiöse ist wieder höchst persönlich und scheint nicht so sehr konfessionell gebunden. An anderer Stelle, in den Aufsätzen über „Tarkowskij und die Kunst des Westens“ und über „Die Kunst der Schlüsse“ hatte ich Gelegenheit, dieser Frage ausführlich nachzugehen, weshalb ich mich hier kurz fassen werde. Zu erwähnen sind die Dokumentaraufnahmen über den endlosen Marsch der roten Armee durch den Siwasch-See. Für Tarkowskij waren diese Aufnahmen nach seinen eigenen Worten gewissermaßen das Rückgrat des Films. In seinem Buch beschreibt er die unbändige Begeisterung, als er nach einer gleichfalls fast endlosen Sichtung von Wochenschau-Dokumentationen auf einmal dieses Material entdeckte3. Man sieht zahllose Menschen, Männer, zum Teil schwer beladen, einer ungewissen Zukunft entgegen wanken. Der Horizont verschmilzt mit der hellen, endlosen Wasserwüste. Der Tod ist in diesen Bildern allgegenwärtig. Denn auch wenn das Wasser zum Teil nur knietief war, genügte es, entkräftet hinzusinken, um mit Sicherheit zu sterben. „Es war unmöglich, auch nur für eine Sekunde an die Sinnlosigkeit dieser Leiden zu glauben. Dieses Material sprach uns von der Unsterblichkeit, und das Gedicht Arsenij Tarkowskijs verlieh dieser Episode einen Rahmen, vollendete sie sozusagen.“4 Im dialektischen Widerspruch zur offensichtlichen Endlichkeit des Lebens kommt es zu einem antimaterialistischen (und einigermaßen irrationalen) Credo an die Unsterblichkeit. Im gleichen Zusammenhang erscheint die Episode bei der paramilitärischen Ausbildung mit Asafiew, dem hässlichen kleinen Vollwaisen und Überlebenden der Leningrader Blockade als ein Hinweis auf die allgegenwärtige Vorsehung oder wie es Tarkowskij formulierte: „Mehr oder minder handeln alle meine Filme davon, dass die Menschen nicht einsam und verlassen in einem leeren Weltbau hausen, dass sie vielmehr mit unzähligen Fäden der Vergangenheit und Zukunft verbunden sind…“ (A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.210)

Es folgt die wahrscheinlich auf einer Erinnerung basierende Episode mit dem von der Front heimgekehrten Vater. Man sieht die junge Mutter hockend mit einem Messer Holz spalten. Mit einem Mal die tonlose Stimme des Mannes: „Mariuscha, wo sind die Kinder?“ Ihrem Blick ist klar zu entnehmen, dass alle Gefühle zwischen den beiden erkaltet sind. Im verwahrlosten Garten, spätherbstlich trüb, sehen wir die Geschwister, vielleicht schon neun bzw. acht Jahre alt, neben einem Kunstbuch mit Leonardoreproduktionen. Marina droht ihrem älteren Bruder, sie werde allen sagen, dass er das Buch gestohlen hat. Es wird viel gezankt und gestritten in diesem Film, gewissermaßen von klein auf. Die Seite mit dem Selbstbildnis Leonardos ist aufgeschlagen, die bekannte Vaterfigur mit Wallebart. Dann hört man von weitem die Stimme des Vaters rufen: „Marina!“ Die beiden rennen durch das schmutzige, nasse Laub. Alexei läuft schneller, wie schon am Ende von Iwans Kindheit beim Wettlauf der Geschwister der Junge schneller lief. Aber dann stürzt Alexei und so scheint die Schwester als erste in die Arme des geliebten Vaters zu gelangen. Der Vater in Uniform birgt die Geschwister an seiner Brust. Offenbar sollen wir die dort prangenden Tapferkeitsauszeichnungen sehen. Die Kinder scheinen vor irgendetwas geflohen zu sein. Das Mädchen versteckt ihr Gesicht völlig, und der Junge äugt verschreckt zur Seite. Oleg Jankowskij, der Darsteller des Vaters, hat nicht übermäßig viel zu tun in diesem Film. Er verdankte die Rolle vermutlich der Tatsache, dass er einen ähnlich edel geformten Schädel wie der Vater hatte, mit schön sich wölbender Stirn. Die Mutter beobachtet das Ganze mit kaltem Vorbehalt. Dazu erklingt das Evangelisten-Rezitativ nach dem Tod Jesu vom Ende der Matthäuspassion des Johann-Sebastian Bach: „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebete und die Felsen zerrissen, und die Gräber täten sich auf und stunden auf viel Leiber der Heiligen…“ Wie zur Erläuterung wird das Bildnis der Ginevra de’ Benci (c.1474/1478, Öl auf Holz, 38,1 cm x 37 cm, National Gallery of Art, Washington D.C.) eingeblendet, zunächst buchstäblich mit gleißendem Licht, dann wird uns das Bild zur ruhigen Betrachtung dargeboten. Es muss nicht im Einzelnen die Diskussion des Leonardo zugeschriebenen Frauenporträts wiederholt werden. Tarkowskijs Hinweis, man habe damit „die Dimension des Ewigen“ einführen wollen, ist nur bedingt geeignet unserer Ratlosigkeit abzuhelfen. Sein Kommentar zu diesem Bildnis ist ungewöhnlich ausführlich, es sei einfach „jenseits von Gut und Böse“. (Versiegelte Zeit, S. 114 f.) Soll das das Antlitz Gottes sein? Tarkowskijs Kommentar zusammen mit der Tatsache, dass vom Zerreißen des Vorhangs im Tempel die Rede ist, legen das nahe5. Das Selbstbildnis des greisen Leonardo mit Rauschebart entspricht sehr viel mehr der traditionellen Vorstellung. Die Unauflösbarkeit des Bildes der jungen Frau deutet auf etwas Absolutes hin. Außerdem lässt es uns den Titel des Films tiefer verstehen: wir werden die Ambivalenz des Bildes auflösen, indem es unsere eigene innere Wahrheit widerspiegelt. Im Sinne von Johannes 12, 47 f. ist es nicht Christus, der uns richtet, sondern wir selbst sind es. Dies jedenfalls ist mein Deutungsversuch.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als werde alles von dem bleibenden Zerwürfnis der Eltern überlagert. Tarkowskij hat auf die Parallele zwischen dem Leonardo-Bildnis und Margarita Terechowa, der Darstellerin der Mutter Mariuscha und der Frau Natalja hingewiesen. Im Bildnis wie in der Mutter erscheint das Weibliche kalt und abweisend. Umgekehrt wird dem zurückgekehrten Vater eine fast mütterlich bergende Rolle zugesprochen. Wie gesagt, schienen die Kinder vor irgendetwas auf der Flucht zu sein. Sind sie am Ende gar vor der Mutter geflohen, wird sie geradezu dämonisiert? Mit Fragen dieser Art lässt uns der Film allein.

Abschließend können wir nicht ignorieren, dass der Film am Ende in ein monumentales Gebet einmündet. Alexej, das Ich des Films, siecht dahin, was der sachlich kommentierende Arzt mit den Schuldgefühlen des Mannes erklärt. Wie Tolstojs frühzeitig sterbender Iwan Iljitsch bittet der Mann darum in Ruhe gelassen zu werden und meint, er habe nur glücklich sein wollen. Tolstojs Text hat Tarkowskij nachweislich beschäftigt6. Tarkowskij ergreift mit leichter Hand ein auf der grünen Steppdecke wie siech hockendes Vögelchen, vielleicht eine Lerche, und wirft es in die Höhe. Es ist so etwas wie das Jubilieren von Lerchen zu hören. Wir sind mit einem Mal im blühenden Buchweizenfeld. Den Buchweizen, der im Vorfeld für den Film so wichtig war7, sehen wir endlich in seiner Blüte, aber schon bricht die Abenddämmerung an. Wir sehen die Eltern als junges, glückliches Paar in einer Wiese liegen: sie stützt sich auf seiner Brust auf, den schweren, honigblonden Zopf fast gelöst. Er fragt sie: „Hättest du lieber einen Jungen oder ein Mädchen?“ Eine für Tarkowskij alles andere als gleichgültige Frage. Aber sie gibt keine Antwort, schaut sinnend auf, es arbeitet in ihr, sie beißt sich auf die Lippe, lächelt unter Tränen und erblickt sich selbst in der Ferne wie sie als gealterte, verhärmte Frau durch das Buchweizenfeld eilt, begleitet von den Kindern, wundersamerweise wieder so klein wie in der Eingangszene des Films.

Die große Unruhe der Instrumentalmusik vom Beginn der Johannespassion Johann Sebastian Bachs beginnt in wunderbarer Übereinstimmung mit der Eile der alten Frau und dann setzt mit dem Aufschrei: „Herr, unser Herrscher…“ die Springflut des Chorals ein.

Die Entscheidung über die vom Mann gestellte Frage wird Gott überlassen. Die Kamera wandert über keineswegs nur idyllisches Gelände: wir sehen auf morschem Holz krabbelnde Borkenkäfer, aber auch in einer Grube dunkel schimmernden Zivilisationsmüll, der sich nicht in den Kreislauf des Verfalls fügt. Der kleine Junge bleibt einige Schritte hinter Tarkowskijs alter Mutter zurück und nachdem der Bachchoral verebbt ist, stößt er zwei laute Schreie aus, was uns daran erinnert, dass der kleine Andrej es schon immer dem großen Johann Sebastian Bach gleich tun wollte8. Das Buchweizenfeld verschwindet schließlich hinter den dunklen Baumstämmen eines Waldes und so wird der Beginn von Dantes Göttlicher Komödie ins Spiel gebracht, der am Ende der Szene in der Druckerei zur Stalinära von Lisa Pawlowna, der Kollegin der Mutter, übermütig hüpfend zitiert worden war. Dantes grandiose Vision begann mit einer Verirrung „auf halbem Weg im Dunkel eines Waldes“ und in diese Situation entlässt uns der Film. Schmerzlich schöne Bilder der Vergänglichkeit und ihrer Aufhebung in der Sehnsucht nach Unsterblichkeit sind an uns vorüber gezogen; zugleich aber auch Bilder eines kalten, abstoßenden Alltags und des erschreckenden Weltgeschehens. In seiner Irrationalität und letzten Ehrlichkeit ist das Ganze durchaus mit einem Schrei zu vergleichen, oder ist doch zumindest die Vorbereitung auf den Gebetsschrei, der die Johannespassion eröffnet.

In Stalker (1979) läuft alles auf die nicht „vollzogene“ Dreifaltigkeit vor der magischen Kammer hinaus, wie ich im Aufsatz über Tarkowskij und die Kunst der Ikonen gezeigt habe. Man könnte darauf hinweisen, dass bei Jean-Paul Sartre in seinem Stück Huis Clos (Geschlossene Gesellschaft) von 1944 auch die Dreizahl als Anspielung auf die Dreifaltigkeit eine Rolle spielt, doch ist sie dort, in der Hölle, im Grunde genommen nur noch ein Fluch. Ganz anders bei Tarkowskij: die Dreifaltigkeit als Modell für zwischenmenschliche Beziehungen leuchtet als Möglichkeit in unverhoffter Schönheit inmitten der Unwirtlichkeit der Zone und der Erbärmlichkeit und Niedertracht der Mitspieler auf.

In Nostalghia (1983) spielt die Handlung in einem katholischen Land, was in einem kurzen Aperçu zur katholischen Kirche seinen Niederschlag fand. Ursprünglich war Das Ende der Welt auch als ein möglicher Titel des Films in Betracht gekommen. In meinem Beitrag über Tarkowskijs humoristische Seite habe ich darauf hingewiesen, dass im Film ein ironischer Schlenker in Richtung dieser Endzeitaufgeregtheit enthalten ist. Domenico, der verrückte Mathematiker hatte bekanntlich seine Familie sieben Jahre eingesperrt. Die Badenden im Thermalbad unterhalten sich darüber. Dann wird eine Erinnerungsszene von der Befreiung von Domenicos Familie eingeblendet. Die Polizei hat diese Befreiung bewerkstelligt. Gleich zu Beginn hat Tarkowskij eines seiner widersprüchlichen Bilder komponiert, das ich in meinem Aufsatz über Tarkowskij und die Kunst der Ikonen kommentiert habe. Dann sehen wir in Zeitlupe den kleinen Sohn Domenicos gefolgt von seinem Vater schräg über die vielstufige Eingangstreppe einer Kirche erst hinauf und dann hinuntergehen. Die Szene ist im markanten Gegensatz zu der Beschreibung durch die Badenden charakterisiert: nicht jagt der Vater seinen Sohn wie eine Maus, so dass alle angeblich um das Leben des Kleinen fürchten mussten, sondern er folgt ihm zwar im Lauf, aber seine Schritte werden zögerlich, als sie in die Tiefe hinabsteigen. Domenico trägt einen Koffer mittlerer Größe und einen kleinen, außerdem sonderbare, helle Sandalen. Oben auf der Treppe vor der Eingangstür der Kirche steht ein Priester in Soutane, der Domenico aufzuhalten sucht: „Was wollen Sie?“ Doch der lässt sich nicht aufhalten, sondern stellt lediglich die beiden Koffer ab. Tarkowskijs in langen Jahren erworbene Methode, in sich widersprüchliche Bilder zu komponieren, bewährt sich einmal mehr. Diese winzige Episode ist bei weitem zu rätselhaft, als dass man sie als Polemik nehmen könnte, doch hat man zugleich das bestimmte Gefühl, dass sie sich auch zu triumphalistischen Zwecken wenig eignet. In seiner Position fast zentral vor der Kirchentür hoch oben auf der Treppe wirkt der katholische Geistliche dienstfertig und selbstherrlich zugleich. Ich bin in der glücklichen Lage, viele Priester zu kennen, die den Aspekt der Dienstfertigkeit sehr überzeugend leben, aber es kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass es immer noch genügend Priester gibt, die nie davon ablassen werden, einander Weihrauch zu spenden, von nun an bis in Ewigkeit, um es mal ein wenig zu übertreiben. Insofern ist dieses immer noch aktuelle Porträt nicht einseitig oder ungerecht. Ist die Tatsache, dass der Priester vor die Tür der Kirche kommt eine Anspielung auf das so genannte „Aggiornamento“? Der ursprünglich sehr katholische, französische Regisseur Robert Bresson, den Tarkowskij bewunderte, soll angeblich von den Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht sehr überzeugt gewesen sein. Tarkowskij hat kaum selbst Erfahrungen mit der katholischen Kirche gemacht, nahm allerdings 1983 an einem Meeting von CL (Comunione e Liberazione) in Rimini teil und war sehr angetan davon. Er bewunderte sehr den Film von Luis Buñuel Nazarín (1959), bei dem ihm der antiklerikale Unterton nicht entgangen sein dürfte. Freilich trägt das zum Verständnis dieser gefilmten Episode nichts bei. Was hat das Abstellen der beiden Koffer zu bedeuten? Vielleicht stehen die beiden Koffer in unterschiedlicher Größe für Vater und Sohn. Steht das Gepäck, das sie zurücklassen, für ihre sterbliche Hülle? Das Sterben ist hier ein Thema. Im Hintergrund ist wiederholt das Geräusch einer Kreissäge zu hören, was in diesem Film als ein „memento mori“ fungiert. Also wird dem kirchlichen Ritual die sterbliche Hülle überlassen? Nach dem zögerlichen Gang in die Tiefe die Treppe hinunter wechselt der Film von Sepia zu Farbe. Jenseits einer dunklen Böschung oder Mauer sehen wir bläulich schimmernd den regennassen Asphalt eines kurzen Straßenstücks und jenseits davon auf unbestimmte Weise getrennt durch eine Schlucht ragt eine „Stadt auf dem Berge“ auf: alabastern und kompakt. Während der Dreharbeiten 1979 für den Reisedokumentarfilm Tempo di viaggio zeigte sich der Russe enerviert von de touristischen Schönheiten Italiens. In der Tat hat wenig davon in seinen Film Nostalghia Eingang gefunden. Freilich muss man ihm in Anbetracht dieser Einstellung lassen, dass ihm darin gelungen ist sehr viel von dem, was an der italienischen Landschaft einzigartig ist, zusammenzufassen. Die „Stadt auf dem Berge“, von der das Evangelium spricht, ist eine der faszinierendsten Eigenheiten dieser Landschaft und vom italienischen Künstler Ciro (Roberto Cippolone) wiederholt zum Gegenstand von Kunstwerken gemacht worden. Zufällig sah ich unlängst in der Neuen Pinakothek in München das wunderbare Bild von Hans Thoma „Erinnerung an Orte“ (1887). Es scheint sogar mit dem Filmbild den Straßenabschnitt vorne rechts gemeinsam zu haben. Freilich findet man kaum so malerische Abbildungen im Netz von Orte in der Provinz von Viterbo im Latium. Vielleicht bedarf es eines Künstlerauges. Es kann fast ausgeschlossen werden, dass Tarkowskij das Bild des deutschen Malers kannte. Er war nie in München. Bei Tarkowskij ist das Bild spektakulär und alltäglich zugleich. Während bei Thoma zwei Reiter hoch zu Ross sich sehr anmutig von links nach rechts bewegen, taucht bei Tarkowskij am rechten oberen Ende des gezeigten Straßenabschnitts ein Auto auf um dann unten zu verschwinden. Dann sehen wir Domenicos blonden Sohn, der auf der Treppe sitzt und mit der Frage: „Papa, ist das das Ende der Welt?“ sich zum Vater umwendet und mit großen, dunklen Augen zu ihm hinaufblickt. Gerade im Kontrast mit der endzeitlichen Aufgeregtheit der Befreiung der weggeschlossenen Familie entfaltet das Bild seine Pointe: das Auftauchen und Verschwinden des Autos ist ein Bild für die menschliche Existenz. Jeder individuelle Tod ist „das Ende der Welt“ für das betroffene Individuum. Die Stadt auf dem Berge im Hintergrund fungiert als möglicher Ursprungsort oder/und Zielpunkt der Reise.

Die Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens ist ein Leitmotiv des Films in Antwort auf die im Thermalbad verharrenden Kurgäste, die laut Domenico „ewig leben“ wollen. Die erste Begegnung früh morgens mit Domenico am mittelalterlichen Thermalbad in Bagno Vignoni ist zunächst grotesk: wir sehen drei Herren und eine Dame, einer mit Hut und sie mit Turban, bis zum Hals im dampfenden, schwefelhaltigen Wasser. Einem als General angesprochenen Herrn mit Glatze ist wiederholt die Zigarre ausgegangen. Er lässt sich das auf einem Brettchen trocken gehaltene Feuerzeug reichen. Domenico geht mit seinem Schäferhund am Becken entlang und unterhält sich mit ihm angelegentlich. Er ist bekümmert über das Gerede der im Becken versammelten Gesellschaft, hebt aber hervor, dass man trotzdem gut hinhören, sich nur nicht zu sehr damit aufhalten solle. Unter anderem reden sie auch über ihn, Domenico, und der General bescheidet apodiktisch, dass er schlicht verrückt sei. Dann wendet sich ihre Aufmerksamkeit dem geheimnisvollen russischen Schriftsteller zu, der am Beckenrand steht. Domenico, der sich in einiger Entfernung am Rand des Beckens gesetzt hat, hat nun seinen ersten großen Auftritt, der ihn als Seelenverwandten der Yurodiwy, der Gottesnarren im alten Russland ausweist, die wiederum manches mit den Kynikern der Antike wie Diogenes gemein hatten. Er bittet die vorbeikommende Übersetzerin Eugenia um eine Zigarette, weil er nicht rauche. Vielleicht will er dem paffenden General einen Spiegel vorhalten. Rauchend schreitet er am Becken entlang nach vorn in den Bildvordergrund. Der absurde Wortwechsel über das Nichtrauchen hat vielleicht den Sinn, das Rauchen zu problematisieren und die gleichfalls absurde aber auch polemische Vorstellung zu provozieren, dass der dichte Nebel, der das ganze Becken einhüllt und die Menschen darin einlullt, von ihnen selbst produziert sei, dass sie sich, allen voran der General, also gewissermaßen selbst benebeln. Der mittelalterliche Badeort ist dafür bekannt, dass die große italienische Heilige Caterina da Siena sich dort aufgehalten habe, weshalb sogar ein dort erbautes Kirchlein nach ihr benannt wurde. „Vergesst nie, was Er zu ihr gesagt hat!“ ruft Domenico aus. „Wer?“ fragt Eugenia hinter ihm her. Ohne sich umzudrehen oder zu zögern hebt er den Arm und weist zum Himmel hinauf. „Zu wem?“ fragt sie weiter. Beinahe theatralisch echauffiert dreht er sich um: „Santa Caterina!“ als sei das selbstverständlich. Bald sehen wir die nach links gewendete Silhouette Domenicos monumental im Vordergrund gegen den Nebel. Seine dunkle Strickmütze gibt ihm etwas Mönchisches, fast erinnert er an einen russischen Starez. Unten plätschern die Badegäste verschwommen im Wasser. „Gott sprach zu ihr: Du bist die, die nicht ist. Ich bin, der ich bin.“ Eine sehr mystische Aussage, von der seine Zuhörer im Becken nicht einmal die Hälfte verstehen die aber durch die dunkle Projektion der gewaltigen Gestalt vor das Nebulöse, Weiße etwas eigentümlich Einprägsames erhält. „Domenico spricht mit der heiligen Caterina. Bravo Domenico!“ lacht, johlt und klatscht einer der Zuhörer. Beim müden Gast aus Russland hat Domenico einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Was heißt ‚fede’?“ fragt er die Übersetzerin, ein Wort, das er wohl von der badenden Dame aufgeschnappt hat, deren Cocker Spaniel am Beckenrand wartet. Mit seinem Italienisch gehe es wohl eher bergab stichelt Eugenia maliziös. Fede heißt „viera“, Glauben. Damit ist ein für Tarkowskij wichtiges Stichwort in diesem Film genannt. „Domenico ist nicht verrückt, er hat Glauben!“ behauptet Andrej Gortschakow mit Nachdruck. Darin ähnelt er wohl dem Regisseur, dass er Glauben weniger hat, als dass er davon fasziniert ist.

Später im Film sehen wir den Russen quer durch das Gras der Abteiruine von San Galgano wandeln. Er geht nicht in der Richtung der Kirchenschiffe sondern ist orientierungslos im Wortsinn und ignoriert die Ostung der Kirche. In der ihm eigenen Konzentration hat Tarkowskij die Orientierungslosigkeit touristischer Kirchenbesucher, die seit Jahrzehnten das Bild in historischen Kirchen Europas bestimmen, wiedergegeben. Dazu hören wir eine leiernde Frauenstimme ein in Italien weit verbreitetes Morgengebet intonieren: übertrieben in die Länge gezogen, wie durchhängend und schleppend, vor dem Hintergrund wirrer Stimmen, mehrheitlich von Kindern. Dann werden wir Zeugen eines kurzen Gespräches zwischen einer Frauen- und einer Männerstimme. Sie: „Warum sprichst Du nicht zu ihm?“ „Wie würde er reagieren, wenn er meine Stimme hört?“ „Du musst ihn deine Gegenwart fühlen lassen.“ „Das tue ich ja. Es ist er, der sie nicht wahrnimmt.“ Ein ähnliches Gespräch hatte Tarkowskij am 18. Juni 1979 zu Beginn seiner Reise nach Italien im Tagebuch notiert: ‚Antworte ihm, sprich zu ihm. Siehst du nicht wie er leidet?“ „Und wie soll ich ihm antworten? Was wird er denken? Wird er glauben, dass ich Gott bin? Nein, nein, ich darf auf gar keinen Fall mein Interesse für ihn zeigen.“

Tarkowskij war nach Abschluss der Dreharbeiten fasziniert von der Tatsache wie dunkel der Film geraten war, es schien als habe sich sein innerer Zustand fast unwillkürlich auf das Material übertragen. Der russische Schauspieler Oleg Jankowskij musste sich vor Beginn der Dreharbeiten etliche Wochen in Italien aufhalten, bis ihm der Regisseur den inneren Zustand an der Nasenspitze ansah, in dem er ihn haben wollte. Heimweh muss für Russen ein schlimmer Zustand sein, Tarkowskij ist sich dazu in wortreichen Erklärungen ergangen. Gortschakow wirkt wie entkräftet von dieser verzehrenden Sehnsucht.

Ein heimeliges, flaches Holzhaus zwischen Obstbäumen taucht in der Erinnerung auf. (Tarkowskij hat es in Italien unweit von Rom gefilmt.) Auch erscheint seine liebevoll lächelnde Frau, zierlich mit dunklem hochgestecktem Haar und starken schwarzen Brauen. (Patrizia Terreno, die, wie das Internet lehrt, mittlerweile immer noch auf spiritueller Suche unterwegs ist.) Es gibt eine schwarzweiße Traumsequenz, gewissermaßen das Herzstück dieser Erinnerungen, die wie ein Gedicht komponiert ist. Maria, seine Frau richtet sich in ihrem Bett auf – jemand hat leise ihren Namen gerufen. Es ist eines jener altmodischen Messingbetten, die Tarkowskij seit dem Spiegel in seinen Filmen begleiten und die immer mehr zu einer Chiffre des Käfigs wurden, besonders das Bett „Jungchens“ in Opfer. Hier ist dieser Aspekt nicht vordringlich, sondern das Fußende des Bettes wunderbar geschwungen. Sie steht auf in ihrem Nachthemd, geht zum Fenster, zieht die Gardine zur Seite, um etwas Licht in den Raum zu lassen – sie blickt wie suchend zurück zum Bett. Auf dem Fenstersims, flügelschlagend eine Taube. Eine Seitentür nach draußen öffnet sich langsam eher wie von selbst, wie von Geisterhand. Es herrscht das Grau der ersten Morgendämmerung, langsam versammelt sich die ganze Familie der „Hinterbliebenen“ vor dem Haus, der kleine Sohn mit lichterloh blondem Haar steht da in schwarzem Umhang, den Schäferhund an seiner Seite. Ein junges Mädchen, eine ältere Frau treten hinaus und streifen sich Mäntel über das Nachthemd, wahrscheinlich ist es in dieser frühen Stunde empfindlich kühl. Das Personal entspricht ziemlich genau der Familiensituation des Regisseurs. Während er im Ausland arbeitete, warteten in der russischen Heimat seine Frau, ihre Mutter, seine Stieftochter, sein kleiner Sohn und der Schäferhund Dakus auf ihn. Sicherlich war seine Frau weder dunkel noch zierlich, auch war sein Sohn schon zwölf und ganz und gar nicht blond. Wichtig ist festzuhalten, dass Tarkowskij ein eminent lyrischer Künstler war, der nach Möglichkeit immer sehr nah an seiner persönlichsten Erfahrung bleiben musste. Das war für ihn die Garantie subjektiver Wahrhaftigkeit. Aber dann wurde noch etwas ganz anderes daraus. Die Frauen und der Junge stehen da und scheinen auf irgendetwas zu warten. Ihre malerische Aufstellung wird wiederholt gefilmt in irritierender, nicht realistischer Doppelung. Wie von ungefähr hat sich ein grasender Schimmel dazu gesellt. Ähnlich wie die Birken weckt das weiße Pferd in der melancholisch düstren Landschaft besondere Zärtlichkeit, es scheint irgendwie den Ausweg in eine lichtere Zukunft zu verheißen. Erst sehen wir aus der Perspektive des Hauses das Pferd in größter Entfernung nahe dem umdunsteten Fluss. Dann filmt Tarkowskij aus der Gegenrichtung und das Pferd grast hinter der Gruppe in der Nähe des Hauses. So führt uns der Regisseur in seiner Traumwelt an der Nase herum. Eine lebhafte Musik klingt von sehr weit herüber mit einem orientalisch klagenden Sänger. Das ist nicht russisch, sondern scheint von den Turkvölkern der ehemaligen Sowjetunion herüberzuwehen. Tarkowskijs dichtender Vater hat sich unter anderem einen Namen mit Übersetzungen der Dichtung jener Völker gemacht. Der Hund läuft unruhig am Boden spürend umher: in engster Übereinstimmung mit der Musik. Da ist wieder einmal Tarkowskijs geniale, eminent filmische Findigkeit auf das Prachtvollste am Werk.

Es gibt einen insgesamt sehr lesenswerten Artikel des tschechischen Dichters Petr Král über Tarkowskij9, der sich mit der Sensitivität des Poeten den Eingebungen seiner regsamen Phantasie überlässt. Über diese Szene, die ihn sehr beeindruckt hat, schreibt er aus der Erinnerung und geht dabei gänzlich in die Irre. Angeblich werde über den Lautsprecher der Ausbruch eines Krieges verkündet, was schlicht aus der Luft gegriffen ist. Das ist das Gefährliche an Tarkowskijs Filmen, dass sie eine so stark suggestive Komponente haben. Die Eindrücke gehen eine Symbiose mit unserem Innenleben ein und verändern sich erfahrungsgemäß in der Erinnerung völlig. Tarkowskij sprach bezeichnenderweise vom „Züchten“ der Bilder10, es sollte uns also nicht zu sehr verwundern, dass sie in uns weiter „wachsen“.

Der blechern scheppernde Klang des Lautsprechers erinnert an eher banale Lustbarkeiten der Kindheit, etwa Jahrmärkte, die mit ihrem Rummel und Gesängen aus der Ferne ungemein anziehend wirkten, dann aber mit den gebotenen schalen Vergnügungen meist enttäuschten. Wir sehen die Gesichter aus der Nähe, ihre unnennbare Wehmut. Man hört auf einmal das Nebelhorn eines Schiffes. Das Nebelhorn hörte man schon am Ende vom Stalker, und auch im Opfer lässt es sich wieder vernehmen, aber nie so majestätisch wie hier. (Tarkowskij hat als Kind in Yuryevets an der Wolga gelebt.) Dann kommt die Musik vermutlich von einem Passagierdampfer, auf dem man rüstig bis in die frühen Morgenstunden feiert.

Sogleich nach dem Signal des Nebelhorns geht hinter dem Haus die Sonne auf. Die Frauen die zuvor die unruhige Suchbewegung des Hundes verhalten variierten, als könnten sie die Herkunft der Klänge nicht verorten, wenden sich nun einmütig der Sonne zu.

Bereits am 15. September 1976 hatte Tarkowskij in seinem Tagebuch eine solche Szene mit dem aufgehenden Mond beschrieben, die er mit Frau, Schwiegermutter und Stieftochter erlebt hat. Bei den Dreharbeiten zu dieser Szene, die in einem italienischen Dokumentarfilm überliefert sind, redete Tarkowskij immerzu vom Mond und doch kann kein Zweifel daran sein, dass hier die Sonne aufgeht. So lässt uns der russische Geheimniskrämer wieder einmal im Regen stehen. Das Schiff in der Ferne, der Sänger, die aufgehende Sonne, das alles zusammen ist so etwas wie ein Adventsgedicht: „Es kommt ein Schiff geladen“. Das sind Anspielungen auf die Parusie, die Wiederkunft des Herrn: „ex oriente lux“. Zuvor ging der Blick der Versammelten nach Westen, der Richtung, in der der geliebte Mann verschwunden ist. Dann die Umkehr nach Osten. Und das antwortet auch auf die Orientierungslosigkeit Gortschakows in der Ruine von San Galgano.

Tarkowskij gelingen Bilder von großer poetischer Schönheit, die die spirituellen Tiefen seiner russischen Tradition ausloten. Zugleich ist sein Glaube immer von Anämie bedroht, eine unstet flackernde Flamme. Das Bild der Abtei ohne Dach, in die Flocken poetisch hineinrieseln, greift eine ähnliche Szene schon aus dem Rubljow auf. Rilkes Wort, der „kapellenlose Glaube“, trifft die Situation bei Tarkowskij nicht so ganz, aber doch kennzeichnete ihn eine eigentümliche kirchliche Obdachlosigkeit, die vielen Ureinwohnern der alten Welt, die oft an einer „Gottesvergiftung“ laborieren, verträglicher ist als der felsenfeste, „petrinische“ Glauben der katholischen Kirche, der leicht als Selbstgewissheit missverstanden werden kann, oder gar der „paulinische“ Missionierungszwang (1 Kor 9,16-19) in den Kirchen der Reformation.

Die unstet flackernde Flamme muss ein todkranker entkräfteter Gortschakow durch das wasserentleerte Thermalbad in Bagno Vignoni tragen. Wie Oleg Yankowskij später in einem Interview sagte, wurde ihm vom Regisseur aufgetragen, in dieser endlos langen Szene das „ganze Leben eines Menschen“ zusammenzufassen, vielleicht die Rolle seines Lebens. Während Tarkowskij in anderen Szenen oft in kürzester Zeit eine große bildliche Intensität komprimiert, wird hier dem Zuschauer wirkliche Askese zugemutet, er muss diesen mühsamen Gang mitleiden. Mehrmals erlöscht die Kerze durch einen plötzlichen Windstoß und Gortschakow kehrt an den Ausgangspunkt zurück und schlägt dort die Hand an: es ist wie ein Kinderspiel und das Bild der brennenden Kerze ist ausnahmsweise auch einmal kinderleicht zu verstehen; es steht für das innere Leben, das Leben des Glaubens. Als Domenico ihm dass Herzensanliegen anvertraut hatte, an seiner Stelle dieses Aktionskunstwerk durchzuführen und mit der Kerze das Thermalbad zu durchqueren, kommt er in sein Hotelzimmer zurück, wo Eugenia geduscht hat und mit einem Föhn ihre verführerische Haarpracht trocknet. Kerze und Föhn werden gegeneinander ausgespielt, Innerlichkeit gegen Äußerlichkeit. Äußerlich ist auch die wohlige Wärme des Thermalbads. Das Geräusch des Föhns echot von ferne das der Kreissäge, das memento mori. (Mal ganz abgesehen davon, dass ein Föhn im Badewasser angeblich ein sehr unsanftes Lebensende herbeiführen kann.) Im Film hat das leer gepumpte Becken eine frösteln machende Tristesse. Die knabenhafte, montenegrinisch-italienische Schauspielerin Milena Vukotic kommt mit einer einzigen Nahaufnahme ins Bild. Mit bekümmert-verstörtem Gesicht sammelt sie am Beckenrand im weißlichen Schlamm gefundene Gegenstände, weshalb ein prosaischer Kommentator sie als Reinigungsfrau angesprochen hat: verkleisterte Flaschen, eine altertümliche Baulampe und allerlei Krimskrams, nicht zu vergessen das gleichfalls verschmierte ramponierte Rad eines Fahrrads und eine zerborstene nackte Puppe. Diese Gegenstände hatten ihre Bedeutung zuvor im Film, genauer: im Leben Domenicos und werden für die Erinnerung gerettet, bewahrt, sind aber nachhaltig besudelt. Er hatte vor dem Eingang seiner Behausung ein Fahrrad als Heimtrainer benutzt. Als es regnete, standen unter schadhaften Stellen des Dachs im von Domenico bewohnten, verlotterten Fabrikgebäude munter klingende Flaschen im strömenden Licht. Domenico ließ einige Akkorde von Beethovens Neunter Symphonie erklingen, da erschien im Halbdunkel einer kleinen Wandnische eine nackte Puppe mit verschatteten, „toten“ Augen. (Ein mir befreundeter Anästhesist, der in der Abtreibungsdebatte engagiert war, meinte, als wir gemeinsam diesen Film sahen, jede Frau, die eine Abtreibung vorgenommen hat und dieses Bild sieht, müsse schockiert sein.) All diese Dinge sind vom krankenhausweißen und wohl dennoch ungesunden Schlamm des Beckens überzogen.

Dessen ungeachtet stolpert Gortschakow in kleinen Schritten unbeirrbar seines Wegs. Seine Hindernisse scheinen schwarzmagischer Herkunft zu sein: einmal erlischt die Kerze auf der Höhe eines im Hintergrund umgekehrt am Beckenrand lehnenden Reisigbesens, volkstümlich in ganz Europa als Hexengefährt bekannt. Rätselhaft und wie eine Beschwörung ist auch, dass Gortschakows linke Hand in Richtung Publikum erst zwei, dann drei Finger abspreizt. Hier sind wir, fürchte ich, mitten im uns exotisch anmutenden russischen Obskurantismus. Welche Erleichterung als der Russe mit letzter Kraft das andere Ende des Beckens erreicht, die brennende Kerze mit Wachs auf dem Stein befestigt und mit einem Ächzen zu den ergreifenden Klängen von Verdis Requiem niedersinkt. Er hat „den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet und den Glauben bewahrt“, wie der Apostel sagt (2 Tim 4,7), auch wenn uns Westeuropäern unterwegs manches sehr russisch-irrational vorkommen musste.

Während in Nostalghia ein kurzer Kommentar zur katholischen Kirche Italiens enthalten ist, gibt es in Offret einen noch kürzeren zur lutherischen Kirche Schwedens. Otto beschreibt bei seinem nächtlichen Besuch Alexander in dunklen Andeutungen, wo die Dienstmagd Maria wohnt: auf der anderen Seite des Sees, „gleich hinter der Kirche, die sie geschlossen haben“. Nach dem Traum von seiner Begegnung mit Maria, der Horrorvision der fliehenden jungen Leute in Stockholm, sehen wir Alexander am helllichten Tag mit niedrigem Augenpunkt in starker Verkürzung rücklings im Gras in einem Kiefernhain liegen, so als sei er siech oder liege im Sterben. Zu seinen Füßen sitzt sehr aufrecht und abgewandt Frau Adelaide. In der Ferne hinter ihr ragt ein fensterloser, verdorrter Betonturm auf, aber kein Kirchengebäude ist in seiner Nähe auszumachen. Wegen ihrer aufrechten Haltung identifiziert man sie mit dem einsam ragenden Kirchturm. Dann wendet sie sich langsam zu Alexander um und es stellt sich heraus, dass sie Maria ist – mit Adelaides Kleid und Frisur. Das macht schlagartig den Unterschied der beiden Gesichter deutlich: Adelaide, eine nicht mehr junge, aber immer noch hübsche Frau, deren lebhafte, braune Augen eine eher extrovertierte Sensibilität verraten. Wie ganz anders dagegen Maria, deren tief liegende, verschattete Augen den Eindruck eines Menschen erwecken, der „mit Krankheit vertraut“ ist. In früheren Bildern hat Tarkowskij Maria mit ihrem schwarzen Kopftuch, das eine sternförmige, weiße Silberdistel schmückt, in die Nähe der berühmtesten Ikone der schwarzen Madonna, der Wladimirskaja gerückt, deren Kopf er als Reproduktion immer auf seinem Schreibtisch mit sich führte. Ihr in Schwermut schwimmender Blick erweckt den Eindruck, als könne man in allen Bedrängnissen bei ihr Zuflucht und Verstehen finden. In seinem lakonischen Kommentar zur im Übrigen „geschlossenen“ Kirche Schwedens, bemerkt der visionäre Russe die Abwesenheit der Mutter Maria. Auch kommt hier noch einmal der Wunsch zum Ausdruck, dass seine Frau „anders“ sein sollte.-

Die religiösen Bezüge sind in Offret zahlreich, doch habe ich sie in anderem Zusammenhang behandelt. Vielleicht sollte das Gebet noch eigens erwähnt werden. Denn es kommt einem Mann auf die Lippen, der offenkundig des Betens entwöhnt war. Als der Briefträger Otto Alexander zu Beginn des Films fragte, welches Verhältnis er zu Gott habe, gab er zur Antwort: „Gar keins, fürchte ich.“ Nach der Hiobsbotschaft im Fernsehen sieht man ihn von hinten in seinem Zimmer mit einem Kognakglas in der Hand. Er setzt sich langsam auf den Boden und nach den Worten suchend betet er das „Vater unser“. Dann bittet er flehentlich darum, dass die drohende Katastrophe abgewendet werden möge. Nicht für sich selbst, sondern für seine Familie und Freunde, auch für all die, die sich nicht an Gott wenden, weil sie gleichgültig sind, „weil sie noch nie wirklich unglücklich gewesen sind“. Er verspricht, alles, was ihm lieb und wichtig ist, zu opfern, wenn alles wieder wird „so wie heute Morgen, so wie gestern.“ Es ist gewissermaßen eine besondere Pointe, dass er für die „Wiederkehr des Gleichen“ betet, da doch bei Nietzsche der Gedanke den Sinn hat sich jeder Transzendenz zu verschließen. Die Kamera konzentriert sich auf das von tierischem Schrecken verzerrte Gesicht, als er darum bittet von diesem tierischen Schrecken befreit zu werden. Es führt über den hier gesteckten Rahmen hinaus, dass Otto mit dem Abenteuer bei der „Hexe“ Maria das genaue Gegenteil in Aussicht stellt, dass „das alles aufhört“, die alte Falle der Todesliebe. Alexander begibt sich in seinen Träumen in einen Widerspruch, nicht nur weil er zugleich zu Gott betet und zu Okkultem greift, sondern auch weil sich die damit angestrebten Ziele diametral widersprechen. Alexander wacht am Morgen auf und stellt fest, dass alles ist wie es war, dass die Schreckensvision nur ein Albtraum war. Doch fühlt er sich an das in der Nacht gemachte Versprechen gebunden und geht mit zäher Zielstrebigkeit daran, das Haus in Brand zu setzen. Hätte er das Haus nicht nach Rücksprache mit der Familie verkaufen können, um den Erlös den Armen zu spenden? Tarkowskij hatte in seinem Tagebuch schon am 20. April 1976 notiert, dass Tolstoj wie ein Narr Gottes, ein Jurodiwy, schreiben wollte11 . Offenbar hat sich Tarkowskij diesen Vorsatz für seine Kunst zum Vorsatz gemacht: er wollte ein Fanal, das auch so etwas wie einen Skandal darstellt. Darüber habe ich ausführlich in einem anderen Kapitel geschrieben.

1 Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963 http://www.kinematographie.de/HEFT39.HTM#IK

„Die Gegenüberstellung in der Art Kirche – Krieg, Tempel – Artilleriebeschuss ist schon zu abgedroschen.“

2 Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema, Chicago University Press, London: Reaktion Books 2008, S.42

3 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 138 f.

4 Ebd. S. 139; es ist das Gedicht Leben, Leben!

5 In der Exegese wird nicht die Offenlegung des Allerheiligsten, sondern die bevorstehende Zerstörung des Tempels hervorgehoben Boris Repschinski, „Denn hier ist Größeres als der Tempel“ Mt 12, 6, S. 163 -180 in Volk Gottes als Tempel hg. Andreas Vonach, LIT-Verlag Münster 2008

6 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 113

7 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 141 f.

8 ANDREI TARKOVSKY: PROFOUND, MAJESTIC AND MYSTERIOUS, AN INTERVIEW WITH LAYLA ALEXANDER GARRETT by Jaap Mees http://www.talkingpix.co.uk/Article_Tarkovsky.html

9 Petr Král, Tarkovsky, or the burning house, in der australischen Online-Zeitschrift Screening the Past, März 2001 http://www.latrobe.edu.au/screeningthepast/classics/cl0301/pkcl12.htm

translated from the Czech by Kevin Windle. Originally published inSvedectvi XXIII, No. 91, 1990, pp. 258-68. An earlier and substantially different version, „La maison en feu: sur Andrei Tarkovski“, appeared in Positif 304, June 1986, pps 16-23. This translation is reprinted, with the kind permission of Professor Daniel Gerould, from Slavic and East European Performance, Vol 15 No 3, pps. 51-7, Vol 16 No 1, pps. 51-7, and Vol 16 No 2, pps. 50-56.

10 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 112. Tarkowskij sprach davon in Hinblick auf die japanischen Haikus.

11 Andrej Tarkovskij, Martirologio, Diari 1970 – 1986, Firenze Edizione della Meridiana, 2002

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