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Geniale Regie

September 29, 2014

Wenn man über Genialität bei Andrej Tarkowskij schreiben will, hat man zweifellos die Qual der Wahl. Ich habe Szenen aus drei Filmen im Sinn, die auf sehr unterschiedliche Weise seine Genialität zeigen.

Die erste Szene ist aus dem Film Andrej Rubljow in dem Kapitel über den Überfall von Russen und Mongolen auf Wladimir und gerade einmal ein paar Sekunden lang. Wir sehen von oben auf die Kathedrale von Wladimir, die geplündert wird. Eine Menge Volks wimmelt da unten und wird von Rauchschwaden bedeckt – das alles in Zeitlupe. Da kommen zwei weiße Gänse von rechts oben ins Bild und flattern in Zeitlupe hernieder. Johnson und Petrie gehören zu den wenigen, die dieses Detail kommentiert haben; sie berichten einen kuriosen Sachverhalt. Tarkowskij habe sich nach Aussage seines Kameramannes Vadim Yussow in diesem Fall einmal nicht an eine Regel gehalten, zu der sie übereingekommen waren: keine Überraschungen beim Filmen! Tarkowskij hatte die beiden Gänse irgendwo aufgetrieben und ohne Vorwarnung vor die laufende Kamera geschleudert.1 Johnson und Petrie meinen dieses Detail hebe die „vulnerability“, die Verwundbarkeit des Volkes hervor. Das trifft sicher etwas Richtiges.2 Aber vielleicht wird diese Beschreibung doch nicht der Ambivalenz dieses poetischen Bildes gerecht.3 Tarkowskij hat in dieser Szene sehr vieles zusammengefasst. Bekanntlich gab es als Vorlage des Films eine Art Roman, von dem im Laufe der Dreharbeiten ganze Kapitel gestrichen werden mussten.4 Ein solches Kapitel war der Jagd des Fürsten auf Schwäne gewidmet. Vermutlich rührte die Idee von Peter Tschaikowskijs Ballett Schwanensee her. Ich erinnere mich dieses Kapitel etwas alarmiert gelesen zu haben, alarmiert wegen eines Kitschverdachts, weil dort das trauliche Zueinander des Schwanenpaares beschrieben wurde, wobei der männliche Schwan so etwas wie die Beschützerfunktion übernahm. Mittlerweile habe ich etliche Jahre in Asien gelebt und die Vorstellung der gegenseitigen Ergänzung des Männlichen und des Weiblichen befremdet mich nicht mehr so wie damals. Übrigens wird in der Zeitlupenaufnahme hinlänglich klar, dass es sich um ein Pärchen handelt, denn die Gans links zeigt deutliche Spuren des Bespringens. Das ist mehr drastisch als poetisch und entsprach deshalb vielleicht nicht ganz Tarkowskijs Idealvorstellungen.

Das Motiv der Jagd ist völlig verschwunden. Die Jagd erscheint in Tarkowskijs nächstem Film Solaris (1972) als grundsätzliche Verirrung des Menschen, charakteristisch für die Situation nach dem Sündenfall. Natürlich kann man einwenden, wie würde man ohne Jäger etwa der Fuchsplage Herr. Aber ein Poet wie Tarkowskij darf so grundsätzlich denken. Pieter Brueghel des Älteren Winterlandschaft mit der Heimkehr der Jäger ist in Solaris zusammen zu sehen mit Rembrandts Heimkehr des verlorenen Sohnes, auf das die letzte Szene des Filmes anspielt. Wie gesagt, wird bei der Heimkehr von Kris Kelvin immer auch auf die Jagd angespielt, denn in der heimatlichen Wohnung sowohl der Mutter als auch des Vaters hängt jeweils ein Jagdhorn an der Wand.5 Bei der Jagd auf Schwäne hätte auch so etwas wie Neid mitgespielt. Der Menschheitstraum vom Fliegen ist bei der verunglückten Ballonfahrt zu Beginn des Films thematisiert. Der Sehnsucht nach Erhebung wird dann im übertragenen Sinn von der Kunst entsprochen, die am Ende des Films gezeigt wird. Von dem ganzen Kapitel der Jagd ist also nur dieser Moment mit den beiden weißen Gänsen übrig geblieben und die Szene im Wald als Andrej Rubljow und sein Gehilfe Foma Feofan Grek, Theophan dem Griechen begegnen. Foma findet einen schon halb verwesten Schwan und betrachtet das Wunderwerk seines Flügels. Man könnte sagen, dass nur ein hässlicher Rest geblieben sei, aber in der Kunst gilt, dass man nicht „die Lilie vergolden“ soll, wie eine schöne englische Redensart sagt.

Die Beschreibung des Gänseflugs durch Johnson und Petrie als plumpes und unelegantes Geflatter ist zu einseitig. Schon allein die Tatsache, dass der Flug in Zeitlupe gezeigt wird, sorgt schon für einen gewissen Eindruck der Feierlichkeit: Ein erhabener Flug über das Morden und Brennen darunter. Mir scheint als sei Tarkowskij hier die Verwirklichung eines extrem dichten Bildes gelungen – „der Wassertropfen, in dem sich eine ganze Welt spiegelt“.6 Eine Welt, die voller Unheil ist, in der aber das Wunder der Schöpfung, hier in Gestalt des Vogelpaares, erhalten bleibt. Dass diese Schöpfung vom Menschen zerstört werden kann, gehört zum Drama der Welt. Tarkowskij hat, um zu erläutern, welche Art von Dichtung der von ihm angestrebten Bildlichkeit entspricht, die berühmten Haikus des Japaners Matsuo Bashō (1644-1694) zitiert.7 Hier wäre wegen der evozierten größeren Weiträumigkeit vielleicht eher an den von Bashō sehr bewunderten chinesischen Dichter Li Bai (701-762) aus der Zeit der Tang-Dynastie zu denken, in dessen Gedichten mit konzentrierter, dichter Bildlichkeit der Vogel- und der Wolkenflug eine gewisse Rolle spielte. Freilich sollten die Unterschiede nicht verschwiegen werden. Hier wird der Vogelflug von oben gezeigt, es geht also nicht um ein sich hinauf und in die Ferne Sehnen, sondern um einen Blick aus der Höhe, der nicht nur aus der Vogelperspektive ist, sondern aus der Sicht Gottes.8 Überhaupt ist nicht anzunehmen, dass sich Tarkowskij an chinesischen Gedichten aus der Tangzeit inspiriert hat. Er stand zu der Zeit noch unter dem Einfluss einer gewissen Angst vor „den Chinesen“, besonders deutlich in dem Film Der Spiegel, die er als Rezeptionsbarriere erst im Film Nostalghia überwunden hat. Der Vergleich mit den Gedichten Li Bais soll viel mehr das Niveau an poetischer Konzentration angeben, auf dem sich nach meinem Eindruck der Russe bewegte.

Ohne die Gänse wäre die Aufnahme mit dem Volk in Zeitlupe unter Rauchschwaden mehr oder minder gleichgültig. Mit ihnen wird sie zu einem poetischen Bild für Erfahrung. Es erinnert mich an ein chinesisches Gedicht, das ich vor sehr vielen Jahren in einer Anthologie ostasiatischer Lyrik gelesen hatte und dann nie wieder ausfindig machen konnte. Die Aussage war etwa, dass der Flug der Wildgans keine Spuren hinterlässt und sie dennoch vieles von diesem Flug erinnert. Ein Beweis für die Existenz der Seele, für den man freilich nicht naturwissenschaftlich, sondern poetisch denken muss.

Die zweite Szene, an der ich Tarkowskijs Genialität zeigen will, steht am Anfang des Filmes Der Spiegel (1975). Gerade ist in einem Vorspann am Fernsehen gezeigt worden wie ein schwer stotternder Junge durch Hypnose von seinem Stottern zur Kommunikation befreit worden ist.

Die Mutter des Ich-Erzählers, der aus dem off spricht, sitzt rauchend auf einem Zaun vor einem Buchweizenfeld9 und blickt in die Ferne auf einen Mann, der eine Abbiegung des Weges in ihre Richtung genommen hat. Der Erzähler, der sich hier zum ersten Mal zu Wort meldet, erklärt, dass wenn die Person in ihre Richtung käme, es der Vater sein könne, auf dessen Rückkehr aus dem Krieg sie schon lange warteten. Als der Mann näher kommt, ist es nicht der Vater, sondern ein Fremder, der sich überdies als ein recht unangenehmer Zeitgenosse entpuppt. Es ist Anatolij Solonizyn, der von Tarkowskij bevorzugte Schauspieler, der Andrej Rubljow dargestellt hatte. Er grabscht nach ihrer Hand und fühlt den Puls: er sei Arzt. Als sie meint, sie solle vielleicht ihren Mann rufen, versetzt er mit einem kleinen, höhnischen Lächeln, sie habe überhaupt keinen Mann. Dann lässt er sich sehr angelegentlich von ihr eine Zigarette anzünden und setzt sich neben sie auf den Zaun, der daraufhin zusammenbricht. Das ist Grund zu großer Heiterkeit seinerseits („neben einer hübschen Frau im Gras zu liegen!“), während sie überhaupt nicht amüsiert ist. Er steht auf und spricht davon, dass nach seiner Überzeugung Pflanzen und Bäume fühlen können, uns etwas zu sagen haben, während wir oft nur banales Zeug reden. Das scheint O-Ton Tarkowskij zu sein10, ist aber eine Kommunikation, die nach dem etwas unglücklichen Vorlauf ins Leere geht. Nach einigen enigmatischen Andeutungen hinsichtlich des Krankenhauses, wo er arbeitet, macht sich der Mann wieder auf den Weg zurück zu der Abbiegung, an der er den Weg zu ihr eingeschlagen hatte. Auf dem Weg in einiger Entfernung bleibt er stehen und ein mächtiger Windstoß geht durch das Feld. Der Mann dreht sich um, schaut zurück, noch mal weht ein Windstoß durch das Feld, dann geht der Fremde schließlich weiter. Diese Windböen sollen angeblich von einem Helikopter herbeigeführt worden sein. Helikopter sind sicher auch bei anderen Gelegenheiten in Tarkowskijs Filmen für Luftaufnahmen gebraucht worden. Wieder einmal zeigt sich, dass, wie schon gesagt, geniale Einfälle oft sehr einfach sind. Tarkowskij schreibt, er habe gewollt, dass sich die Begegnung mit dem Mann noch weiterspinnt. Wenn der Mann sich umdrehte, ohne den Kunstgriff dieser Windböen, wäre das zu „eindimensional direkt“ 11 gewesen. Mit diesen Windstößen hat die Szene einen poetischen Ausklang, der sogar die unangenehme Plumpheit im Betragen des Fremden in Leichtigkeit hebt.

Wir blicken auf diese Episode zurück als auf eine misslungene Begegnung. Zugleich kann man sie als eine Einladung verstehen, den Film als eine Mitteilung zu nehmen, bei der wir unbehelligt sind von Umständen, die sonst unser Leben komplizieren, wie etwa wenn ein Mann einer schönen, schutzlosen Frau begegnet.

Als ich diesen Film zum ersten Mal in den 70er Jahren sehen konnte, hatte ich durchaus nicht den Eindruck eines solipsistischen Werkes12, sondern im Gegenteil den eines Angebotes zur totalen Kommunikation. Damals hatte die Italienerin Chiara Lubich einen Diskurs begonnen, der leider etwas in Vergessenheit geraten ist und der überdies meines Wissens in kaum einer Publikation dokumentiert ist. Zu den Ländern des damaligen Ostblocks meinte sie, dass einerseits in diesen Ländern ein echter Kommunikationsnotstand bestand (dem dann von Michail Gorbatschow mit dem bezeichnenden Schlagwort „Glasnost“ der Kampf angesagt wurde) aber andererseits die slawischen Völker eine besondere Begabung und Sensibilität für die Mitteilung haben. Diesen Film empfand ich damals und heute als eine Bestätigung für diese These.

Im Film folgt nun ein Reigen von Bildern von ihren Kindern, den Räumen ihres Blockhauses, ihr selbst, tränenumflort, edel, und es wird ein auch in der Übersetzung betörend schönes Gedicht des Ehemanns Arsenij Tarkowskijs mit einem ätzenden Ende rezitiert:

Unsere ersten Begegnungen

Jede Sekunde unseres Beieinanderseins,

Fest war sie uns,

War uns wie das Erscheinen des Herrn.

Allein auf der Welt.

Kühner und leichter

Warst du

Als die Schwingen des Vogels,

Und auf der Treppe,

Wie ein Taumel liefst du

Die Stufen hinab,

Führtest durch feuchten Flieder

Zu jenen Schätzen

Auf der anderen Seite des Spiegels.

Als die Nacht anbrach,

Ward mir die Gunst gewährt.

Weit offen

Die Pforten des Altars.

Nacktheit schimmerte

Durch das Dunkel.

Und im Erwachen sagte ich

Sei gesegnet

Und wusste doch,

Dies Segnen ist verwegen.

Du schliefst,

Und um die Lider

Mit dem Blau des Weltalls

Zu berühren,

Streckte sich der Flieder

Herab zu dir.

Ruhig waren die

Vom Blau berührten Lider,

Die Hand so warm.

Doch in kristallenem Glas

Pulsierende Flüsse,

Berge rauchten

Und Meere schimmerten matt,

Du hieltest die kristallene Sphäre

In der Hand

Schlafend auf einem Turm, und,

Wahrhaftiger Gott,

Du warst die Meine.

Dann wachtest du auf.

Verwandelt war

Der Menschen Sprache,

Was gestern noch unsicher,

Klanglos verstummt,

Das schwang sich nun

Kraftvoll tönend empor.

Und das Wort „DU“

Entdeckte seinen neuen Sinn,

Es meinte nunmehr

KÖNIG“.

Alles auf Erden verwandelte sich,

selbst einfache Dinge,

Schüssel, Krug,

Als zwischen uns,

wie auf der Wacht,

In Schichten starres Wasser stand.

Es trieb uns fort,

Wir wussten nicht, wohin.

Städte, durch Wunder errichtet,

Wichen von uns

Wie Bilder einer Fata Morgana.

Die Minze legte sich von selber

Uns zu Füßen,

Die Vögel zogen mit uns,

Fische schwammen flussaufwärts

Und vor unseren Augen

Entfaltete sich der Himmel…

Als das Schicksal

Unsere Spur verfolgte

Wie ein Verrückter,

Das Rasiermesser in der Hand.

Das dritte Beispiel ist das umfänglichste. Ich meine die Szene in Nostalghia (1983) auf der Piazza del Campidoglio in Rom, wo der verrückte Physiker Domenico eine Rede hält und sich den Flammentod gibt. Das Reiterstandbild des Marc Aurel war wohl zu Restaurierungszwecken eingerüstet und Domenico ist hinaufgeklettert um vom Rücken des Pferdes seine Rede zu halten. Persönlich glaube ich nicht, dass man etwa in Deutschland dem Regisseur die Erlaubnis zu einer solchen Aktion gegeben hätte. (Mal abgesehen davon, dass ich nicht sicher bin, ob wir in Deutschland Plätze von der gleichen künstlerischen Qualität haben.) Offenbar besteht oder bestand in Italien so viel Respekt vor der künstlerischen Arbeit, dass so etwas möglich werden konnte. An Bedeutung lässt sich in Rom außer dem Petersplatz nichts mit dem Kapitolsplatz vergleichen. Im Unterschied zum Petersplatz geht es beim Kapitol um die zivile Autorität. Der Senatorenpalast ist bis heute Sitz der Stadtregierung Roms. Freilich hat Tarkowskij nichts unternommen, um Michelangelos geniale Gestaltung des Platzes wiederzugeben. Wie auch? Aber indirekt stellt er sie in den Dienst seines Projektes.

In einer seiner langen künstlerischen Pausen verfasste Tarkowskij am 9. September 1970 einen besonders umfänglichen Tagebucheintrag, der große Niedergeschlagenheit über den Zustand der Menschheit spiegelt. Darin finden sich folgende Zeilen: „Die Größe des heutigen Menschen besteht im Protest. Ruhm dem, der aus Protest vor einer dumpfen Menge, die nichts sieht, sich den Flammentod gibt, dem, der auf den Plätzen mit Plakaten und Slogans protestiert, und der der sicheren Unterdrückung entgegengeht…“ Es ist ungewiss, wie er auf die doch sehr extreme Idee der Selbstverbrennung gekommen ist.13 Vielleicht kannte er schon Ingmar Bergmans Film Persona (1966), bei dem eine schreckensstarre Protagonistin am Fernsehen die Selbstverbrennung eines buddhistischen Mönches in Vietnam verfolgt. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten für Nostalghia kannte er den Film mit Sicherheit14. Es wird ihm vorgeschwebt haben, einen ähnlich intensiven Eindruck wie bei den Dokumentaraufnahmen aus Vietnam zu erreichen. Das ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Niemand wird sich gewundert haben, Erland Josephson, den Darsteller von Domenico, anlässlich einer Pressekonferenz nach der Premiere des Films bei leidlich guter Gesundheit zu sehen. Tarkowskij hat einen Kunstgriff ersonnen, bei dem wenigstens für Sekunden die fraglose Gewissheit der Fiktionalität des Geschehens auf der Leinwand erschüttert wird. Als Domenico sich mit Benzin übergossen hat und beginnt mit einem Feuerzeug zu hantieren, wechselt die Kamera zu einem Geisteskranken, der Domenicos Handlungen im Vordergrund imitiert. Wir sehen ihn wie er ein imaginäres Feuerzeug zu entzünden sucht. Domenico steht endlich in Flammen und stürzt sich vom Reiterstandbild um sich dann in Schmerzen zu winden. Wir verfolgen das in der Pantomime des Geisteskranken im Vordergrund. Das bildet die Abbildungssituation des Films ab, problematisiert sie in dieser Doppelung und lässt uns, wie gesagt, für wenige Sekunden ahnen, wie es wäre, wenn das gezeigte Geschehen Wirklichkeit wäre. Das ist mir von jeher an dieser Szene genial erschienen, wenngleich ich zugebe, dass es nicht leicht ist, dem Phänomen analytisch beizukommen.

Genial ist auch wie die Musik in dieser Szene eingesetzt wird. Schon daheim in seiner leer stehenden Fabrik hatte Domenico ein Stück vom Ende der Neunten Symphonie Beethovens gespielt kurz vor dem Einsatz des Chores, dann die Musik abgebrochen und geheimnisvoll von dem wichtigen Unternehmen in Rom gesprochen, das sie vorbereiteten. Am Ende seiner Rede vom Reiterstandbild herab ruft er: „Und jetzt die Musik!“ In das auf geräumigen Treppen regungslos verharrende Publikum kommt etwas Bewegung, jemand klettert zu Domenico hinauf und reicht ihm einen metallisch glänzenden Kasten an, den ich im ersten Moment für eine Lautsprecherbox gehalten habe, weil von Musik die Rede war. Aber es ist ein Benzinkanister. Mit der Musik scheint es Probleme zu geben. Domenico schlägt den Mantelkragen hoch, zieht die Wollmütze tiefer ins Gesicht, übergießt sich mit Benzin und holt, wie gesagt, ein Feuerzeug hervor. Nachdem er mehrfach versucht hat das Feuerzeug zu entzünden, gehen plötzlich Flammen an ihm hoch und zeitgleich setzt die Musik ein: ein Akkord des Orchesters, der nicht glatt eingespielt wird, sondern expressiv hervor bricht, eine audiovisuell realisierte Synästhesie – die Musik „flammt empor“. Dann hören wir den Beethovenchor. Als es heißt: “Alle Menschen werden Brü…“ verendet die Tonaufnahme jäh und wir hören den unartikulierten Schrei Domenicos15, der sich vom Denkmal gestürzt hat und sich nun am Boden vorwärts robbt, bevor er entkräftet liegen bleibt. Schnitt, wir sind zurück in Bagno Vignoni, wo Gortschakow sein Versprechen einlöst und mit einer brennenden Kerze durch das weitgehend trocken gelegte Becken geht.

Erstaunlich wie hier ein Genie mit einem anderen, bzw. genauer gesagt mit zwei anderen umspringt. Es sei daran erinnert, dass der mit Tarkowskij befreundete italienische Dirigent Claudio Abbado, der mit ihm den Boris Godunow von Mussorgskij in London inszeniert hatte, in einem Interview hervorgehoben hat, dass sich Tarkowskij vor anderen Regisseuren durch seinen großen Respekt vor der Musik auszeichnete.16 Tarkowskijs Umgang mit der Musik Beethovens ist souverän, kühn, um nicht zu sagen: verwegen, er schaltet damit, wie es seinen künstlerischen Notwendigkeiten entspricht, wobei er an ein tiefes Geheimnis rührt, das vom Team Schiller/Beethoven bei der Ode An die Freude nicht angesprochen wird, vielleicht weil es ihnen nicht bewusst war: Dass alle Menschen Brüder werden, hat einen Preis. Jesus Christus hat um diese universale Brüderlichkeit gebetet, aber auch mit seinem Leben, mit seinem Schrei der Verlassenheit dafür bezahlt.-17

Die im Unterschied zu dem Geschehen auf dem Kapitolsplatz gänzlich unspektakuläre Aktion von Gortschakow ist aber offenbar als Parallele dazu gemeint. Es ist scheinbar ein Kinderspiel, doch sehen wir den sehr erschöpften Russen nach seiner Herzmedizin greifen. Er vollzieht diesen allem Anschein nach absurden Treuebeweis unter Aufbietung seiner letzten Kräfte. Gegenüber den spirituell eingenebelten, eingeschläferten Besuchern des Thermalbades, die laut Domenico „ewig leben“ wollen, soll die Aktion mit der brennenden Kerze zeigen, dass es bei der irdischen Existenz um eine zeitlich begrenzte Bewährungsprobe geht. Die brennende Kerze steht für den Glauben, das innere, spirituelle Leben. Jedes Mal wenn sie erlischt, geht Gortschakow wie bei einem Kinderspiel an den Ausgangspunkt zurück – er muss es schaffen, die ganze Wegstrecke zurückzulegen und die Kerze am brennen zu erhalten. Vielleicht sollte man noch einmal an den langen Tagebucheintrag von 1970 erinnern. Da hieß es im unmittelbaren Anschluss an die Aussage über die Selbstverbrennung: „Sich über die Möglichkeit zu leben erheben, sich praktisch unserer Vergänglichkeit, unserer Sterblichkeit klar bewusst werden, gerade im Namen des Künftigen, im Namen der Unsterblichkeit. Ist die Menschheit dazu imstande, dann ist noch nicht alles verloren. Dann besteht noch eine Chance.“18

Die Verrücktheit Domenicos, die ihn zum Freitod führt, hat auch die Seite des Protestes gegen eine saturierte, spirituell gelähmte Gesellschaft. Die surreale Starre der am Kapitol versammelten Menschen, ihre Ichbezogenheit, die Konzentration auf den kleinen runden Schminkspiegel etwa, das ostentative Desinteresse, das als bedeutend Posieren eines Herrn mit Hut (der Hut vom Beginn in Bagno Vignoni kehrt wieder) treibt die Situation dieser Gesellschaft auf die Spitze. Einzig der aufheulende Hund Domenicos zeigt eine „menschliche“ Reaktion. Sicher können wir eine Beziehung herstellen zwischen der unnatürlichen, statuenhaften Starre der auf den Treppen um das Kapitol aufgestellten Leute (Sind es nicht Pappkameraden?) und dem Brief des der Leibeigenschaft entronnenen russischen Komponisten Sosnofskijs mit der beklemmenden Schilderung eines Traums, in dem er bei einer Theateraufführung nackt und weiß bemalt wie eine Statue starr stehen muss in der die Füße hinaufziehenden Kälte eines Parks. Er wird von seinem Dienstherren persönlich dabei kontrolliert. Als er es nicht mehr kann, ihn die Kräfte verlassen, wird er wach und stellt fest, dies ist kein Traum, sondern seine Realität. Der Westen stellt sich als allem spirituellen Leben feindlich dar. Tarkowskij gibt mit minimalen Winken zu verstehen, dass die Situation der hoffnungslos „westlichen“ Dolmetscherin Eugenia doch nicht ganz so hoffnungslos ist, wie es scheint. Als Domenico seinen Verbrennungen erliegt, kommt sie die Treppe zum Kapitol heraufgeeilt mit einer Gebärde der Bestürzung, in der Ferne gefolgt von zwei Carabinieri, den Hütern der Ordnung. Weil sie nicht einfach nur teilnahmslos ist wie die anderen Augenzeugen, ist es für sie vielleicht doch noch nicht zu spät zu einer Umkehr.

1 Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky A Visual Fugue, Indiana University Press 1994, p.303, Anmerkung 14: According to the cameraman Vadim Yusov, Tarkovsky broke his own rule of “no surprises during shooting” by throwing the geese in front of the camera without warning.

2 “panic-stricken townspeople milling confusedly in slow motion, their vulnerability accentuated by geese that enter the frame from above, flapping clumsily and awkwardly downwards.” op.cit. p. 95

3 Denselben Vorwurf der Vereinseitigung in der Deutung eines Bildes wird man auch mir machen können, weil ich in Iwans Kindheit die Pferde, die an den auf den Strand gestürzten Äpfeln nagen, als dunkles Bild für das Schicksal der vom Krieg zerstörten Leben der Kinder gedeutet habe, es ist daneben auch ein zauberhaftes Bild von einem sonnenbeschienenen Strand, siehe Tarkowskij und die Kunst des Westens, p.

4 Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow. Die Novelle, Berlin, Limes-Verlag 1992

5 Vgl. das Kapitel Tarkowskij und die Kunst des Westens, p.

6 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, p. 117

7 Ibidem, p.112

8 Der Film legt in gewisser Weise nahe, dass es der jüngere Bruder des Großfürsten ist, aus dessen Perspektive wir das Ganze erleben. Er wird gezeigt wie er in Gedanken versunken höher steigt. Wie so oft vermeidet Tarkowskij Einsinnigkeit.

9 Tarkowskij berichtete davon, wie wichtig das damals war, dass auf diesem Feld wieder Buchweizen wuchs. Sie mussten die Kolchosebauern davon überzeugen, Buchweizen dort anzupflanzen. Die weigerten sich zunächst und behaupteten, dass dort seit ewigen Zeiten kein Buchweizen angepflanzt worden sei. A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, op.cit., p.141

10 Meines Erachtens macht man sich nicht genügend klar, wie wichtig für Tarkowskij die Erfahrung war, ein Jahr lang in der sibirischen Taiga gelebt zu haben. Eine Ausnahme ist: Sean Martin, Live in the House and the House Will Stand: The Role of Autobiography and Lived Experience in Tarkovsky’s Films and Aesthetic, p.6 – 39 in Through the Mirror: Reflections on the Films of Andrei Tarkovsky, edited by Gunnlaugur A. Jónssonand Thorkell Á. Óttarsson, Cambridge Scholars Press 2006. “He walked many hundreds of miles along the river Kureika, where he spent a lot of

time drawing and thinking… his year in the Siberian taiga would serve as a dramatic base line for nearly all his subsequent work: nature is ever present in his films – often celebrated, always mysterious – as is the lone protagonist,

struggling to make sense of his own destiny and, in the later work, that of humanity as a whole.“ p.9

Der Gesprächsstoff mit den Expeditionsgenossen wird irgendwann einmal ausgegangen sein und so konnte sich der sensible junge Mann in langen Stunden der Zwiesprache mit den Elementen der Natur widmen. Von daher macht es Sinn, dass Robert Bird sein Buch zu Tarkowskij nach den Elementen einteilt. (Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema London 2007) Tarkowskijs Überdruss an banalem Gerede, die immer wieder auftauchende Option des Schweigens (Andrej Rubljow legt ein Schweigegelübde ab, im Spiegel hat das Ich wegen einer Angina einige Tage geschwiegen. „Jungchen“ in „Offret“ beginnt wegen einer Halsoperation erst zum Schluss des Films wieder zu reden) wird vor dem Hintergrund dieser Erfahrung in der Taiga verständlich.

11 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, op.cit. p.117

12 So meinte Marius Schmatloch in Tarkowskijs Filme in philosophischer Betrachtung, Gardez-Verlag Remscheid 2003 dem Russen eine „solipsistische“ Tendenz nachsagen zu können.

13 Seinen Tagebuchaufzeichnungen entnehmen wir, dass die Verbrennung des Dominikaners Savonarola in Florenz ihn beschäftigte. Tarkowskij könnte auch mit Domenico ausrufen: „Welcher meiner Vorfahren spricht aus mir?“ In der russischen Geschichte gab es die bekannten Fälle von Selbstverbrennungen der Altgläubigen. Kurz nach Fertigstellung von Andrej Rubljow hatte Tarkowskij in einem Interview gesagt, er würde gern einen Film über den Erzpriester Avvakum, den Anführer der Altgläubigen drehen. Interview von Aleksandr Lipkov am 1. Februar 1967, engl. Übersetzung von Robert Bird in Nostalghia, der kanadischen Tarkovsky-Homepage

14 In einem Gespräch mit Leonid Kozlow 1972 hat Tarkowskij die zehn Filme genannt, die er am meisten bewunderte, darunter auch Persona, zitiert nach Tom Lasica, Sight and Sound, March 1993, Volume 3, Issue 3

15 Es gibt Kommentatoren, die glaubten ausmachen zu können, dass er den Namen seines Hundes schreit: „Zoé, Zoé!“ wobei das griechische Wort zoé im Unterschied zu biós das spirituelle Leben meint. Ich habe mich bislang nicht davon überzeugen können.

16 Im Dokumentarfilm Ebbo Demants, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Andrej Tarkowskijs Exil und Tod, 1987

17 Es ist das Verdienst Chiara Lubichs auf diesen Zusammenhang hingewiesen zu haben; Chiara Lubich, Jesus der Verlassene und die Einheit, Neue Stadt Verlag, 2. Aufl. München 1992

18 A. Tarkowskij, Tagebücher, Martyrolog, 9.9.1970. Es folgt noch die Nachbemerkung: „Die Menschheit hat bereits viel zu sehr gelitten, und so ist das Gefühl für das Leiden bei ihr allmählich verkümmert. Gerade das ist gefährlich. Und daher kann die Menschheit durch Blut und Leiden jetzt nicht mehr errettet werden. Mein Gott, was ist das für eine Zeit, in der wir leben!“

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