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Andrej Tarkowskij und die Kunst des Westens

September 29, 2014

Der russische Maler Romadin, der mit Tarkowskij bei verschiedenen Gelegenheiten zusammen gearbeitet hatte, berichtete einmal davon, wie ein bestimmtes Bild des venezianischen Quattrocento-Malers Vittore Carpaccio Solaris (1972) beeinflusst hat1. Die dabei gesuchten Beziehungen sind so unglaublich subtil und indirekt, dass man entmutigt sein könnte, eine so schwierige Untersuchung überhaupt zu beginnen. Aber ein Anfang muss gemacht werden und ähnlich wie bei meinem Aufsatz über Tarkowskij und die Ikonen ist der gewählte Ansatz denkbar schlicht: die in den Filmen zitierten Kunstwerke werden auf ihre bildliche Verwobenheit in die Filme hinein untersucht. Romadin erwähnte in dem genannten Text, Tarkowskij habe nichts davon gehalten, Filmbilder wie Gemälde zu komponieren. Das hat etwa Fellini versucht, oder später auch Stanley Kubrick, namentlich in Barry Lyndon(1975).

Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey(1968) haben sich Tarkowskij und Romadin vor Solaris genau angeschaut, um zu verstehen, was sie nicht wollten. Tarkowskij hat vermutlich besonders gründlich darüber nachgedacht, was die Eigenheit des Filmbildes ist. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, immer wieder auch bildhaft zu komponieren und Gemälde zu zitieren.

Iwans Kindheit (1962)

Der 12-jährige Iwan ist von einer gefährlichen Kundschaftermission hinter den deutschen Linien unter unglaublichen Gefahren und Strapazen über den Fluss ins russische Quartier zurückgekehrt. Am gesamten Frontabschnitt herrscht in dem vom Film gewählten Zeitraum trügerische Ruhe. Auch für den Jungen, der alle Angehörigen durch die Deutschen verloren hat und deshalb immer auf Rache sinnt, ergeben sich einige Tage erzwungenen Müßiggangs. Hauptmann Cholin fordert Leutnant Galzew auf, für Iwan ein paar illustrierte Hefte „mit vielen Bildern“ zu besorgen. Der kommt mit einer großen Holzkiste nach vorn und bietet Iwan verschiedenes an. Der Junge winkt mehr gelangweilt als belustigt ab: er hat im HQ drei Tage (!) die Zeit damit totgeschlagen, diese Illustrierten durchzuschmökern. Aber da ist doch etwas, was er noch nicht kennt: ein deutsches Kunstbuch mit Drucken von Albrecht Dürer. Das weckt das Interesse Iwans: „Mit Bildern?“

Man kann nur hoffen, dass sich diese Szene als prophetisch erweisen mag und das junge Kinopublikum, ermüdet von der üblichen Kinounterhaltung, die durchaus dem zerstreuten Durchblättern von Illustrierten vergleichbar ist, sich „nach ewig und drei Tagen“ der faszinierend fremden, schwarzweißen Welt etwa dieses Filmes zuwenden wird 2.

Es muss dahingestellt bleiben, wie wahrscheinlich es ist, dass sich ein solches Buch an die Front verirrt hatte und so als Beutegut in die Hände der Russen fallen konnte. Hoch anzurechnen ist dem russischen Regisseur, dass er inmitten der hasserfüllten Welt des Krieges ein solches Element einführt, bei dem die Deutschen, die „Fritz“, nicht nur als Feinde und Nazis, sondern als Kulturnation in den Blick kommen3. (Denn in den meisten Filmen über den zweiten Weltkrieg, die überall auf der Welt populär sind, nur in Deutschland aus verständlichen Gründen selten gezeigt werden, erscheinen Deutsche eher stereotyp als brutale und niederträchtige Hohlköpfe.) Freilich macht Tarkowskij so auch die Fallhöhe dieser Kultur deutlich. Die erste Abbildung, die sich Iwan eingehender anschaut, ist Dürers großer Holzschnitt zur Apokalypse (1498), Die apokalyptischen Reiter. Eine gewisse Komik kommt ins Spiel, weil Iwan die Druckgraphik prinzipiell nicht von Fotografien unterscheidet und behauptet, eine Gestalt wie den im Vordergrund auf einer klapprigen Mähre reitenden „Tod“ mal auf einem Motorrad gesehen zu haben. „Sieh nur wie sie auf den Leuten rumtrampeln!“ Auf Leutnant Galzews etwas lahmen Kommentar, dass sei nur ein Bild, stößt Iwan bitter hervor: „Ach ja? Ich kenne sie!“ Als Iwan erfährt, dass ein Porträt einen Schriftsteller darstelle4 meint er, dass könne nicht sein. Die Deutschen verbrennen Bücher, das habe er selbst gesehen. Lange danach sei noch die Asche in der Luft umher geflogen. Aber wenn der Mann vor 400 Jahren gelebt habe, dann vielleicht. Während dieser Bildbetrachtungen werden wir ständig abgelenkt: wir sehen Leutnant Galzew zu dem Tisch links hinüberspähen, an dem Cholin mit dem Soldaten Katasonow sitzt, der ein defektes Grammofon repariert. Sie besprechen die Einzelheiten ihrer bevorstehenden Expedition auf die deutsche Seite des Dnepr, bei der sie Iwan noch einmal auf eine Mission begleiten wollen. Zuletzt wird noch Dürers ominöses Blatt Ritter, Tod und Teufel, der Kupferstich von 1513, gezeigt – ohne jeden Kommentar. Es bleibt dem Betrachter überlassen, das Bild nachzuschlagen und sich über das dämonische Grinsen des Ritters zu wundern. Als Deutscher sollte man sich ob der Reverenz für Albrecht Dürer nicht von Rührung übermannen lassen, sondern diesen diskreten Hinweis zur Kenntnis nehmen, dass schon damals der Wurm bei uns drin war: in den Zeiten des Dr. Faust, der, wenn man Goethe Glauben schenken darf, „weder Tod noch Teufel“ fürchtete. Im national gesonnenen Deutschland des frühen 20.Jahrhunderts versuchte man sich damit zu beruhigen, dass immerhin „wir Deutsche Gott fürchten“, wenn auch sonst „niemanden auf der Welt.“ Wie sich dann bald erweisen sollte, war es auch mit der Gottesfurcht nicht so weit her.

Hauptmann Cholin und Leutnant Galzew schicken sich an den Raum zu verlassen, als vom Grammophon her die herrliche Stimme des Bass-Baritons Fjodor Schaljapin erklingt. Wie gebannt bleiben die Männer stehen. Katasonow verkündet mit sichtlicher Vorfreude, dass sie diese Schallplatte am Abend hören werden. Mit beidem, Bildern und Klängen, deutet Tarkowskij darauf hin, dass Film Kunst sein kann. Zuvor sahen wir wie Katasonow sachverständig an dem Grammofon hantiert, was indirekt auf den hohen Technikanteil auch des Mediums Film anspielt; und wie gesagt mündet das Hantieren in seelenvollen Gesang.

Der Dürer-Holzschnitt mit den apokalyptischen Reitern hat ein filmisches Nachspiel. Die Pferde treten das Volk in den Staub, aber wichtig für einen so empfindlich auf Textur reagierenden Künstler wie Tarkowskij sind auch die losgetretenen runden Steine überall am Boden. Das stellt eine Beziehung zu einer nicht allzu entfernten Bildersequenz her, einer poetisch verklärten Erinnerung an die unbeschwerte Zeit vor dem Krieg, die aber wie auch die anderen Traumerinnerungen nicht einfach nur sonnig ist. Wir sehen Iwan auf einem mit Äpfeln beladenen Lastwagen zusammen mit einem kleinen Mädchen, wahrscheinlich seiner Schwester. Es regnet und gewittert, aber davon unbeeindruckt sucht Iwan den schönsten Apfel, den er seiner Schwester schenken will5. Sie lehnt ab und er sucht weiter. In einem eigenartigen Reigen kommt mehrfach das Gesicht des Mädchens ins Bild, erst lachend, dann ernster und schließlich traurig. Dann die Katastrophe: ganz unvermittelt stürzt die Karrenladung Äpfel in den Sand am Strand. Hier also liegt die Beziehung zu den Steinen auf dem Holzschnitt im mit Äpfeln übersäten Sand. Der schwarze Kopf eines Pferdes ragt von rechts oben vor dem sonnenbeschienenen, nach dem Schauer dampfenden Strand ins Bild: wahllos nagt es an den Äpfeln, und so auch andere Pferde. Gerade im Gegensatz zu dem zuvor liebevoll Äpfel auswählenden Iwan (gewissermaßen eine Umkehrung der Geschichte von Adam und Eva) wird dies zu einem Bild für das fühllos waltende Fatum, für die zahllos im Krieg zerstörten jungen Leben. Tarkowskij selbst hat diese dunkle Dimension der Szene angedeutet6. Dessen ungeachtet sehen viele Betrachter sie einfach nur als zauberhaft und poetisch, was sie zweifellos auch ist (und Tarkowskijs oft sichtbare ästhetische Bewunderung für Pferde bestätigt dies), aber eben doch nicht nur. Ob der Verweis auf Dürers Apokalypse schon zu diesem frühen Zeitpunkt das spätere Interesse Tarkowskijs für die Thematik der Apokalypse ankündigt, wage ich nicht zu behaupten7. Diese ganze hier betrachtete Traumsequenz wäre dann so etwas wie die Menschheitsgeschichte gleichsam im Zeitraffer: von Adam und Eva bis zum Ende der Welt. Das Wetterleuchten der abwechselnd im Positiv und im Negativ erscheinenden Alleebäume stände für die Wechselfälle der Geschichte, der die Äpfel wählende Junge für die vom Eros beflügelte Suche nach dem Schönen. (In für Tarkowskij charakteristischer Weise ist das Mädchen auf der empfangenden Seite und spornt den jungen Mann durch hohe Ansprüche zu immer neuen Anstrengungen an.) Die zunehmende Trauer des Mädchens stände dann für das Wissen um den kommenden Tod. Tarkowskij wollte bekanntlich vom poetischen Bild, dass es die „Welt in einem Wassertropfen“ spiegelt8.

Am Ende des Films stellt Tarkowskij noch einmal eine relativ indirekte Korrespondenz zu dem Bild mit dem von Äpfeln übersäten Strand her. Nach der plötzlichen Überblendung zu Dokumentaraufnahmen von der sowjetischen Einnahme Berlins, bei der besonders die nach der Selbstverbrennung verkohlten Leichen von Goebbels und seiner ganzen Familie mit vielen Kindern schockiert, sehen wir Leutnant Galzew in einem zerstörten Gefängnis auf dem Boden verstreute Akten sichten. Man hatte mit bürokratischer Akribie Buch geführt über alle Untaten: „Erhängt.“ „Erschossen.“ „Erschossen.“ „Erhängt.“ usw. usw. Der mit Akten übersäte Boden ruft das etwas verharmlosende Bild des mit Herbstblättern bedeckten Waldbodens auf den Plan. Das ist wiederum die Brücke zu dem Traumbild mit dem von Äpfeln übersäten Strand: so viele vernichtete Leben. Dann eine schrille Fanfare, als Galzew die Akte mit dem Bild Iwans entdeckt, wobei uns der Regisseur mit charakteristischer Härte nichts erspart: unrealistischerweise „rollt“ der Kopf und wir sehen, als er anhält, Iwans hasserfüllten Blick in seinem geschundenen Gesicht. Das Schicksal eines Einzelnen hat der Film stellvertretend für viele andere vorgestellt. Eines der Wunder dieses Films bleibt für mich, dass die lichte Szene am Strand ganz zum Schluss die Furchtbarkeit der Szene in Berlin gewissermaßen aufwiegt und fast vergessen macht.

Andrej Rubljow (1966)

Man hat viel Aufhebens davon gemacht, dass Tarkowskij sich in dem Kapitel des Films Die Passion Andrej Rublows an den Gemälden Pieter Bruegels inspiriert habe. Ganz sicher ist die Tendenz, das gleichmütige Treiben der Welt im Vorder- und Hintergrund der Passion zu zeigen, etwas, was Tarkowskij bei dem Flamen aufgefasst haben kann. Aber andererseits ist das Wehklagen und die Devotion einiger der Augenzeugen (und besonders der Augenzeuginnen) doch so russisch-heftig, dass sich Betrachter wie Slavoj Zizek und der Autor der Cahiers du Cinéma, Antoine de Baecque, in ihren irreligiösen Gefühlen verletzt fühlten 9.

Andere Hinweise auf die Kunst des Westens konnte ich in diesem Film kaum finden. Doch gibt es so etwas wie einen Seitenhieb auf die moderne Kunst, der mit einem Streich die groß angelegten Bemühungen des CIA, Abstract Expressionism als die Kunst des freien Westens zu preisen, post festum desavouieren könnte10. Andrej Rubljow wird von Zweifeln blockiert: er soll das Jüngste Gericht malen, will aber nicht die Menschen mit Horror-Szenarien schrecken. Viel zu lange schon hat er nicht gemalt. Da kommt es in der Kirche, deren Wände in der Vorbereitung weiß getüncht worden waren, zu einem Ausbruch wilder Wut. Wie rasend steckt Rubljow die Hände in eine dunkle Flüssigkeit, beschmiert damit die Wand und verbirgt dann erschüttert sein Gesicht; wir sehen nur seine besudelte Hand zucken. Tarkowskij lässt die weiße Wand den gesamten Bildausschnitt füllen, das „Kunstwerk“ erscheint wie gerahmt. Das sieht sehr tachistisch oder wie Action Painting aus. Als Signatur hat Rubljow darüber einen Abdruck seiner Hand hinterlassen. Nun kommt eine (offenbar stumme) Schwachsinnige in die Kirche geirrt und bricht beim Anblick der verschandelten weißen Wand in Tränen aus. Es scheint als wolle sie diese Schmiererei ungeschehen machen: sie reibt darüber und schnuppert dann an ihren Händen, was den versteckten Humor des Regisseurs wittern lässt… Die Aussage ähnelt hier der des verrückten Domenico in Nostalghia (1983) bei seiner verworrenen Rede auf dem römischen Kapitol. Gegen Ende ruft er aus: „Aber was ist das für eine Welt, wenn ein Verrückter euch sagen muss, dass ihr euch schämen sollt!?“ Tarkowskij hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er die moderne Kunst der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts für eine Verirrung hielt11. Er wurde von dem Filmhistoriker Hans-Joachim Schlegel auch deshalb als „Der antiavantgardistische Avantgardist“ apostrophiert12. Der Handabdruck („the myth of the fingerprints“, Paul Simon) ist die treffsichere Kennzeichnung einer Kunst, die nichts Höheres als die Bestätigung der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Egos kennt.

Solaris (1972)

Der Maler Mikail Romadin hat in dem eingangs erwähnten Artikel die indirekte Art erwähnt, in der Kunstwerke das Schaffen Tarkowskijs beeinflussten. Bei den Gemälden des venezianischen Malers Vittore Carpaccio (circa 1460 -1525/6) hatte Tarkowskij bei den vielfigurigen Gemälden aufgefasst, dass diese Menschen keine Notiz von einander nehmen, völlig in sich gekehrt sind. Das versuchte er in seinen Film dergestalt zu übertragen, dass der Protagonist, Kris Kelvin, zu Beginn des Films von dem strömenden Regen, in dem er steht, keine Notiz nimmt. Als der litauische Schauspieler Donatas Banionis dann doch unwillkürlich fröstelnd schauderte, war Tarkowskij enttäuscht und meinte die Aufnahme sei ruiniert. Dass Äpfel auf dem Tisch liegen (ein angebissener wird eingehend von einem Insekt inspiziert) und Regen die noch halbgefüllten Teetassen verwässert, lässt jede deutsche Hausfrau ungläubig den Kopf schütteln. Übrigens scheinen auch Iwan und seine kleine Schwester auf dem Lastwagen mit Äpfeln in Iwans Kindheit nicht im Geringsten von dem strömenden Regen in ihrer Seligkeit beeinträchtigt zu werden. Im Gegenteil: zunächst liegt das Mädchen auf dem Rücken mit in glückhafter Empfänglichkeit gespreizt nach oben gestreckten Armen. (Als das Mädchen schließlich düster dreinblickt, hat es aufgehört zu regnen und ihr Haar ist trocken!) Mir scheint, dass Tarkowskij bei dem Carpaccio-Gemälde eine Qualität auffasste, die er fortan an seinen Figuren akzentuiert hat. Eine bestimmte Art der emotionalen Introversion, die der Regisseur vielleicht als typisch russisch empfand und der Tendenz des westlichen Kinos, alles möglichst restlos zum Ausdruck zu bringen, entgegenstellte13.

Später in Solaris findet sich auf der Raumstation eine mit Kunstdrucken ausgestattete Bibliothek, die die Erinnerung an die Erde lebendig erhalten soll. Es sind ganz verschiedene Kunstgegenstände dort versammelt, aber am markantesten positioniert sind die Monatsbilder von Pieter Bruegel dem Älteren. Wirklich eingehend werden Die Jäger im Schnee betrachtet (1565, Öl auf Eichenholz, 117×162 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum) Bei einer ersten Betrachtung hören wir Hundegebell und allerlei unheimlich klirrende Geräusche. Akustisch wird also zunächst Fremdheit evoziert. Das Anheimelnde alter Bilder und insbesondere auch der Bilder Bruegels wird verfremdet. Die heimkehrenden Jäger fühlten sich nicht weniger kalt und unbehaust wie die Kosmonauten auf der Raumstation. Die drei Männer stapfen mit gesenkten Köpfen durch den Schnee, begleitet werden sie von einem Rudel dürrer Jagdhunde. Vor ihnen liegen Bauerngehöfte und ein Dorf, alles tief verschneit und in eisiger Kälte. Auf zugefrorenen Teichen vergnügen sich Schlittschuhläufer. Die Jagd war nicht erfolgreich, sie wird zu einem Bild für die Verirrung des Menschen. Bruegel schien das so zu sehen. Tolstoj, von dem Tarkowskij in seinem letzten großen Interview mit den polnischen Journalisten Jerzy Illg und Leonard Neuger sagte, dass er die für ihn bei weitem wichtigste Figur der russischen Tradition gewesen sei, war gegen die Jagd, obwohl er ihr in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, als er Krieg und Frieden schrieb, noch gefrönt hatte 14.

Wie angekündigt tritt dann eine Phase der Schwerelosigkeit ein. Der Protagonist Kris Kelvin und die wiederbelebte Hari scheinen zu den Klängen von Johann Sebastian Bachs Orgelpräludium zum Choral Ich ruf’ zu dir Herr Jesu Christ (BWV 639) eng umschlungen in das Bild hineinschweben zu wollen. Schon bei der Betrachtung des von Kris mitgebrachten Films mit Aufnahmen der nächsten Angehörigen war die gleiche Bach-Musik erklungen. Sie ist sicherlich geeignet die Sehnsucht nach Heimat und zugleich die Gewissheit der Heimkehr zum Ausdruck zu bringen. Erst diese Musik beseelt das Bild, unterstreicht seinen humanen Aspekt und gibt ihm eine Note der Zuversicht.

In den Schlussbildern des Filmes, die eine Fieberfantasie des Protagonisten zu sein scheinen, sehen wir ihn zum Haus des Vaters heimgekehrt. In der Einrichtung des Hauses können wir eine Anspielung auf das Jägerbild finden: ein Jagdhorn hängt an der Wand. Der Vater wird im Haus von Regen durchnässt (ein dezenter Hinweis auf Tränen?) Seine Jacke dampft im Regen und Sonnenschein – wieder die unmögliche Verbindung von Regen und Sonne, von Wasser und Feuer, die bei Tarkowskij in Iwans Gewittertraum zum ersten Mal aufschien und immer wiederkehren sollte. Kris Kelvin fällt vor dem Vater auf die Knie und sucht bei ihm Geborgenheit. Eine Geste, die in ihrer monumentalen Einfachheit eindeutig auf Rembrandts Bild von der Rückkehr des verlorenen Sohnes anspielt, das sich pikanterweise mitten in der Sowjetunion in der Eremitage von St. Petersburg, damals noch Leningrad, befand und befindet. (1668, Öl auf Leinwand, 262x 206cm)

Die Kamera fährt zurück und wir verstehen, dass das Vaterhaus mitten im Ozean von Solaris liegt.

Begreiflicherweise hatten die sowjetischen Behörden einiges an dem Film auszusetzen, man machte es dem Regisseur zur Auflage Anspielungen auf Gott und Christentum auszumerzen, aber Tarkowskij widerstand erfolgreich diesen Bevormundungen.

Der Spiegel (1975)

In diesem Film erscheint wie in Iwans Kindheit ein Kunstbuch, dieses Mal mit Reproduktionen von Werken Leonardo da Vincis. Der Meister der Hochrenaissance hatte für Tarkowskij eine immer größere Bedeutung. Neben dem Regisseur Robert Bresson, Johann Sebastian Bach und Leo Tolstoj war er eine der Persönlichkeiten, die ihn bis zu seinem Lebensende prägten15. Im Film blättert Andrej als kleiner Junge in diesem Kunstbuch, die Vorlieben von irgendjemandem sind angedeutet, indem ein getrocknetes Baumblatt eingelegt wurde, etwa bei der Studie für den Christus des Abendmahls.

Eine zentrale Bedeutung bekommt in dem Film das Porträt einer jungen Frau vor einem Wacholderstrauch, dessen Eigenhändigkeit umstritten ist. (die sogenannte Ginevra Benci, 1474-1478, Öl und Tempera auf Holz, 38,5x 36,7cm, National Gallery, Washington D.C.). In seinem Buch kommt Tarkowskij auf dieses Bild zu sprechen16. Er beschreibt die Ambivalenz der Wirkung dieses Porträts in eindringlichen Worten. „In ihr gibt es etwas unerklärlich Schönes und etwas ausgesprochen Teuflisches, was zurückschrecken lässt.“ Die bleibende Faszination liege darin, dass sich diese verschiedenen Momente nicht auseinanderdividieren lassen. Im Film erklingt dabei ein Bachrezitativ, wo es heißt: „Der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.“ Also wurde das Allerheiligste sichtbar. Im Film fällt dieses Zitat mit dem Augenblick zusammen, als der von der Front heimgekehrte Vater Sohn und Tochter in den Armen hält.

Das Porträt habe, so Tarkowskij, die Dimension des Ewigen in den Film eingeführt. Außerdem habe es eine Beziehung zur Protagonistin des Films, der Schauspielerin Margarita Terechowa, hergestellt, die ebenfalls anziehend und abstoßend zugleich sein konnte.

Vielleicht können wir hier verstehen wie der Film zum Spiegel werden konnte, denn der Betrachter lässt die Ambivalenz auf die Dauer nicht gelten, er entscheidet sich für eine Deutung des Ausdrucks. So soll der Film zur Spiegelung der eigenen Wirklichkeit werden. Der Film wird als Spiegel zum Gericht. Wieder gewinnt man den Eindruck, dass bei Tarkowskijs Kunstauffassung eine Dialektik im Spiel ist, die ihn in Widerspruch zu der offiziellen Kunstauffassung im Sozialismus treten ließ. Der Sozialismus verlangte von der Kunst Parteilichkeit. Im dialektischen Widerspruch dazu wollte Tarkowskij, dass seine Kunst das ganze Leben abbilde, ohne zu offenkundig Partei zu ergreifen: nicht einmal für das Gute und gegen das Böse, für das Licht und gegen die Finsternis. Ich muss gestehen, dass dies einer der Aspekte in der Kunstauffassung Tarkowskijs ist, bei denen mir Fragezeichen bleiben17. Bis zuletzt hat Tarkowskij bei der Komposition seiner Filmbilder diese „Tendenz gegen die Tendenz“ beibehalten. So kommt es, dass es bis zum heutigen Tage Interpretationen etwa von Tarkowskijs letztem Film Opfer gibt, die in ihm ein Plädoyer für Nietzsches Willen zur Macht und der ewigen Wiederkunft sehen. Wie es im Johannesevangelium heißt, wir werden nicht gerichtet, sondern wir richten uns selbst.

In einer anderen Episode des Films geht es um eine Schießübung bei der paramilitärischen Ausbildung von Jungen während des Krieges. Einer der Jungen, Asafiew, weigert sich zu funktionieren, widersetzt sich dem Ausbilder. Dieser Junge hat die Blockade von Leningrad überlebt und seine Angehörigen verloren. Mit der Attrappe einer Handgranate gelingt es ihm den Ausbilder und die Kameraden in Angst und Schrecken zu versetzen, sie gewissermaßen an seinen Erfahrungen Anteil haben zu lassen. Der klirrende Frost, in dem diese Szene spielt, vermittelt vor allem die emotionale Kälte, die Abwesenheit des Mütterlichen. Als die Handgranate über die Holzpaneelen rollt, werfen sich alle auf den Boden. Dem Ausbilder fallen die Mütze und auch ein Kunststoffschutz vom Kopf. Ihm fehlt offenbar ein Stück der Schädeldecke und wir sehen ein pochendes Pulsieren unter einer Narbe. Der so kalt und hartherzig wirkende Mann zeigt sich auf einmal selbst als verletzlich und schutzlos. Das allgemeine Mitleid, von dem Tarkowskij gelegentlich sprach18, kommt uns an.

Etwas später sehen wir diesen unglücklichen Jungen vor einer mit vielen Menschen belebten weiten Winterlandschaft. Diese Szene ist häufig als Zitat des Bruegel-Gemäldes, das in Solaris gezeigt worden war: Die Heimkehr der Jäger im Schnee (s.o.) angesprochen worden. Tarkowskij selbst hat bekannt, dass er in dieser Szene die Nähe zu Bruegel gesucht habe19. Ich möchte aber noch eine andere Beziehung hervorheben, die für Tarkowskij wichtig war und die weniger offensichtlich ist. In Die versiegelte Zeit spricht er von den vielfigurigen Bildern des venezianischen Meisters Vittore Carpaccio. Als das Besondere von dessen Kunst hat er die Tatsache hervorgehoben, dass jeder der vielen dargestellten Menschen Mittelpunkt des Ganzen sein könne20. Vielleicht sah er etwas Ähnliches auch bei Bruegel. Genau darum scheint es in dieser Szene zu gehen: ein Sperling fliegt herbei und setzt sich auf den Kopf des Jungen. Ein poetischer Hinweis darauf, dass er gemeint ist, dass an ihn gedacht ist. Und das gilt auch für einen Jungen, dem das Leben alles versagt zu haben scheint, der nicht hübsch oder sympathisch ist21. In der nur für diesen Film Tarkowskijs typischen Collagetechnik ist diese Szene unmittelbar umgeben von Bildern weltgeschichtlichen Schreckens: die Leiche Hitlers, eine schrecklich vervielfältigte Maobüste, Atompilze. Offenbar muss man das als Behauptung verstehen, dass diese Aufmerksamkeit für den Einzelnen trotz all dieser Schrecknisse besteht22. Im Film Stalker (1979) wurde, wie schon gezeigt, die Dreifaltigkeitsikone wichtig. Die Kunst des Westens kommt nur sehr am Rande vor, wie die Reproduktion vom Johannes dem Täufer am Genter Altar des Jan van Eyck und Rembrandts Radierung mit den drei Bäumen als Anspielung auf die Dreifaltigkeit, die von Wasser bedeckt in der Zone herumliegen. Die Deesis des Genter Altars mit Maria und dem Täufer zu Seiten des Pantokrators schlägt die Brücke zur byzantinischen Kunst, zur Kunst des Ostens.

Nostalghia (1983)

Zu diesem Film liegt eine Dissertation von Julia Selg vor, die nachzuweisen sucht, wie vielfältig Tarkowskij hier die Kunst der alten Meister zitiert.23 Mein Eindruck ist sehr zwiespältig. Einerseits geht die Autorin mit einer Genauigkeit der Beobachtung an den Film heran, der Maßstäbe setzt, andererseits überzeugt mich nicht, Tarkowskij habe kryptisch und „dislozierend“ zitiert. Man könnte sagen, der Film Nostalghia nehme eine Sonderstellung ein, weil er in Italien realisiert wurde und die Meister der Renaissance allgegenwärtig sind. Gerne gebe ich zu, dass Eugenia als Typ mit ihrer rötlich-blonden Lockenpracht an die Renaissancekunst Italiens erinnern soll. Als sie ihr Haar hochgesteckt in einem Barett verborgen hat und sich vor einem rundbogigen Türrahmen ins Profil wendet um Sosnofskijs Brief zu lesen, erinnert das von ungefähr an eine Madonna (alias Lucrezia Buti) von Filippo Lippi (freilich seitenverkehrt: 1465, Florenz Uffizien), bei der die unendliche Zärtlichkeit, mit der fra Filippo Lippi ihren Kopfschleier gestaltet hat, noch sehr viel von der feinen Geistigkeit des Mittelalters enthält. Möglicherweise aber steht auch die lesende junge Frau des von Tarkowskij so bewunderten Carpaccio im Hintergrund. (Das Bild in der National Gallery of Art, Washington DC, konnte er nur als Reproduktion kennen, aber nachweislich beeindruckten ihn auch Reproduktionen.) Er hat hier eher so etwas wie eine Synthese von Renaissanceeindrücken geschaffen. Vielleicht geht es noch an, ein Zitat von Botticellis Venus in der Szene zu sehen, als Eugenia am Fenster in Gortschakows Hotelzimmer ihre Brust entblößt24, aber in Eugenias misslungenem Versuch in der Krypta niederzuknien Anspielungen auf Matthias Grünewalds Verkündigung vom Isenheimer Altar und zwar sowohl auf den Engel als auch auf Maria zu sehen, geht zu weit25.

Bei der Madonna del Parto Piero della Francescas öffnen zwei Engel weit das die Madonna überwölbende Zelt. Die hochschwangere Madonna scheint sich analog dazu anzuschicken vor ihrem Leib das blaue Gewand zu öffnen, hinter dessen langen von der Brust bis zur Scham reichenden Spalt das weiße Untergewand sichtbar wird. Das ist eine Anspielung auf ihren sich zur Geburt öffnenden Leib, die wegen ihrer elementaren Direktheit einen starken Eindruck hinterlässt. Genau dieses Motiv des Öffnens eines zugenähten, oder zugeknöpften Gewandtuches greift Tarkowskij vor dem Gnadenbild auf. Eine der in der Bittprozession versammelten Frauen öffnet den das Gnadenbild verhüllenden Vorhang mit leichter Gewalt und dann schwirren zwitschernde Vögel hervor: „la veloce fiamma dei passeri“ wie es in einem frühen Gedicht von Mario Luzi heißt: „die schnelle Flamme der Sperlinge“26. Um zu erfahren, ob die von den Frauen gemurmelte Litanei, die die Segen der Mutterschaft beschwört, auf eine Vorlage zurückgeht oder ein Werk Tarkowskijs ist, müssen wir die weiteren Veröffentlichungen des Istituto Andrej Tarkowskij in Florenz abwarten.

Sehr viel später im Film wird noch einmal eine hochpoetische Beziehung zur Madonna del Parto hergestellt. Als der Verrückte Domenico auf der Piazza del Campidoglio seine wirre Ansprache beendet hat, findet er in seiner Manteltasche einen Zettel und er bemerkt, dass er noch etwas vergessen hat. Er ruft aus: „O Madre, o Madre! L’aria è quella cosa leggera che ti gira intorno alla testa. E diventa più chiara quando ridi. (Oh Mutter! Oh Mutter! Die Luft ist jene leichte Sache, die sich um deinen Kopf dreht. Und sie wird noch heller, wenn du lachst!)“ Wenn man sich im Film Nostalghia umschaut, worauf sich diese Aussage beziehen könnte, kommt meines Erachtens nur eine Nahaufnahme der Madonna del Parto in Frage, die direkt nach dem „Wunder“ in der Krypta eingefügt ist27. Sie zeigt Piero della Francescas überaus subtil gestaltetes Licht auf dem Gesicht der Madonna. Zunächst wirkt Domenicos Formulierung alles andere als poetisch. Die ungreifbare, unsichtbare Luft mit „quella cosa“ zu bezeichnen, teilt ihr eine ungelenk wirkende Sperrigkeit mit. Tarkowskij hat den Nimbus der Madonna über ihrem Kopf, dem vom Renaissancemaler eine tellerartige Solidität gegeben wurde (für den von Rubljow kommenden Russen vielleicht der Anfang spiritueller Barbarei), und das auf ihrem Haar in schwingenden Kurven gewundene helle Band zum Ausgangspunkt für eine Vorstellung genommen, die die Luft um den Kopf in Bewegung bringt und in einer noch größeren Helligkeit kulminiert, wenn sie lacht. Die sonnenklare Nüchternheit und feine Geistigkeit der Madonna del Parto wird so unverhofft überhöht. Im Anbetracht der Melancholie, die gerade diesen Film durchtränkt, und der Tatsache, wie die Szene auf dem Kapitol beklemmend absurd in einer Verzweiflungstat mündet, nimmt dieses Intermezzo mit dem in der Manteltasche vergessenen Zettel doch sehr wunder. Vielleicht stoßen wir hier wieder auf die Aussage Gortschakows über Domenico: „Er ist nicht verrückt, er hat Glauben.“ Schon in Iwans Kindheit findet sich am Ende die extreme Entgegensetzung der furchtbaren Montage von Iwans rollendem Kopf, dem Foto mit seinem von Misshandlungen entstellten Gesicht und dem hasserfüllten Blick auf der einen Seite gegenüber den verklärenden Bildern vom Versteckspielen am Strand und dem Lauf ins von Licht flirrende Wasser – in meiner Deutung ein Hinweis auf den Glauben an die Unsterblichkeit28.

Wohl etwas voreilig war ich zu der Überzeugung gekommen, dass Tarkowskij in Nostalghia in keiner Weise auf Michelangelos Gestaltung der Piazza di Campidoglio Bezug genommen hat. Aber ist es wahrscheinlich, dass jemand wie er ohne wenigstens einen kurzen Gruß in Richtung des verantwortlichen Meisters diesen Platz betritt? Michelangelo hat das antike Reiterstandbild des stoischen Philosophenkaisers Mark Aurel, das in der antikenfeindlichen Zeit und im Mittelalter nur überdauern konnte, weil man in ihm irrtümlich Kaiser Konstantin zu erkennen glaubte, ins Zentrum des Platzes gerückt und diesen zum Symbol der weltlichen Macht im caput mundi gemacht. Da hat Tarkowskij seinen Helden Domenico gern hinauf geschwungen, und man staunt wie er die Erlaubnis dazu bekommen haben mag. Das Reiterdenkmal, das man mittlerweile vor Abgasen in Sicherheit gebracht hat, war damals zu Restaurierungszwecken mit Metallrohren eingerüstet, was aber den poetischen Höhenflug des Russen nicht aufhalten konnte. Im Gegenteil: als der Wirrkopf Domenico nach seiner angeblich tagelangen und deshalb laut Eugenia an Fidel Castro erinnernden Predigt schließlich unbeirrbar Feuer an sich legt und hinter dem wegweisenden Kaiser stehend in Flammen aufgeht, erinnert das Ensemble für einen Augenblick an einen mit Feuerzungen beflügelten Pegasus. Ein utopischer Slogan vom Pariser Mai 68 war somit für die Nachwelt gerettet: „Die Phantasie an die Macht!“

Das Stichwort Slogan leitet über zu dem wirklichen Anknüpfungspunkt mit Michelangelo. Ich meine nicht die paar kleinen Pappkartons, deren Aufschriften, wie an anderer Stelle erörtert, zum Teil Zeugnis geben von Tarkowskijs grimmig-zärtlichem Humor, sondern das eigenartige Spruchband, das über den ganzen Platz der Länge nach verhängt ist. Auf den ersten Blick könnte man meinen, man habe hier langärmelige weiße Unterhemden vor sich, die an den Ärmeln miteinander verknotet sind. Dem ist wohl nicht so. Aber diese Anmutung ist wichtig, greift sie doch eine Aussage aus der Rede Domenicos auf, der seine Zuhörer auffordert: „Ihr so genannten Gesunden und ihr so genannten Kranken müsst Hand in Hand gehen…“ was in zerreißendem Gegensatz steht zur Vereinzelung und Erstarrung der auf Platz und Treppen Versammelten. Michelangelo kommt ins Spiel mit dem genialen Entwurf der geometrisch auf die leicht ansteigende Platzmitte mit dem Denkmal hin geordneten Musterung durch weiße Steinbänder. Diese ovale Musterung ist ästhetisch so faszinierend, dass sie etwa auf der italienischen 50-Cent-Münze nach einem Volksentscheid von 1998 unters Volk gebracht wurde. Für Jahrhunderte war sie nur auf einem Kupferstich des Étienne Dupérac von 1568 zu bewundern. Bedenklich stimmen mag, dass sie just 1940, im Zeitalter imperialer Machtträume Italiens, auf dem Platz durchgesetzt wurde. Tatsächlich erinnert sie mit den einander durchdringenden Bögen, die sternförmig in Spitzbögen auslaufen und mit den zu den Rändern wachsenden, viereckigen, kristallin klaren dunklen Feldern an moderne Vorstellungen von Kraftfeldern. Mark-Aurel, der Philosophenkaiser, der, wie Joseph Brodsky bemerkte, „von allen römischen Kaisern die beste Presse hat“29, erscheint so im Zentrum der Macht, eben eine Versinnbildlichung Roms als Haupt(stadt) der Welt. Die von Tarkowskij eingeführte Lesart geht gegen den Strom des faschistischen Fahrwassers. Denn die sich überschneidenden weißen Steinbänder erinnern gleichermaßen an ein Netz. Und genau darauf spielen Tarkowskijs verknotete „Hemdsärmel“ über dem Platz an: ein Netzwerk von Gesunden und Kranken. Er bietet sozusagen einen linken Leseschlüssel, wie überhaupt die ganze Aktion etwas ausgesprochen Zeitgenössisches hat, als sei Tarkowskij bei Performance-Künstlern in die Schule gegangen30. Bemerkenswert, wie ganz anders die Tuchfühlung mit den beiden anderen im Schlusschor der Neunten Symphonie herbeizitierten Genies Schiller und Beethoven ausgefallen ist. Nachdem Tarkowskij die Kühnheit begangen hatte immerhin die europäische Hymne ins Spiel zu bringen, blieb ihm aus Zeitgründen fast keine andere Wahl, als sie zu misshandeln, sie intelligent zu brechen31. In seinem Kommentar zu Michelangelo hingegen wird die Vollkommenheit des Musters durch den Kontrast zum hässlich zerfetzten Transparent noch gesteigert. Der Regisseur stellt die Beziehung überaus lässig, low-key her. Er hätte den Platz aus der Vogelperspektive zeigen können, die er in anderen Filmen gerne eingeführt hatte. Nichts dergleichen. Das kunstvolle Pflaster des Platzes kommt nur am Rande ins Bild. Wieder vertraute der ungemein sichere Regisseur auf die Langzeitwirkung seines Films. Eine der wirren Forderungen Domenicos lautet in etwa, man müsse die Seele ausdehnen wie ein weißes Tuch über die ganze Welt. Das erinnert zum einen an die berühmte Pokrov-Ikone, die in seinem früheren Film Andrei Rubljow wichtig geworden war32, bei der Maria ein meist weißes Tuch „zum Schutz“ der Menschen über ihren ausgebreiteten Armen trägt. Gemeinsam mit dem verknoteten Tüchern und Michelangelos Muster ruft es freilich auch zu einem weltweiten und seelenvollen Netzwerk auf.

Aber ist die Beziehung zwischen dem verknoteten Spruchband und der Platzmusterung tatsächlich so zwingend? Sie drängt sich sicher nicht auf, schließlich habe ich mehrere Jahrzehnte leben können, ohne sie wahrzunehmen. Doch sind solche kaum merklichen Fingerzeige Denkzettel für uns Westeuropäer, die ich nicht missen möchte.

Schon 1970 hatte Tarkowskij von einer solchen Protestaktion in seinem Tagebuch geschrieben. Die plakativen Aussagen sind merkwürdig unpolitisch, fast zeitlos. Auf einem der Schilder steht schlicht: Pensate! Denkt! Wirkliches, eigenständiges Denken scheint zu allen Zeiten Mangelware gewesen, aber seine Dringlichkeit in der Gegenwart besonders geboten zu sein. Auf einem anderen ist unauffällig das ostasiatische, taoistische Yin und Yang-Symbol angebracht, das dann in Tarkowskijs letztem Film Opfer wichtiger wurde. Und, wie gesagt, dann auch eine unfreiwillig komische Ankündigung des Endes der Welt. Das Spruchband können wir überhaupt nur ganz allmählich entziffern, weil die Kamera langsam zurückweicht und das Blickfeld sich weitet. Auf die rechteckigen Tuchfetzen sind Wortfetzen geschrieben, zuerst liest man: MATTI SIAMO –Verrückt sind wir. Schließlich wird daraus: NON SIAMO MATTI – SIAMO SERI „Wir sind nicht verrückt – wir sind ernst.“ Schon die Aufnahmen von Ikonen am Schluss von Andrei Rubljow hatten in ähnlicher Weise als Metapher für den ganzen Film gewirkt, denn unverständliche Nahaufnahmen schlossen sich dann zum großen Gesamtbild zusammen. So auch hier: es braucht Zeit, Distanz, damit sich der Sinn des Ganzen erschließt. Mit Verrücktheit und Ernst sind die beiden Qualitäten benannt, mit denen Tarkowskij aneckte. Ich erinnere mich an das Urteil eines von mir sehr geschätzten Mannes mit vielleicht dem Manko einer etwas einseitig rationalistischen Tendenz und einer zu rückhaltlosen Verehrung des so genannten „gesunden Menschenverstandes“, der damals als dieser Film in die Kinosäle kam, allen Ernstes meinte, der Regisseur sei verrückt. Und Tarkowskijs Ernst lässt ihn als einen Fremdling unter den müde witzelnden Damen und Herren der Postmoderne erscheinen, deren unentwegtes Gegluckse Neil Postman schon vor etlichen Jahren vergeblich geißelte33. Er konnte sich auf einen der bekannten Weherufe berufen: Wehe euch, wenn ihr jetzt lacht… Dass Verrücktheit und Ernst hier als Alternativen erscheinen, kann kaum Tarkowskijs Ernst gewesen sein. Denn die Szene auf dem Kapitolsplatz beginnt mit bedrückenden Nahaufnahmen von wirklichen Kranken, deren Gesichter zum Teil von Trostlosigkeit gezeichnet sind.

In der Schlussmontage von Nostalghia sehen wir das Holzhaus in der russischen Heimat umgeben von der Ruine der Zisterzienserabtei San Galgano bei Siena. Es ist auf die große Nähe zu einem Bild von Caspar-David Friedrich Die Klosterruine von Eldena (1825, Alte Nationalgalerie, Berlin) hingewiesen worden. Die Ruine bei Friedrich ist völlig zugewachsen, aber in ihrer Mitte geht das Leben weiter. Man sieht Bewohner vor einem Bauernhaus. Der in Amerika lehrende Brite Robert Bird kommentierte diesen Sachverhalt etwas verständnislos34, was nicht sehr überrascht. Dieses Ineinander von Natur und Kultur, Natur und Geschichte, das als Heimat erlebt wird, ist etwas für Old Europe Typisches. Freilich bin ich gar nicht sicher, ob man davon ausgehen muss, dass Tarkowskij dieses Bild Caspar David Friedrichs gekannt hat. Im erwähnten Dokumentarfilm von Ebbo Demant35 ist von einem Besuch in der Alten Nationalgalerie in Berlin die Rede und die gefühlsbetonte Begegnung mit den Werken Caspar-David Friedrichs wird hervorgehoben, doch das war nachdem Tarkowskij Nostalghia schon fertig gestellt hatte. Außerdem tut man gut daran die Aussage des russischen Malerfreundes Romadin in Erinnerung zu behalten, der ausdrücklich hervorgehoben hat, dass für Tarkowskij in der bildenden Kunst die klassische Tradition mehr bedeutete als die romantische36. In einem Interview 1985 mit zwei polnischen Journalisten37, für die der Tradition ihres Landes entsprechend der Begriff der Romantik viel bedeutete, hat Tarkowskij mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, dass mit diesem Begriff nichts Wesentliches über die russische Tradition gesagt sei und er sich nicht als Romantiker sah. Andererseits ist verständlich, dass Caspar-David Friedrich auf ihn stark gewirkt hat wohl wegen der Melancholie seiner Kunst, die vielleicht mit einer östlichen, westslawischen Unterströmung zu tun hat. (In Tarkowskijs und Andrej Kontschalovskijs „Novelle“ Andrej Rubljow 38 heißt es im Gespräch einmal, dass „die Deutschen die Schwermut nicht kennen.“ Das wird als eine exotische Kuriosität erwähnt.)

Die Schlusseinstellung von Nostalghia ist von Tarkowskij selbst in seiner Schrift mit dem Vorbehalt kommentiert worden, dass dieses Bild etwas leicht Literarisches an sich habe39. Wie meist ist das Bild mindestens doppeldeutig: einerseits kann es die Zerrissenheit des russischen Protagonisten bedeuten, die zwangsläufig zu seinem Ende führt, andererseits kann es auch ein Sinnbild sein für eine untrennbare Einheit von russischer Innerlichkeit und den altehrwürdigen Formen der europäischen, insbesondere der italienischen Kultur. Diese Einheit wäre auseinander geschlagen worden, so Tarkowskij, wenn Gortschakow nach Russland zurückgekehrt wäre. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, dass Tarkowskij unabhängig von dem Gemälde des deutschen Romantikers zu diesem Schlussbild gefunden haben könnte, aus der inneren, poetischen Anlage seines Filmes heraus.

Opfer (1985)

In Tarkowskijs letztem Film Opfer kommt einem unvollendeten Werk des Leonardo da Vinci eine herausragende Bedeutung zu, der Anbetung der Könige (1481-82). Dem Dokumentarfilm Regie Andrej Tarkowskij (1988) von Michal Leszczylowski ist zu entnehmen, dass dieses Bild erst relativ spät Eingang gefunden hat in den Film. Zuvor hing die Kopie eines Rundreliefs Michelangelos, des Tondo Pitti (1503-04), an der Wand, bzw. später Leonardos wiederum unvollendeter Büßender Hieronimus (1480-82). Dessen ungeachtet ist der Beitrag der Anbetung der Könige zum Film keineswegs beiläufig. Im Vorspann des Films erklingt die Altarie aus Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion Erbarme Dich (BWV 244, entstanden 1727 oder 1729) und die Kamera konzentriert sich auf einen Ausschnitt des Bildes, der einen auf die Knie gefallenen greisen Magier zeigt, wie er dem göttlichen Kind eine Schatulle reicht. Das Kind greift sehr verständig nach dem Knauf des Deckels, wohl um die Schatulle zu öffnen. Die kelchartige Schatulle könnte das schmale Œuvre des Regisseurs als DVDs enthalten. Zur Zeit der Entstehung des Films gab es noch keine DVDs, was nur wieder ein Hinweis auf die prophetische Dimension im Werk Tarkowskijs sein könnte. Scherz beiseite, dieses zu Beginn des Films lang gezeigte Detail macht zusammen mit der Arie deutlich, dass Tarkowskij diesen Film (wie vielleicht sein ganzes Werk) als Gebet verstand. Tarkowskijs Denken kreiste um die letzten Dinge, die Apokalypse, worauf auch der deutsche Titel seines Buches Die versiegelte Zeit hindeutet40. Die Filme sind versiegelte Zeit und der von Tarkowskij immer viel beachtete und bedachte Ingmar Bergman hat in Anlehnung an die Apokalypse einen seiner bekanntesten Filme Das siebente Siegel (1957) genannt. Man kann das unbescheiden finden, aber Tarkowskij war in seiner Kunst immer auch „unmittelbar zu Gott“.

Im Innern des Films spielt die Reproduktion des Leonardobildes hinter spiegelndem Glas auch noch eine Rolle. Der Postbote Otto, eine leicht zwielichtige und verwahrloste Figur (Jacke und Hose dunkel mit weißen Socken in schwarzen Sandalen, was irgendwie an die Flügelschuhe des Götterboten Hermes erinnert) besucht abends Alexander, die Hauptfigur des Films im Obergemach des Hauses. Im Fernsehen war schon die Schreckensnachricht vom Ministerpräsidenten über eine hereinbrechende Atomkriegs-Katastrophe zu hören. Wir sehen ihre alarmiert und irgendwie verstört wirkenden Gesichter in Richtung des nur undeutlich zu erkennenden Leonardobildes blicken. Otto findet das Bild sehr düster und gibt seinem tiefen Erschrecken vor Leonardo Ausdruck. Er ziehe Piero della Francesca vor. Offenbar haben wir es hier mit einer einigermaßen rätselhaften Selbstkommentierung Tarkowskijs zu tun. In Nostalghia nimmt, wie gezeigt, Piero della Francesca einen Ehrenplatz ein. Andererseits hat Tarkowskij oft genug gesagt, dass seine rückhaltloseste Bewunderung Leonardo da Vinci galt. Was ist an diesem Bild Leonardos so erschreckend, und warum soll Piero beruhigender sein? Das Bild der Anbetung wird im Film nie vollständig und deutlich gezeigt; der selbstbewusste Regisseur vertraute wieder darauf, dass sein engagiertes Publikum selbstständig seinen Fingerzeigen nachginge.

Leonardo hat das Bild als Dreißigjähriger unvollendet zurückgelassen, als er 1482 Florenz in Richtung Mailand verließ. Vielleicht blieb das Bild unvollendet, weil verschiedene seiner Einzelheiten den Mönchen, die diesen Auftrag gegeben hatten, nicht ganz geheuer waren. Es herrscht ein beträchtliches Getümmel, links im Hintergrund sehen wir Ruinen teils eingestürzte, teils von Bäumen bewachsene Gewölbebögen. Das findet sich ähnlich auf Sandro Botticellis etwas früherer Anbetung der Könige (Florenz Uffizien, ca. 1475, 111cm x 134cm, Öl auf Holz) und ist so zu deuten, dass die alte Zeit zerfällt, während mit Christus eine neue Welt anbricht. Eine besondere Pointe bei Leonardo sind die Treppen, die auf das eingestürzte Gemäuer hinauf und so gewissermaßen ins Leere führen. Es wird die Vergeblichkeit des Hochhinauswollens konstatiert, also eine Behauptung getroffen, die auch für die eigene Gegenwart gelten soll. Rechts hinten erkennt man undeutlich Rosse und Reiter im Kampf; auch unter den Ruinen links ist ein Getümmel von Reitern angedeutet. Vor einer kleinen mit einem Baum bewachsenen Kuppe sitzt die Madonna mit dem Kind, umringt von wohl höfisch gekleideten Menschen. Einige alte Männer, die Magier, sind in Furcht und Schrecken auf die Knie gefallen oder einer hält sich die Hand über die Augen, als sei er geblendet. Es ist eine alte Tradition, dass der älteste der Könige vor dem Kinde kniet, was ein besonderes Pathos mit sich bringt. Hier sind gleich mehrere alte Männer niedergestürzt und die teils ausgezehrten Gesichter haben etwas von jener terribilità, für die etwa dreißig Jahre später der jüngere Michelangelo bekannt wurde. Seit den Tagen Piero della Francescas, als die selbstgewisse Sonne der Renaissance noch unbehelligt strahlte, hat sich der Himmel unversehens verdüstert. Es ist als habe Leonardo, mit jener divinatorischen Witterung, die gerade Tarkowskij den großen Künstlern zuschrieb, die in den 90er Jahren heraufziehende Krise in Florenz mit dem Regiment des dominikanischen Bußpredigers Girolamo Savonarola vorausgespürt. Für Tarkowskij kamen in diesem Bild einige wichtige Aussagen zusammen: dass Gott sich mit einem kleinen Kind identifiziert, zum Kind wurde, macht den Greisen deutlich, dass all ihr Streben und Trachten grundverkehrt ist, dass sie umkehren, klein werden müssen. Es sei hier an eine Aussage aus dem Tao Te King (§76) des Laotse erinnert, die im Film Stalker wichtig wurde: „Der Mensch, wenn er ins Leben tritt, ist weich und schwach, und wenn er stirbt, so ist er hart und stark.
Die Pflanzen, wenn sie ins Leben treten, sind weich und zart, und wenn sie sterben, sind sie dürr und starr. Darum sind die Harten und Starken Gesellen des Todes, die Weichen und Schwachen Gesellen des Lebens.“ (Übersetzung Richard Wilhelm)

Außerdem wird so etwas wie eine historische Aussage versucht. In Nostalghia ruft Domenico auf dem Kapitolsplatz aus, man müsse an jenen Punkt zurückkehren, „an dem ihr in die falsche Richtung gegangen seid.“ Dieser Punkt lag nach Tarkowskij vermutlich in der Renaissance, in der Zeit Leonardos41.

Die Widmung am Ende des Films: Dieser Film ist meinem Sohn Andrusja gewidmet – mit Hoffnung und Vertrauen schlägt noch einmal den Bogen zum Bild am Anfang: nicht allein dem Christusknaben möchte Tarkowskij sein Werk überreichen, sondern auch dem eigenen Sohn und mit ihm der kommenden Generation.

1 Mikhail Romadin, On Film and Painting, zuerst veröffentlicht in: About Andrei Tarkovsky, Memoirs and Biographies, Moskau 1990, hier von der Homepage Nostalghia.com, (Artikel übersetzt von Maureen Ryley). Im Abschnitt über Solaris wird davon noch die Rede sein.

2 Tarkowskij sagte einmal Ende der 70er Jahre, dass sein eifrigstes Publikum in der Sowjetunion junge Heranwachsende waren und nicht etwa „zur Vernunft gekommene“ Erwachsene.

3 Der amerikanische Slawist Robert Bird zitiert in diesem Zusammenhang ausführlich Pawel Florenskij, der in der Tatsache, dass es sich bei den apokalyptischen Reitern Dürers um ein Werk der Druckgraphik handelt, ein Indiz für seine Minderwertigkeit sieht. Allerdings fragt sich sehr, ob Tarkowskij zu diesem Zeitpunkt schon die Schriften Florenskijs kannte. Robert Bird, Andrei Tarkowsky: Elements of Cinema, University of Chicago-London 2008, S.95

4 Das ist eine falsche Auskunft: es handelt sich um das Holzschnittporträt des Schweizer Erzkanzlers der kaiserlichen Reichsregierung Ulrich Varnbüler von 1522, eine herausragende Leistung Dürers. Vgl.: Ein kryptischer Text des Erasmus auf Dürers Varnbüler-Bildnis, http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7230/

5 Olga Surkova. Tarkovsky and I, Moscow: Zebra E / Exmo / Decont +, 2002, S. 25. (О. Суркова. Тарковский и Я (Москва: Зебра Е / Эксмо / Деконт + , 2002, 25) Die russische Filmkritikerin berichtete in ihren Erinnerungen, dass dieses Bild: die Hand, die einen Apfel darreicht, ihrem Leben eine andere Richtung gegeben habe. Sie war 17 Jahre alt und offenbar ein sehr intelligenter Mensch: sie wollte Mathematik studieren. Nach diesem Film, nach diesem Bild wurde sie Kritikerin und hat lange Jahre mit Tarkowskij zusammengearbeitet, insbesondere bei der Erstellung des Buches Die versiegelte Zeit. Schon in der VGIK- Abschlussarbeit Die Straßenwalze und die Geige – Katok i skripka (1960) schenkt der kleine Musiker Sascha einem etwa gleichaltrigen Mädchen, wie er Musikschülerin im Konservatorium, einen Apfel; vgl.: Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Indiana University Press 1994, S. 66

6 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Frankfurt-Berlin 1996, S. 35

7 Der deutsche Titel der programmatischen Schrift (Andrej Tarkowskij Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, München 1984) bezieht sich auf die Apokalypse – in Anlehnung an Ingmar Bergmans Film: Das siebente Siegel.

8 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.O., S. 117

9 Antoine de Baecque Andrei Tarkovski, Cahiers du Cinéma, Paris 1992, S. ; Slavoj Žižek, Lacrimae rerum,

10 Frances Stonor Saunders, Who Paid the Piper: The CIA and the Cultural Cold War (London: Granta Books 1999)

11 Man kann ihn freilich nicht als Zeugen gegen das Projekt der Moderne insgesamt anrufen, wie das gelegentlich versucht wurde. Am 16. 12. 1981 schreibt er in seinem Tagebuch von einem Museumsbesuch in St. Petersburg (damals Leningrad) mit seinem zehnjährigen Sohn: „Wir waren mit Tjapus im Haus Puschkins, danach im Magazin des Russischen Museums und haben außerordentliche Werke von Filonow, Malewitsch, Kandinskij, Petrow-Wodkin, Kusnetsow und noch anderer gesehen.“ (Dieser etwas irrationale Eifer, mit dem einem Zehnjährigen die Segnungen der Kultur nahe gebracht wurden, ist vielleicht auch sehr russisch.)

12 Hans-Joachim Schlegel, Der antiavantgardistische Avantgardist in Andrej Tarkowskij, Reihe Film Band 39, hrsg. von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte, München Wien 1987

13 Eine Ausnahme ist Robert Bresson, den Tarkowskij wohl auch aus diesem Grunde bewunderte. In diesem Zusammenhang sind die Aussagen des schwedischen Schauspielers Erland Josephson interessant. In dem Dokumentarfilm von Ebbo Demant, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Andrej Tarkowskijs Exil und Tod, 1987. (Der Film ist vollständig bei Youtube im Internet.) sagte er, Tarkowskij habe immer gewollt, dass er beim Schauspielen dem Betrachter ein Geheimnis lasse. Josephson kam aus der Schule Ingmar Bergmans (männlicher Hauptdarsteller in Szenen einer Ehe) und tendierte dazu, seinen Charakter immer psychologisch so überzeugend, und das hieß für ihn so deutlich wie möglich wiederzugeben.

14 „Thus I feel much closer to Tolstoy as a character. As a type of artist – closer than, say, Dostoievsky or anybody else. As a type, as a model.“

15 Im Oktober 1986, zwei Monate vor seinem Tod hat Tarkowskij noch der französischen Tageszeitung Le Figaro ein Interview gegeben, das ich in der italienischen Übersetzung von Donata De Bartolomeo zitiere: „Ci fu un tempo in cui io potevo chiamare miei ex-maestri, le persone che hanno avuto un’influenza su di me. Adesso, nella mia coscienza, si conservano soltanto dei ‘personaggi’, per meta santi, per meta folli. Questi ‘personaggi’ sono forse un po‘ invasati ma non dal diavolo; si potrebbe dire che sono ‘i pazzi di Dio’. Tra i vivi cito Robert Bresson. Tra i morti, Lev Tolstoj, Bach, Leonardo da Vinci… In fin dei conti, tutti costoro erano pazzi. Perché non hanno assolutamente cercato nulla nella loro testa. Hanno creato senza il concorso della testa… Essi mi spaventano e mi ispirano. Non e assolutamente possibile spiegare la loro creazione. Sono state scritte migliaia di pagine su Bach, Leonardo e Tolstoj ma, in conclusione, nessuno ha potuto spiegare nulla. Nessuno, grazie a Dio, ha potuto trovare, sfiorare la verità, toccare l’essenza della loro creazione! Questo dimostra ancora una volta che il miracolo è inspiegabile…”

16 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.114 f.

17 A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 57: “Mit erstaunlicher Treffsicherheit vermerkte Leo Tolstoi am 21. März 1885 in seinem Tagebuch: ‚Das Politische schließt das Künstlerische aus, da ersteres einseitig sein muss, um etwas erreichen zu können!’ Natürlich ist dem so. Das künstlerische Bild kann aber nicht einseitig sein: Um sich tatsächlich wahrhaftig nennen zu können, muss es die dialektischen Widersprüche der Erscheinungen in sich vereinen.“

18 Als Tarkowskij in einem Interview das russische Gefühl der „Nostalghia“ erklären wollte, sprach er von einem Mitleiden mit den Mitmenschen, vgl.: S. 22 in: Enzo Natta, Andrej Tarkovskij –scolpire il tempo, S. 20 – 23, in Città Nuova, 10. Juli 1983.

19 In Nostalghia.com, The Topics, Tarkovsky talks to Guerra, mainly on Stalker (1979)

20 Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.53 f.

21 Auch zu Beginn des Films stellt Tarkowskij eine Figur in den Mittelpunkt, die eigentlich nicht sympathisch ist: den aufdringlichen Arzt, der die Mutter in ein Gespräch zu verwickeln sucht. Übrigens wurde schon bei Tarkowskijs Abschlussarbeit von 1960 an der WGIK Die Straßenwalze und die Geige(Katok i skripka) moniert, dass der kleine Musikstudent nicht „sympathisch“ genug sei. Von Anfang an hat Tarkowskij Regeln des gesunden Menschenverstands für das populäre Medium des Films in den Wind geschlagen. Vgl. Artikel zu Katok i skripka in Nostalghia.com. Hier findet sich auch der vom WGIK festgehaltene Kommentar des Regisseurs: „I cannot use schematic language. I cannot take a positive hero through a positive external reality and make people fall in love with him instantly. I believe that it is not profound, not serious enough; art is not to be created in this way, it is not real. It is hackwork.“ Auch im Rubljow ist der junge Gehilfe Foma, dessen gewaltsamen Tod der Film eindringlich zeigt, eher eine Nervensäge, was im Widerspruch zu den Gepflogenheiten Hollywoods steht.

22 „Mehr oder minder handeln alle meine Filme davon, dass die Menschen nicht einsam und verlassen in einem leeren Weltbau hausen, dass sie vielmehr mit unzähligen Fäden der Vergangenheit und Zukunft verbunden sind…“ (A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S.210)

23 Julia Selg, Andrej Tarkovskij und die Gegenwart der Alten Meister, Kunst und Kultus im Film „Nostalghia“ Stuttgart 2009

24 Julia Selg, a.a.O., S.209f.

25 Ebda S.48f.

26 „Nach einem alten Brauch soll man an dem Tag (Ostern)Vögel aus den Käfigen freilassen. Das Gedicht von Alexander Puschkin zum Brauch Vögel frei zu lassen, lautet wie folgt:

Heilig ist mir in der Fremde
der vertraute Brauch aus alter Zeit:
Beim lichten Fest des Frühlings
entlasse ich ein Vöglein in die Freiheit.
Ich bin empfänglich geworden für diesen Trost;
weswegen sollte ich gegen Gott murren,
da ich doch immerhin einer seiner Kreaturen
die Freiheit schenken konnte.“ (http://www.rsvostschweiz.ch/)

27 Freilich sehen wir Gortschakows dunkelhaarige Frau kurz einmal wunderbar lächelnd in Nahaufnahme. Aber wie sollte sich Domenico auf sie als „Mutter“ beziehen?

28 In einem Interview unmittelbar nach Fertigstellung von Iwans Kindheit hatte Tarkowskij auf die Frage, ob er mit diesen letzten Bildern gewollt habe, dass der Film mit einer leichten Note ende, in der schroffen Art, die zeitlebens in Interviews immer wieder mal aufblitzte, geantwortet, das wäre doch wohl etwas banal. Nur um sogleich hinzuzufügen, dass Kunst allerdings ihrem Wesen nach optimistisch sei. Das sagte er, als sei das eine Selbstverständlichkeit, über die allgemeine Einigkeit bestünde. Dabei stand er mit dieser Überzeugung in der zeitgenössischen Kultur ziemlich allein auf weiter Flur. Denn der Optimismus, den er meinte, hatte wahrlich tiefere Wurzeln als der für die Sache des Sozialismus. http://www.kinematographie.de/HEFT39. Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio, Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963: „Der Zuschauer erblickt den Helden, der schon nicht mehr auf der Welt ist, und nimmt Bruchteile seines wirklichen und seines möglichen Schicksals in sich auf. Dieser letzte Traum – der Lauf über die Sandbank – wurde keineswegs deshalb gedreht, um das Finale des Films aufzuhellen (wie einige meinen); das wäre in einem Werk, in dem die Mehrzahl der Helden umkommt, falsch und geschmacklos (dass unsere Position als Filmschöpfer optimistisch ist, ist eine andere Sache.)“

29 Alexander Liberman, Campidoglio. Michelangelo’s Roman Capital, with an essay by Joseph Brodsky, New York, Random, 1994

30 Mal ganz abgesehen davon, dass Tarkowskij in diesem Film als ein unerwarteter Bundesgenosse Michel Foucaults und dessen subversiven Diskurses über die Ausgrenzung der Geisteskranken erscheint. Michel Foucault, Histoire de la folie à l’âge classique – Folie et déraison, Paris 1961

31 Das habe ich an anderer Stelle analysiert. Ursprünglich hatte Tarkowskij an Musik aus Richard Wagners „Tannhäuser“ gedacht.

32 Siehe das Kapitel über die Ikonen, S.

33 Neil Postman, Amusing Ourselves to Death, 1985 deutsch: Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt am Main 1994

34 “The finale of Nostalghia directly references Caspar-David Friedrich’s hyper-romantic ‘Ruin at Eldena’”. S.66 in: Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema London 2008

35 Siehe Fußnote 13

36 Siehe Fußnote 1

37 Jerzy Illg e Leonard Neuger, I’m interested in the problem of inner freedom, Nostalghia.com; auf Polnisch: Z Andriejem Tarkowskim rozmawiają Jerzy Illg, Leonard Neuger, in Res Publica (1), Warsaw 1987, pp. 137–160

38 Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow. Die Novelle, aus dem Russischen von Ute Spengler Berlin 1992.

39 Andrej Tarkowski, Die versiegelte Zeit, S. 216 f.

40 In anderen europäischen Sprachen heißt das Buch Scolpire il tempo, bzw. Sculpting in Time. Der deutsche Titel, dem der spätere französische entspricht, dürfte kaum ohne ausdrückliche Zustimmung des Autors zustande gekommen sein.

41 In den italienischen Diari. Martirologio, Florenz 2002, heißt es am 25. April 1980: Gestern habe ich Franco Terilli gebeten, mir eine russische Übersetzung von Spenglers Der Untergang des Abendlandes zu suchen.

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