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SOLARIS

Das war der erste Film Tarkowskijs, den ich überhaupt gesehen habe. Aus pädagogischen Gründen gab es in unserer Familie bis zu meiner frühen Jugend keinen Fernsehapparat, dann ein altes Schwarzweißgerät im Keller. Dort habe ich zu vorgerückter Stunde irgendwann Anfang der 70er Jahre Solaris gesehen und war tief beeindruckt am Ende die deutliche Anspielung auf das Alterswerk Rembrandts, den Verlorenen Sohn (1669) in der Eremitage von St Petersburg zu entdecken.  Eine offenbar christliche Anspielung mitten aus der Sowjetunion? Später habe ich den Film noch einmal im Fernsehen, dieses Mal in Farbe bewundern können und war gepackt von der Atmosphäre suggestiver Spannung zu Beginn auf der Raumstation.  Irgendwann sah ich den Film in München im Kino und dieses Mal beschäftigte mich sein seelischer Nachhall von Klarheit, vergleichbar der Wirkung  von gutem schwarzen Tee oder – auf mehr geistigem Niveau – der Musik von Johann-Sebastian Bach. Bei einer Tarkowskij-Retrospektive im Arts Centre von Hong Kong habe ich den Film im russischen Original mit chinesischen Untertiteln gesehen, und das obwohl ich weder mit dem russischen Original noch mit den chinesischen Untertiteln zu Rande kam, aber ich war mit der rein visuellen Information des Films vollauf beschäftigt. Da ist zum Beispiel die reiche Ausstattung der Bibliothek auf der Raumstation, die mich auch weiterhin beschäftigt. So gibt es dort eine getreue Replik eines gotischen Glasfensters. Beim Versuch das Werk, das im Film immer nur in einer gewissen Undeutlichkeit  wegen geringer Tiefenschärfe ins Bild kommt,  im Internet ausfindig zu machen habe ich sogar ein Spiel der Champions League verpasst – vergebens.

Der berühmte japanische Regisseur Akira Kurosawa besuchte die Studios der Mosfilm zu einem Zeitpunkt, als dort Andrej Tarkowskij gerade dabei war den Film Solaris zu inszenieren. Kurosawa gibt davon einen wohlwollend ironischen Bericht, er war in Gesellschaft von Sergej Bondartschuk, dem einzigen sowjetischen Regisseur, der je einen Oscar gewonnen hat für Krieg und Frieden (1967). Bondartschuk hob die Brauen ob der kostspieligen Raumstation, die für diesen Film aufgebaut worden war. Sein eigenes monumentales Werk war mit Abstand die teuerste Produktion, die je in der Sowjetunion auf die Beine gestellt worden ist. Tarkowskij dachte freilich in völlig anderen Kategorien. Er dachte dialektisch, freilich auf eine Art, die seinen sowjetischen Vorgesetzten gar nicht recht sein konnte. Dieser Science- Fiction-Film war für ihn der Anlass einen Anti-Science-Fiction-Film zu drehen. Die Reise in den Weltraum ruft ein grenzenloses Heimweh nach der Mutter Erde hervor. Spuren dieser nostalgischen Grundhaltung, die seine weiteren Filme durchziehen, nahmen von diesem Film ihren Ausgang. Kurosawa, der für die abendländisch-christlichen Konnotationen des Films kaum Organ haben konnte, hat den bohrenden Schmerz um den Verlust unseres Habitats intensiv wahrgenommen und ihm im letzten Kapitel seines letzten großen Films Dreams (1990) ein bleibendes Denkmal gesetzt. Tarkowskij hatte sich wohl über diese Reaktion gefreut. Kurosawa setzte sich übrigens dann später in Japan dafür ein, dass die langen Naturaufnahmen am Anfang des Films nicht herausgekürzt wurden. Zum Glück, denn diese Bilder, die wie in einem harmlosen Naturfilm daherkommen, haben es in sich. Schon im ersten Bild des Films ist in knappster Form wie in einem Haiku die Grundaussage des Films zusammengefasst. Tarkowskijs Stärke und Schwäche ist die Tendenz zu knappster Zusammenfassung. Er spricht in charakteristischer Übertreibung in seinem Buch vom Wassertropfen, „in dem sich die Welt spiegelt.“

Fachwerkhäuser in einem Wassertropfen

                                          Der Frankfurter Römer im Spiegelbild

Wir sehen einen Wasserlauf, auf dessen Grund moosgrünes Geflecht in der Strömung wedelt. Kurosawa hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, wie schwer es ist, einen Bach von oben zu filmen, ohne dass er spiegelt. Ein herbstbraunes Blatt gleitet, fast möchte man sagen: pfeilschnell von der rechten oberen Ecke der Breitleinwand zur linken unteren. Darum geht es in dem Film: „Dies ist ein Ding, das kein Mensch aussinnt/ und viel zu grauenvoll, als dass man klage/ dass alles gleitet und vorüber rinnt.“ heißt es in den Terzinen über Vergänglichkeit Hugo von Hofmannsthals. Die Solaristik, die Reise durch die Weiten des Raumes ist wie die Reise des Baumblatts, das losgerissen von seiner Heimat, dem Baum, auf dem Wasser ins Ungewisse, Weite driftet. (Die drei Männer auf der Raumstation haben flatternde Papierstreifen an die Ventilatoren geklebt, damit das Geräusch sie an das Rascheln von Laub an Bäumen erinnert. “Einfach wie alle genialen Ideen.“ bemerkt der kauzige Snaut – bei mir der erste und fast einzige, unverhoffte Lacherfolg des Films.) Die Kamera tastet langsam an dem in Gedanken versunkenen Kris Kelvin hinauf, dem Protagonisten des Films. Dann sehen wir wieder im Wasser wedelnde Pflanzen – diesmal in einer Bewegung von links nach rechts: zurück. Und der elegante Tanz der langen, schilfartigen, falben und bemoosten Blätter hat etwas Elegisches: ein dehnendes sich Sehnen – Nostalgie, Sehnsucht zurück. Dabei ist das alles nicht einmal besonders fotogen: leicht vergammelt in trübem Wasser.

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Und doch hat es Kurosawa anscheinend so nachhaltig beeindruckt, dass er in der letzten Episode von Dreams ein Dorf ausfindig gemacht hat, in dem ein Fluss fließt, der voll ist von diesen gigantischen Gräsern.

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                                         Daiō Wasabi Farm in Azumino, Nagano

Wir sehen Kelvin in von Unkraut, wohl Brennnesseln und Disteln, überwuchertem Gelände neben hoch aufgeschossenen, im Übrigen unliebsamen Disteln, deren wollig zusammensteckende Köpfe zu Fühlung mit dunstigen Nebelschwaden ringsum winken. Den Eindruck einer Horizontwölbung scheint der Regisseur mit einem minimalen optischen Kunstgriff, dem so genannten „Fischauge“, hergestellt zu haben.

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Dann zeigt Tarkowskij ein paar schöne alte Bäume im Frühherbst – das Umfeld ist schon mit Laub übersät, und dann und wann sehen wir verstohlen ein Blättchen zu Boden segeln.

Kris wandert weiter an einem offenbar stehenden Gewässer entlang, auf dessen übergrünte Oberfläche Sonnenlicht und Blätterschatten scheckige Muster werfen. Ein herrliches Pferd, ein Brauner mit glänzendem Fell, trabt durchs Bild. Jahrelang war ich überzeugt, dass huschende Lichter seinen Rücken streicheln, aber das war wohl einfach eine Übertragung vom vorherigen Bild, eines von mehreren Beispielen von mir so genannter Langzeitsuggestionen, wie sie in diesem Film öfter begegnen. Dass Kelvin sich zum Teich niederbeugt, um sich die Hände zu waschen, ist eine etwas schwach motivierte Handlung und überzeugt auch dann noch nicht vollends, wenn man bedenkt, dass das die Brücke schlägt zu einer Handwaschung sehr viel später im Film.  In diesem Moment ruft jemand seinen Namen. Berton, ein Freund seines Vaters, hat mit dem Auto auf einer prächtigen Betonbrücke gehalten und winkt ihm zu: es grüßt das feindliche Leben, die verflixte Technik. Berton hat seinen kleinen Sohn mitgebracht. Dem stellt sich ein etwas größeres Mädchen vor in rosa Sporthemd und weißer Jeans, passend vor die schnörkellos moderne Betonbrücke projiziert, mit slawischem Gesicht von fast ostasiatischer Entzogenheit. Zurückhaltend und freundlich macht sie einen kleinen Knicks. Mit solchen Kleinigkeiten gibt sich Tarkowskij als Gefühlskonservativer zu erkennen. Er hält sich nicht damit auf, über Verwandtschafts-Verhältnisse aufzuklären, sondern überlässt das auftretende Personal zum Teil den Mutmaßungen des Publikums. Die moderne Entfremdung von der Natur kommt in einer grotesken Szene zum Ausdruck: der kleine Junge ergreift die Flucht, weil er in der Garage das Pferd stehen sah. Er hat noch nie ein Pferd gesehen und das, nachdem der Regisseur uns die Schönheit des Tieres vor Augen geführt hat.

Dann aus heiterem Himmel ein wenig überzeugender Wolkenbruch. Die unterm (hinterm?) Regen im Sonnenschein mit dem Boxer spielenden Kinder schlagen eine Brücke zu Tarkowskijs erstem Film, Iwans Kindheit, in dem sich Iwan im Traum an eine sommerliche Fahrt mit seiner kleinen Schwester auf einem mit Äpfeln beladenen Kleinlaster im Gewitter unter strömenden Regen erinnerte: unerklärliche Glückseligkeit. Jemand meinte, Kris wolle ein letztes Mal den Regen auf der Erde erleben, da er am nächsten Tag zu seiner Weltraumexpedition aufbricht. Das stimmt mit der nostalgischen Grundtendenz überein. Im Wort Solaris steckt die Wurzel „sol“ – Sonne, aber es geht um einen Ozean. Die Verbindung von Sonnenschein und Regen deutet in die Richtung der mysteriös-mystischen Verbindung der Gegensätze.

Kelvin steht auf der Terrasse im strömenden Regen ohne erkennbare Regung. Der Maler Romadin, der mit Tarkowskij bei diesem Film zusammenarbeitete, berichtet, Tarkowskij habe eine Qualität der Insichgekehrtheit vorgeschwebt, wie er sie auf den vielfigurigen  Bildern des venezianischen Quattrocentomalers Vittore Carpaccio wahrnahm. Als der Schauspieler Donatas Banionis dann gegen Ende des Takes unwillkürlich erschauderte, war das für Tarkowskij fast ein Grund zur Verzweiflung[1].

Nach dem Schauer scheinen die Blättchen auf dem Teich und sonst wo in goldenem Licht auf und wir lauschen für eine kurze Weile in der Stille einem minimalistischen Tropfenkonzert, das in späteren Filmen, insbesondere im Stalker noch an Bedeutung gewinnen sollte

Das deutsche Publikum des Filmes, das im Anbetracht des völlig verwilderten Anwesens der eigenen Ungehaltenheit kaum Herr werden mochte, wird vor dieser Terrasse vollends ins Kopfschütteln geraten. Wir sehen wie der Regen den Rest Tee in einer Tasse verdünnt, ein Korb mit Wecken steht im Regen neben einem angebissenen Apfel – wo ist die zuständige Hausfrau? Die hält sich im Haus auf zusammen mit Kelvins Vater und Berton, um dessen Unterbringung sie sich sorgt. Sie scheint zu Kris im Verwandtschaftsverhältnis einer Tante zu stehen, und war die Produktionsleiterin beim Rubljow, Tamara Ogorodnikowa, die Tarkowskij wohl vor allem als Gesicht wichtig war: sie trat in der Kreuzigungsszene von Andrej Rubljow auf und auch im Spiegel. Man hat auf ihre Ähnlichkeit mit der Dichterin Anna Achmatowa hingewiesen.  Berton ist ein alt gedienter Kosmonaut, der eine Expedition zur Raumstation auf Solaris gemacht hat. Mittlerweile geht er am Stock.

An den Wänden im Wohnzimmer hängen alte Kupferstiche von Mongolfieren und altertümlichen Ballons, auch über dem Dach des Hauses spannt sich ein länglicher Gasballon in die Höhe – es wird auf die historischen Vorläufer der Raumfahrt angespielt. Aber auch die alte Geschichte ist gegenwärtig: der Gipsabguss einer antiken griechischen Büste steht auf dem Regal, die nach ausgedehnter Recherche am ehesten als der älteste griechische Tragödiendichter Aischylos anzusprechen ist. Daneben ein Anatomiemodell mit Cowboyhut, den amerikanischen Geist repräsentierend: die wissenschaftliche Aufklärung, die vor keinem Geheimnis haltmacht und den Menschen zur Banalität reduziert. Es bleibt nur das Abenteurertum der space cowboys. Der Vater lobt den Takt des Besuchers, der Rücksicht nehme auf die Familie am Tag vor dem Abschied, die Kamera zoomt auf das Foto einer Frau mit blonden, langen Haaren deren aparte Schönheit und traurige helle Augen wohl nur für jemanden anziehend wirken, der sich in der Schwermut zuhause fühlt. Die junge Frau ist Olga Barnet, die zwanzigjährige Tochter eines Kollegen, die die früh verstorbene Mutter darstellen soll.

Berton hat ein Video mitgebracht von einer wissenschaftlichen Konferenz, bei der er über die Solaris-Expedition berichten musste. Dieses Video schaut man sich jetzt an.  Eine Tarkowkij-Aficionada hat das raffinierte Wechselspiel von Film im Film im Film minutiös analysiert[2], so minutiös, dass ich nicht die Geduld hatte das nachzulesen, weil ich das im einzelnen auch nicht so aufregend finde, wohl aber die Tatsache, dass Tarkowskij hier einen Leseschlüssel für den Film insgesamt bereitlegt. Wenn auf der Raumstation den Menschen ihre Erinnerungen und Vorstellungen leibhaftig erscheinen, dann ist das dem sehr ähnlich, was der Film als Medium tut, das ist sozusagen die autoreferentielle Dimension dieses Films. Bei der Videovorführung spielt Tarkowskij damit: Achmatowa Look-alike Anna stellt dem glatzköpfig gealterten Berton eine Frage, die der junge Berton im Video beantwortet. Die Konferenz ist in schwarzweiß aufgezeichnet und findet offenbar an einem Ende einer riesigen Halle, vielleicht eines Flughafens statt. Die Internationalität der Konferenz wird hervorgehoben durch das Detail, dass auch ein schwarzafrikanischer Wissenschaftler teilnimmt. Die Allgegenwart der Technik macht sich in den nie erklärten, regelmäßig sich wiederholenden Fieptönen bemerkbar. Berton muss seinen Bericht über Solaris einem teils abgelenkten, teils ironischen Publikum vortragen. Man beginnt unwillkürlich darüber zu spekulieren, ob die Herrschaften, die mit wichtigen Minen im Hintergrund durchs Bild wandeln, am Ende nur versuchen sich unanstößig dem Kaffeetisch zu nähern. Berton selbst dagegen wird von seinem Bericht sichtlich mitgenommen. Irgendwann muss er sogar ein Medikament zu sich nehmen. Es berührt eigentümlich, dass er das mit der gleichen sich abwendenden Gebärde tut wie drei Filme und gut zehn Jahre später Gortschakow in Nostalghia. Das Video stimmt auf ein Nachsinnen über Zeit und Geschichte ein. Auf großen Leuchttafeln im Hintergrund des Konferenzraumes sind Porträtgraphiken zu sehen, vielleicht ein schlecht gelungenes Konterfei von Juri Gagarin und eine würdige bärtige Erscheinung, die aber wohl nicht aus so weiter Vergangenheit in unsere Zeit ragt wie die Aischylosbüste, sondern wahrscheinlich eine Koryphäe der Wissenschaft aus dem 19. Jahrhundert darstellen soll und vage an die Väter des Kommunismus, Marx und Engels erinnert. Verschiedene Zeit- und Lebensalter werden auf den Plan gerufen, was durch die Tatsache, dass das Video ein vergangenes Ereignis vergegenwärtigt, etwas über den Zeiten Schwebendes erhält. Ein bärtiger Wissenschaftler, der in etwa so aussieht wie man sich Slavoj Žižeks wohlerzogenen älteren Bruder vorstellt, ist Bertons eigentlicher Gegenspieler. Berton berichtet von dem beängstigenden Schauspiel wie aus der Substanz des Ozeans sich monochrome Bäume mit klebrigen Blättern, ja ganze Landschaften entwickelten. Sogar ein riesenhaftes, vier Meter großes Baby habe er gesichtet. Nachdem Berton seine eigenen Aufnahmen von Solaris vorgeführt hat, auf denen nur Wolken  zu sehen sind, schlägt der vollbärtige Kettenraucher ohne aufwändigere Bemühungen um Takt vor, das ganze Projekt der Solaristik einzustampfen. Tarkowskij hat sich die Blamage Bertons hinter die Ohren geschrieben und es zu vermeiden gewusst, in seinen späteren Filmen jemals wieder Wolken oder ihr Kuckucksheim zu zeigen, was einer der Gründe dafür ist, dass Slavoj Žižek ziemlich große Stücke auf ihn hält. Der ebenso souverän wie ironisch wirkende Professor Messenger gibt zu bedenken, dass das Aufgeben der Solaristik einem Denkverbot gleichkäme.

Durch die Fenster der Konferenzhalle sehen wir schwarze kahle Bäume und eine schwarze Krähe flattern und hüpfen – nur einen Augenblick.

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Aber das genügt um eine Beziehung zu knüpfen zu Bruegels Heimkehrenden Jägern, dem Bild, in das Kelvin und Hari sich später in der Bibliothek der Raumstation hinein versenken. Auch dort fliegt eine Krähe durchs Bild. Artgenossen sitzen in den kahlen Bäumen und sehen den auf trügerischem Eis tollenden kleinen Menschen in der schneeigen Ferne zum Verwechseln ähnlich. Ich erwähne diesen poetischen Verweis, weil dergleichen weiträumige Verknüpfungen typisch sind für diesen Film.

Gleich noch ein weiteres Beispiel: Kelvin fordert Berton auf, sich mit ihm für eine weitere Unterredung draußen „an der Schaukel“ zu treffen. Tarkowskij wäre nicht Tarkowskij, wenn er dort tatsächlich eine Schaukel zeigen würde. Nein, er liebt es rätselhaft: Kelvin steigt eine hölzerne Treppe mit hinfälligem Geländer hinauf und dreht sich vor einer verwitterten Tür mit abblätternder blauer Farbe um. Nicht nur ist sie anheimelnd verlottert wie viele Haus- und Wohnungswände in Tarkowskijs späteren Filmen ein nicht endender Abgesang auf die slawische Schlamperei seiner russischen Heimat sind. (Ein Dokumentarfilm gibt Auskunft darüber wie im ordnungsliebenden Schweden diesem Bedürfnis des Russen kaum beizukommen war[3]).  Vielleicht führt die Treppe in eine Art Baumhaus hinauf: das verwitterte Überbleibsel einer seligen Kinderzeit.

Die blaue Farbe changiert wegen des Blätterns wie die des Meeres: ein angemessener Hintergrund für das einzige Lächeln Kelvins in diesem Film, ein sanft ironisches Lächeln, das aber – von oben herab – Berton unheilbar kränkt. Er stürmt davon, so gut das geht am Stock, und ist so erbost, dass er sich sogar im Vorbeigehen mit Kelvins Vater anscheinend unwiederbringlich überwirft.

Man hat das ungute Gefühl, dass die Tür, vor der Kelvin sitzt, letztlich ins Leere führt: sozusagen ein unheimlicher Vorläufer in Tarkowskijs Werk der ins Leere führenden Treppen auf Leonardos früher, unvollendeter Anbetung der Könige (1482, Florenz Uffizien, Öl auf Holz), die in Tarkowskijs letztem Film Opfer eine wichtige Rolle spielt. Weiß der Kuckuck, was dieses hinfällige Gestell mit einer Schaukel zu tun haben soll. Irgendwann gegen Ende des Films auf der Raumsstation ist, bislang unverbunden, vom Sisyphos-Mythos die Rede, dem schlauen Sterblichen, der die ewige Strafe hat einen Felsblock einen Hang hinaufrollen zu müssen. Wenn er fast die Höhe erreicht hat, entgleitet der Stein und rollt wieder zu Tal. Das Rauf und Runter der Schaukel ins Tragische gewendet. Im Film taucht wirklich eine Schaukel auf – mindestens eine halbe Stunde später: Kris hat einen Erinnerungsfilm auf die Raumstation mitgebracht, den er Hari zeigt. Das erste Bild ist eine winterstarre Schaukel mit einer roten Wollmütze darauf. Ein Kind in roter Hose nähert sich – die Kamera senkt ihren Blick auf ein kleines Feuerchen hinab. Man versteht Stanislaw Lems ratlosen Spott – und der war nun wirklich nicht auf den Kopf gefallen – wenn er von den Begegnungen mit dem immerzu versonnen lächelnden Tarkowskij berichtet, aus dem nicht schlau zu werden war[4].

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Wenig später ruft Berton doch noch einmal per Video-Telefon von der Autobahn aus an: er weist darauf hin, dass er das Riesenbaby, das er über Solaris erblickt hatte, später als reales Kind eines der Solarisforscher wieder gesehen hat. Futuristisch ist an seiner Autofahrt, dass er nicht zu lenken braucht – das Auto fährt von allein. Er muss sich vertrauensvoll seinem Schicksal überlassen wie sich sein Sohn auf ihn verlässt. Wir sehen den Sohn seelenruhig seinen Kopf an den Rücken des Vaters lehnen. Eine endlose Fahrt durch Tokios Vorstädte, Kurosawa hat den Weg zu seinem damaligen Büro darin wieder erkannt. Mich erinnerten die vielen Betonunterführungen der Schnellstraße an Hongkong. Die Aussage ist einfach: wir leben schon jetzt in der Situation der Science Fiction, entfremdet von der Natur. Mit Hilfe von Spiegelungen hat Tarkowskij als letzte Steigerung eine fantastische, aber auch erschreckende Vogelperspektive vom Betonknäuel der Straßen und den wimmelnden, pulsierenden Lichtern der zahllosen Autos hergestellt. Dagegen dann Bilder von den Bäumen hinterm Haus in der blauen, vorgerückten Dämmerung. Wie traumverloren trappelt langsam das Pferd  an der Verandatür vorbei. Kris verbrennt vor seiner endgültigen Abreise überflüssige Unterlagen – ein einprägsames Bild: akkurate Architektenzeichnungen mit einem Hausplan werden langsam ein Fraß der Flammen. Das Bild einer anderen Frau taucht auf, die wir später als seine verstorbene Ehefrau Hari kennen lernen werden. Die „Achmatowa“ tupft sich verstohlen eine Träne ab, geht etwas abseits und schaut gemeinsam mit dem Hund in die stillen Lande: Wälder, Wiesen und Felder im wunderbaren Licht der Dämmerung. Wieder hat Tarkowskij kaum merklich die Fischaugenlinse eingesetzt, so dass sich der Horizont leicht wölbt. Mit Bildern wie diesen erweist sich der Russe als ein würdiger Nachfahre der Romantik. Man denkt an  die sich rundenden Wasserlachen auf Caspar David Friedrichs Bild Das große Gehege bei Dresden.

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Das große Gehege bei Dresden, 1832, Dresden, Galerie Neue Meister, Öl auf Leinwand, 73,5cmx102,5cm

Kelvins eigentliche Reise in den Kosmos wird ebenso lakonisch wie wirkungsvoll abgehandelt. Man hört hallende Instruktionen und sieht durch einen Schlitz die Augen Kelvins, der Schlitz mit den Augen beginnt zu schaukeln und sich zu drehen, ein Lichtreflex im Dunkeln kreist, man nähert sich der Raumstation, dann der Aufprall. Man sieht der gewaltigen Raumstation an, wie sich hier die sozialistische Planwirtschaft ins Zeug gelegt hat, um mit dem Aufwand an Technik zu imponieren – eine riesige Computeranlage, damals sicher der letzte Schrei, ist zur Verfügung gestellt worden. Die Station ist ein sphärisches Gebilde mit einem Rundumgang, aus dem zahllose runde Bullaugen beträchtlicher und alternierender Größe auf den unheimlichen Ozean hinausblicken. Und doch hat Tarkowskij sich durchgesetzt und einen Eindruck allgemeiner Verwahrlosung hergestellt: riesige Metallkästen stehen im Weg, lose Drähte zischeln vor sich hin, vereinzelte Buchseiten liegen auf dem Boden herum.  Von den drei Wissenschaftlern auf der Station leben nur noch zwei: Snaut und Sartorius, Gibarian hat sich das Leben genommen. Der Kybernetiker Snaut blickt verschreckt und verstört, er wirkt auch irgendwie heruntergekommen und hantiert an einem Verband seiner linken Hand.  Auch die privaten Gemächer der Wissenschaftler sind gezeichnet, soweit gezeigt, von genialischem Chaos. Bei Gibarian fliegen schöne Pferdeabbildungen herum, angeblich auch ein Buch über armenische Klöster, bei Snaut hängen Pläne auf Wäscheleinen und es liegt eine geöffnete Konservendose mit Speiseresten neben einem kostbaren Porzellangefäß – in etwa  so wie man sich Beethovens Wohnung im vorgerückten Lebensalter vorzustellen hat.

Die Raumstation umkreist Solaris. Der Blick aus den riesigen Bullaugen geht entweder in völlige Finsternis oder auf einen in riesigen Wirbeln wabernden Ozean; das alles wird immer begleitet von dem bedrohlichen Wummern eines Synthesizers.

Aber da ist unheimliches Leben auf der Raumstation: bevor Kelvin von Snaut aus seiner Kajüte gedrängt wird, entdeckt er schreckensstarr das Ohr einer liegenden Person, das aus der Hängematte herausragt. Ein halbwüchsiges, rothaariges Mädchen in türkisfarbenem Negligé wandert vom Klang eines Glöckchens begleitet durch die Gänge (Tarkowskijs Stieftochter) – offenbar eine untote Leiche in Gibarians Keller. Kris Kelvin entdeckt die Leiche Gibarians in einem Kühlraum, bedeckt von einer brüchig gefrorenen Plastikplane. In Gibarians Kajüte wartet eine Videobotschaft des Verstorbenen auf Kris. Die Möglichkeit des Films Vergangenes zu vergegenwärtigen, die schon das Video von der Konferenz demonstriert hatte, erfährt hier eine beklemmende Zuspitzung, denn der offensichtlich leidgeprüfte Mann, der sich im Video mit freundschaftlicher Unmittelbarkeit an Kris wendet, lebt nicht mehr.

Mark Le Fanu hat darauf hingewiesen, eine wie enorme, geradezu an große alte Kunst erinnernde Bedeutung Gesichter für Tarkowskij hatten, er sah darin eine Eigenheit (m. E. eine von vielen) die den Regisseur von seinen Kollegen absetzte. Man hat gelegentlich den Eindruck Tarkowskij habe Schauspieler mehr wegen ihrer Gesichter als wegen ihrer schauspielerischen Qualitäten gewählt.

Gibarians Gesicht hat diese Art der besonderen Einprägsamkeit, er ähnelt dem Christus aus der Passionsszene im Rubljow, nur ist sein Gesicht mehr in die Länge gezogen, die Falten um Augen und die messerartige Nase sind schärfer gezogen. So wird ein Charakter glaubwürdig, der sich mit Gewissensqualen zugrunde gerichtet hat. Tarkowskij nimmt einen verräterischen Kunstgriff vor, weil er Kelvin vor dem Bildschirm in das gleiche Schwarzweiß, bzw. Grau taucht wie Gibarian. Als Snaut und Sartorius an Gibarians Kajütentür rütteln und „Aufmachen!“ brüllen, meint man einen Moment lang, das spiele in der Gegenwart und Kelvin sei gemeint. Die Grenze zwischen Schein und Realität wird verwischt. Aber Gibarian denkt nicht daran aufzumachen und verpasst sich vor Kelvins Augen die tödliche Injektion. Ein Selbstmord ist immer eine bestürzende Tat, umso mehr, wenn ihn einer von nur drei Besatzungsmitgliedern begeht.

Kris Kelvin verbarrikadiert den Eingang zu seiner Kabine mit schweren Kisten wie in einer Gespenstergeschichte und legt sich voll in Raumfahrtmontur bekleidet auf das mit einer dicken, transparenten Plastikplane bedeckte Bett, eine Pistole in griffbereiter Nähe. Als dann wie aus dem Nichts eine junge Frau in seiner Kabine erscheint und sich zu ihm legt, überwiegt die erotische Vertrautheit den Schrecken. Es ist wie gesagt seine frühere Frau Hari. Doch dann wird ihm doch etwas mulmig und er tastet nach der Waffe, berührt aber dabei Haris Fuß, die zusammenzuckt und lachend sagt, er solle sie nicht kitzeln. Einer der wenigen Anflüge von Komik, mit der der Ansatz, den „Fremdlingen“ mit Waffengewalt begegnen zu wollen, verulkt wird.  Apropos Komik: dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich. Nichtsdestotrotz beschließt Kris heimtückisch Hari in eine Rakete zu komplimentieren und sie dann zum Mond zu schießen. Kris hat versäumt sich von der Abschussrampe rechtzeitig in Sicherheit zu bringen und wälzt sich in Flammen am Boden, ein Bild das sonderbar voraus weist auf den brennenden Domenico in Nostalghia. Snaut schaut vorbei und nimmt das Ganze von der humoristischen Seite. Als er Kelvins versengten Raumfahrtanzug sieht und seine Brandblasen, meint er in der deutschen Synchronisation, sie seien ja „ganz schön übereinander hergefallen“, bei den englischen Untertiteln findet sich keine Spur dieser kleinen Anzüglichkeit.

In der folgenden Nacht erscheint Hari wieder wie nicht anders zu erwarten; dieses Mal in sehr viel erotischerem Licht: einem warmen, lichten Braun, das von dem Bullauge ausgeht. Die beiden leben sich zusehends miteinander ein, was sich schon an Kelvins immer häuslicherer Kleidung ablesen lässt.

Sartorius in preußenblauem, etwas schmuddeligem Rolli und weißem Laborkittel ist ganz ätzender Zyniker, seine „Gäste“ scheinen Resultate wissenschaftlicher Experimente zu sein. Er stellt sich schützend und abweisend vor die Tür seines Labors, gegen die von innen jemand wie wild anrennt. Dann springt die Tür auf und ein zappelnder Zwerg drängt hinaus. Sartorius trägt den strampelnden Wicht sofort wieder hinein. No questions asked. Es wird irgendwo berichtet, Tarkowskij habe sich bei den Dreharbeiten einiges einfallen lassen, um den von Haus aus eher sanftmütigen Schauspieler Solonizyn in den richtigen Zustand zu versetzen.

Ein schockierender Zwischenfall ist die Folge, als Kelvin seine Kabine mit der scheinbar schlafenden Hari zurücklässt und die Tür schließt: ein Pandämonium bricht drinnen los, die Bleche der Tür biegen sich und Hari stößt mit brachialer Gewalt durch, um blutüberströmt Kelvins Beine zu umarmen. Ein Hinweis darauf, dass sie nur in seiner Vorstellungswelt existieren kann, seine Abwesenheit entzieht ihr die Existenzgrundlage. Es gehört zu den spezifischen Möglichkeiten des Films, dass er einen so unglaublichen Vorgang glaubhaft machen kann, aber die blutenden Wunden verheilen in Windeseile und die restlichen Blutspuren lassen sich mit etwas Gaze weg reiben: falsches Blut eben wie im Kino!

Andererseits ist es auch spezifisch filmisch, dass der Regisseur alles, was zunächst eine Bedeutung auf der psychologischen, spirituellen Ebene hat, ins Handgreifliche übersetzt. Was also im Theater oder in mehr literarischen, theatralischen Filmen in der Hauptsache den Dialogen überlassen bleibt, wie etwa, die schon in Genesis angekündigte Abhängigkeit der Frau vom Mann zu zeigen, wird hier drastisch-unmittelbar getan. Immer wieder liest man, dass sich Leute an Tarkowskijs Dialogen stoßen, sie sonderbar finden. Mein Eindruck ist, dass er so genial war, die ganze Rechnung, was Film ist und daher auch welche Rolle dem Dialog zukommt, neu aufzumachen.

Lange Zeit habe ich mich für Dialoge und Schauspielerführung in Tarkowskijs Filmen am wenigsten interessiert, zu sehr war ich in den Bann geschlagen von seinen Bildern, von visuellen Verweisen, die mich auf jahrelange Reisen schickten, manchmal waren und sind es sogar jahrzehntelange Odysseen. Er selbst war aber sehr absorbiert sowohl von Dialogen als auch von Schauspielerführung, wie aus seinen Tagebuchaufzeichnungen hervorgeht, und das lerne ich mit den Jahren mehr und mehr schätzen, nachdem sich das wilde Kopfzerbrechen im Allgemeinen beruhigt hat. Besonders begeistert war Tarkowskij von seiner Hari Natalja Bondartschuk, die ihre graduelle Vermenschlichung sehr überzeugend verkörperte. Sie war Sergej Bondartschuks  Tochter aus erster Ehe, des schon erwähnten berühmten Sowjetregisseurs, der sich leider zu Tarkowskijs Intimfeind entwickelte. Natalja Bondartschuk hat später in einer Art Notgemeinschaft von „Tarkowskij-Geschädigten“ Nikolai Burljajew, den Hauptdarsteller von Iwans Kindheit und den Glockengießer Boriska im Rubljow, geheiratet. Doch bevor wir uns ganz an die Versippung rund um Tarkowskij im wirklichen Leben verlieren, wenden wir uns Kris Kelvins Verwandtschaftsverhältnissen zu, wie sie – zugegeben nicht besonders klar – aus einem Super 8-Film hervorgehen, den Kelvin zur Erinnerung an die Erde mitgebracht hat. Er führt ihn Hari vor und es wird bald klar, dass Bilder aus verschiedenen Lebensabschnitten zusammen geschnitten wurden. Wir hören Bachs Ich ruf  zu dir Herr Jesu Christ aus dem Orgelbüchlein (BWV 639), das schon den Vorspann des Films untermalte, eine süchtig machende, oder jedenfalls sehnsüchtig machende Musik.  Es beginnt mit der schon erwähnten Schaukel in winterlicher Landschaft und dem teils rot gekleideten Kind, vielleicht Kris in seiner frühen Jugend neben einem brennenden Feuerchen. Wir sehen verschiedene Jahreszeiten zwischen Frühherbst und Winter. Frühling und Sommer werden symbolisch präsent gemacht, durch die wunderbar große und schlanke Mutter, die in herbstlicher Landschaft ein knöchellanges Häkelkleid aus großen weißen und rosa Rosen trägt. Später steht sie in winterlicher Landschaft mit weißer Pelzjacke und blauem Schal eine Zigarette im Mundwinkel und einem jungen Hund auf dem Arm. Das Motiv der auf den Hund gekommenen Mütterlichkeit hatte Max Beckmann bereits in seinem visionären und provozierend vulgären Stil zur Darstellung gebracht.

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Max Beckmann, Triptychon, Die Versuchung, 1936/37, München, Pinakothek der Moderne „Frau mit Schoßhündchen in Käfig“ (rechte Tafel)

Ein halbwüchsiger Kris erscheint, man hat einen Jugendlichen gefunden, der tatsächlich aussah wie man sich den Schauspieler Banionis mit fünfzehn vorgestellt hätte. Und auch der Vater ist einmal kurz gefilmt mit noch nicht ergrautem Haar und einem gewinnenden Lachen. Der kleine Junge trägt im Schnee ein großes Bündel Brennholz an einer gewaltigen Festungs- oder Stadtmauer entlang. Tarkowskij hatte lange zuvor in seinem Tagebuch vermerkt[5], dieser Erinnerungsfilm sollte wie ein Gedicht komponiert sein und er trug sich mit der Absicht ein Gedicht seines Vaters zu suchen, das als Vorlage dienen könnte. Wollte man sich allerdings auf die Suche machen nach einer solchen Vorlage, wäre das ein aussichtsloses Unterfangen. In seinem Buch Die versiegelte Zeit gibt er das Beispiel eines Kurzfilmes, den er zu drehen träumte und der sich auf ein Gedicht des Vaters beziehen sollte[6]. Aber dabei wird man vergeblich irgendwelche direkten Entsprechungen suchen. Auch da ist wieder von einem Lagerfeuer die Rede. Jedenfalls scheint die Auffassung von Film als Lyrik mit anderen Mitteln aus dieser Zeit zu stammen.

Die Jahreszeiten in dem Filmchen verweisen auf das Vergehen der Zeit wie die Familienbilder aus der Vergangenheit ebenfalls, wobei Bilder des Frühherbstes und des Winters kunterbunt durcheinander gemischt sind.

Wichtig sind sicher die Aufnahmen von den beiden Frauen: die blonde, rosenfarbene Mutter und die brünette, erdfarbene Hari, beide Schauspielerinnen in ihrer blendendsten Jugend. Kelvin behauptet, sicherlich zu Recht, die Aufnahmen seien zu ganz verschiedenen Zeiten entstanden und die Frauen hätten sich nie kennen gelernt. Die argwöhnische Hari meint sich zu erinnern, die Mutter habe sie „beim Tee“ rausgeworfen. Dazu fällt uns von unseren spärlichen „Erinnerungen“ aus dem Film der den Tee verdünnende und erkältende Regenguss ein: ein stimmungsvolles Bild für eine grausam ins Wasser gefallene Stippvisite. Rational spricht alles für Kelvins Behauptung, emotional-suggestiv einiges für Haris. Nach dem Super-8 Film schreitet Haris Anamnese weiter fort. Kris erzählt ihr, dass sie immer mehr gestritten hätten, und eines Tages habe er von ihr die Andeutung gehört, sie wolle sich das Leben nehmen. Die Komplikationen in ihrer „Beziehungskiste“ verhinderten, dass er der Sache auf den Grund gegangen ist. Er musste für einige Tage verreisen und ihm fiel ein, dass er versehentlich eine gefährliche  Substanz  aus seinem Labor im Kühlschrank gelassen hatte. Aus Verzweiflung habe sie sich eine tödliche Injektion gegeben.

Die Jugendlichkeit beider Frauen lässt sie als Idealtypus von „Frau“ erscheinen, in jeweils sehr unterschiedlicher Ausprägung. In etwa erinnert das an ein Bild von Claude Monet Le Déjeuner, bei dem zwei spazierende Frauen am rechten Bildrand erscheinen, bei denen die Farben der Kleider geistreich in Beziehung gesetzt sind zum restlichen Bild. Dieses Bild spielt allerdings gerade auf den vermutlichen Altersunterschied der beiden Frauen an.

Die weiße Tischdecke reflektiert im Schatten kühl und hellbläulich, was eine Beziehung zur linken „morgendlichen“ Frau herstellt, während das Kleid der „mittäglichen“ Frau die gleiche Farbe des sonnenerwärmten Sandbodens im Mittelgrund des Bildes hat. Das ist charmant, bezaubernd, aber nicht mehr als ein Zeugnis für den altehrwürdigen, raffinierten Hedonismus unserer westlichen Nachbarn.-

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Claude Monet, Le Dejéuner, 1873 (Garten in Argenteuil) Öl auf Leinwand, 1,62 x 2,03m, Musée d’Orsay

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Bei  Tarkowskij ist die Entgegensetzung der beiden Frauen nicht nur eine des unwiederbringlich vergangenen Frühlings und Sommers auf der einen Seite, Herbst und Winter auf der anderen, sondern wird unversehens zur Gegenüberstellung der alten und der neuen Eva. Tarkowskij hatte ursprünglich vorgehabt, Kris Kelvins zweite Frau „Maria“ im Film einzuführen, was am Widerstand der Filmbehörde und auch Stanislaw Lems scheiterte, dem die eigenmächtige Kreativität Tarkowskijs im Umgang mit seiner Vorlage schon lange zu bunt geworden war[7]. Der Hinweis auf die Jungfrau und Mutter Maria ist dem Regisseur trotzdem gelungen, einfach indem er die Mutter von einer so jungen Frau darstellen ließ und sie mit dem Rosenkleid idealisierte, schließlich ist „rosa mystica“ eine alte Anrufung Marias in der Lauretanischen Litanei, die, auch wenn sie mehr in der katholischen Kirche als in der Kirche des Ostens verbreitet war, Tarkowskij bekannt sein konnte. In einem Gedicht Puschkins über den armen Ritter Don Quixote ruft der Maria als „Lumen coeli, Sancta Rosa!“ an. Dieses Gedicht war Tarkowskij mit Sicherheit vertraut. Der Roman des Cervantes ist das einzige Buch, das in der Bibliothek von Solaris hervorgehoben wird.  Diesem Idealbild der Edelsten der Frauen, wird als dessen Entstellung in unserer winterlichen Weltzeit die gleiche Frau mit Zigarette im Mundwinkel und kleinem Boxerköter auf dem Arm entgegengestellt. Zugleich ist das auch eine Art des „Spurenverwischens“.

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Haris Kleid ist aus Lederstücken in verschiedenen Braun- und Beigetönen in strenger Symmetrie zusammengenäht. Ihr Umhang aus dicker Wolle (jemand sprach von Makramee, hier überlasse ich das Feld den Handarbeitsexpertinnen) ist aus breiten Streifen Dunkelbraun, Mittelbraun, Gelbocker und fast Weiß zusammengesetzt, wobei das Weiß den unteren Rand bezeichnet und mit langen Fransen versehen ist. Ein Beispiel dafür, wie Assoziationen und Suggestionen sich verselbstständigen können, ist die Tatsache, dass ich der Kleidung Haris immer große Bedeutung beigemessen habe und sie auf einer Linie sah mit dem unförmigen, aus Häuten und Fellen zusammen gestückten Heißluftballon im Prolog des Rubljow und auch mit der aus Häuten und Fellen zusammengenähten Kleidung von Adam und Eva nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies, obwohl im Falle Haris und ihrer Kleidung von Unförmigkeit wirklich nicht die Rede sein kann. Nur wenn sich in der Erinnerung das Fellartige des Wollumhangs und das Zusammengenähte der Lederstücke überlappen, kann die Phantasie in diese Richtung geleitet werden. Tarkowskij inspirierte sich durchaus an der Dialektik. Die Tatsache, dass er Eisensteins dialektisches Montageprinzip ablehnte, bedeutet keine generelle Ablehnung. Die „These“ des genähten Lederkleides kommt zusammen mit der „Antithese“ des zotteligen Umhangs und produziert in der Imagination/Erinnerung die „Synthese“ von Adam und Evas zusammengenähten Fellen. Die Sache ist sehr subtil. Es gibt ein Photo von Hari, auf dem der weiße Streifen ihres Umhangs mit den langen Fransen sogar an Flügel erinnert, also in eine ganz andere Richtung weist.

Hari wird immer mehr zu einem selbstständigen Wesen. Kris lässt sie noch einmal in der Kajüte allein zurück und dieses Mal kommt es nur noch zu einer kleineren Katastrophe: sie liegt ohnmächtig auf seinem Bett und es gelingt ihm bald sie wiederzubeleben.

Kris und Hari tauchen glücklich und  wie frisch verliebt bei den beiden Anderen auf. Snaut wirkt betreten und weiß nicht, ob er die von der wiederholten Hari zum Gruß gebotene Hand entgegennehmen soll, er tut es widerstrebend, während Sartorius sich rundweg weigert.

In der folgenden Nacht weckt Snaut Kris um ihm mitzuteilen, dass reale Aussichten bestehen, die Erscheinungen abzustellen, sie wollen Kelvins Enzephalogramm an den Ozean weitergeben, Kris ist nicht amüsiert. Snaut verweist darauf, dass am nächsten Tag sein Geburtstag ist und lädt sie in die Bibliothek ein. Einer der Vorzüge der Bibliothek ist Snaut zufolge, dass sie keine Fenster auf den Ozean hat. Sie scheint im Inneren der Raumstation zu liegen und ist ein rundes oder ovales Nostalgiekabinett – geschmackvoll dunkelgrün ausgeschlagen mit kunstvoll unterteilten, dunkelbraunen Regalen. In der Mitte über einem Tisch hängt ein besonders prachtvoller Kristalllüster, daneben aber stehen einfache, vierarmige Kerzenständer zur Beleuchtung zur Verfügung.

Als erstes sieht man eine weiße Totenmaske Puschkins an der Wand. Der Vater der russischen Dichtung war von Tarkowskij hoch geschätzt; weniger deutlich und etwas entfernt die Maske Beethovens, nebst unbekanntem, kleinerem Marmorporträt. Wieder wie im Vaterhaus der Rückgriff auf die Griechen mit einer Porträtbüste: der wegen seines Silengesichtes leicht zu identifizierende Sokrates. Die Bibliothek hat sozusagen Fenster auf die Erde, einen breiten Erker mit so altehrwürdigen „Fenstern“ wie den Gemälden Pieter Bruegel des Älteren  (1525 – 1569) oder wie gesagt einem noch altehrwürdigerem mittelalterlichen Glasfenster, das ich bislang nicht identifizieren konnte. Wahrscheinlich stellt es die Szene aus Genesis dar, da Abraham vor seinen drei Gästen in Mamre niederfällt (Gen 18, 1-15). Erstens knüpft das an die Dreifaltigkeitsikone des Andrej Rubljow an, die den krönenden Abschluss seines vorherigen Filmes darstellte. Kris hat eine kleine Reproduktion dieser Ikone in seiner Kabine, vor der er einmal sinnend steht. Auch in anderen Filmen hat Tarkowskij in der westlichen Kunstgeschichte Motive ausfindig gemacht, die Motiven in der russischen Tradition entsprechen. (Jan van Eycks Johannes der Täufer vom Genter Altar, der auch in der orthodoxen Deesis figuriert.) Abrahams Ehrfurcht vor seinen Gästen wird kontrastiert mit der Geringschätzung insbesondere von Sartorius für die „Gäste“ auf der Raumstation.

Aber Tarkowskij wird kaum erwartet haben, dass sein Publikum solchen Fingerzeigen nachgeht, jedenfalls waren die nicht vordringlich. Wichtiger ist sicher, dass unter dem gotischen Glasfenster eine Miniaturkanone steht: ein Bild des Widerspruchs der abendländischen Kultur, bei der Christentum und Kriegsführung Hand in Hand gingen. (Nicht weit davon steht zu allem Überfluss auch eine Miniaturreproduktion von Andrea Verrocchios berühmter Reiterstatue, des Condottier Colleoni.)

Snaut, der Grund für die Zusammenkunft, lässt auf sich warten. Ein offensichtlich übellauniger Sartorius geht auf und ab und steckt dabei, extrem kurzsichtig, die Nase in einen dicken Aktenordner. Als dann Snaut endlich auftaucht, hat er zur Feier des Tages ein Anzugsjackett angezogen, das aber am rechten Oberarm eine riesige Klinke hat. Nimmt man den Verband seiner linken Hand hinzu, macht er einen einigermaßen lädierten Eindruck. Offenbar, so ist man fast gezwungen anzunehmen, ist das Zusammensein mit seinem Gast, oder seinen Gästen nicht gar so traulich wie das Kelvins. Kelvin ist im Übrigen auch der einzige, der kein Geheimnis aus seinem Gast Hari macht. Snaut betrachtet Bücher im Allgemeinen als Plunder. Er greift sich das Buch, in dem Kris geblättert hat, und lässt mit Grandezza den sich auffächernden Mehrpfünder über die Schulter schwer flatternd zu Boden gehen. Dafür, dass das Lokal Bibliothek genannt wird, werden Bücher auffallend wenig in Ehren gehalten. Er geht zu einem Stapel Bücher, wirft sie achtlos und flott zur Seite, bis er gefunden hat, was er suchte: den Don Quixote des Cervantes mit den Illustrationen Gustave Dorés. Snaut bittet Kris einen Passus daraus vorzulesen, da er selbst zu nervös dazu sei. Kris liest Sancho Pansas Loblied auf den Schlaf vor, der Groß und Klein gleichmacht, aber auch sonst dem Tod verteufelt ähnlich sieht. Tarkowskij war selbst ein Ritter ohne Furcht und Tadel, der immer neue, weitere Expeditionen in diese Zone der Todesnähe unternommen hat. Freilich wusste er auch, dass es eine glücklichere Zeit gegeben hat, die mit Johann Sebastian Bach voller Zuversicht singen konnte: „Komm oh Tod, du Schlafes Bruder“(BWV 56)

Es ist kein Zufall, dass von allen Werken der Weltliteratur der Don Quixote hervorgehoben wird. Puschkin, der Vater der russischen Literatur, hatte wie erwähnt ein Gedicht über den armen Ritter verfasst, das insofern aus der allgemeinen Rezeption dieser beinahe archetypischen Figur der europäischen Kultur hervorsticht, als die Wasser der Ironie,  die in der westlichen Welt – angefangen mit Cervantes selbst – gleich kübelweise über ihn ausgeschüttet wurden, in Puschkins lichterloh flammenden Leidenschaftlichkeit verdampfen wie Tropfen auf einem heißen Stein. In Puschkins Gedicht verschmilzt die Gestalt des Ritters von der traurigen Gestalt mit El Cid, dem Retter Spaniens und der treibenden Kraft bei der „Reconquista“, der Befreiung von der Herrschaft der Mauren. Es rührt damit an den ernsten Untergrund  der Romanfigur. Dostojewskij sah in diesem Gedicht, das in seinem Roman Der Idiot eine Rolle spielt,  ein überzeugendes Beispiel für die besondere Gabe und Sendung des russischen Geistes, der so breit und universal angelegt sei, dass er die verschiedenen Kulturen Europas gewissermaßen von innen her verstehen könne. Diese Überzeugung ist in der großen Literatur Russlands lebendig geblieben und war es auch in Tarkowskij.

Sancho Pansa war und ist der Schutzheilige aller Anhänger des so genannten „gesunden Menschenverstandes“, einer ständig wachsenden Glaubensgemeinschaft. Während der Ritter der Prototyp der immer schwindsüchtigeren „Dichter in dürftiger Zeit“ (Heidegger), der Künstler und mit Phantasie Geschlagenen ist. Damals, in der Mancha, vielleicht überhaupt eine Utopie, waren sich die beiden Menschentypen noch in Freundschaft verbunden, während sie sich heute feindselig und voller Verachtung gegenseitig mustern.

Die Sehnsucht nach gesundem Schlaf rührt an einen wunden Punkt auf der Raumstation, denn der ist hier offenbar Mangelware.

Das Phlegma des Sancho, unabdingbare Voraussetzung für den Schlaf, wird hier zum Objekt der Begierde. Snaut ist von Widersprüchen hin und her gerissen, denn er beschwört Kris, wir dürfen nicht einschlafen. Wie sagte doch ein anderer Spanier, Goya: wenn die Vernunft einschläft, erwachen die Ungeheuer, die „Gäste“…

Snaut findet, dass auch ihre Situation auf der Station gleichmacherisch ist, sie stellt vor Probleme, bei denen es gleichgültig wird, ob man ein Genie oder mittelmäßig ist. Er hält eine Rede gegen die Science Fiction, gegen die Solaristik, der Mensch brauche nicht den Kontakt mit anderen Intelligenzen, der Mensch brauche einen Spiegel, er brauche den Menschen. Rechts im Hintergrund von Snaut sieht man eine kleine Nachbildung der Venus von Milo. Tarkowskij meint damit, der Mann brauche die Frau. Das Gleiche sagt zuvor eine schlichte Geste Snauts, der gedankenverloren Haris Hand ergreift und küsst.

Sartorius kann dem Gedankenaustausch in der Bücherei nichts abgewinnen. Er wird sehr schneidend und zieht über das Dostojewskij-Gelaber her. Er wirft Kris vor, so sehr von der Begegnung mit seiner früheren Frau in Anspruch genommen zu werden, dass er überhaupt nichts mehr tut. Das erinnert stark an die perfide Invektive Romano Guardinis, des am deutschen Wesen genesenen Italieners, gegen Dostojewskij, dem der „cattolicone“ aus dem Veneto wohl vor allem die Geschichte vom Großinquisitor übel nahm. Guardini hatte nicht ganz unzutreffend darauf hingewiesen, dass bei Dostojewskij in aller Regel nicht gearbeitet wird.

Hari ergreift Partei für Kris, ereifert sich sehr und nähert sich einer prächtigen Teufelsmaske, die auch an der Wand hängt. Tarkowskijs „elusiveness“, die ihn als Person kennzeichnete, wie Stanislaw Lem bemerkte, hat sich auch vielen Einzelheiten in seinem Film mitgeteilt, wie man feststellen muss, sobald man versucht diese dingfest zu machen. Auf den ersten Blick hätte ich bei dieser Maske auf Bali getippt: die Grellheit luftgebundener Dämonen. Aber die wie bei einer Kudu-Antilope sich schraubend windenden roten Hörner der Maske passen nicht dazu. Doch hat sie auch mit der erdgebundenen Dumpfheit afrikanischer Masken nichts zu tun. Man könnte noch eine Fahndung in China veranstalten, denn wenn es um Dämonen geht, ist China sicher das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber vielleicht ist das wieder gar nicht so wichtig, viel wichtiger ist, dass Hari just in diesem Moment den vor der Maske aufgestellten Kerzenständer „aus Versehen“ runterschmeißt. Dabei sind noch einige Bücher, auf denen der Ständer stand, mitgegangen. Wir sehen sie kurz im Rauch der erloschenen Kerzen. Vielleicht hat Tarkowskij die so auffällig zur Schau getragene Verachtung für Bücher zuvor vor allem deshalb inszeniert, damit man ihm diese Bilder durchgehen ließ? Kris geht vor der haltlos schluchzenden Hari auf die Knie, was wiederum Sartorius die Contenance verlieren lässt; „Steh auf!“ fleht er Kris an. Das erinnert an eine Szene im Rubljow, in der der der Tunichtgut Kyrill, entlaufener und nach langer Odyssee zurückgekehrter Mönch vor dem verstümmelten Narr auf die Knie fällt, weil er für das, was diesem von der Obrigkeit angetan wurde, Verantwortung übernehmen muss. Auch der Narr erträgt die Selbstdemütigung des Mönches nicht.  Der Kniefall von Kris stellt auch eine unterschwellige Beziehung zu dem vor seinen „Gästen“ niedergefallenen Abraham auf dem Glasfenster her. Und am Ende des Films steht das Zitat von Rembrandts Verlorenem Sohn. Der Kniefall ist mithin eine Demutsgebärde, die sich unterirdisch durch Tarkowskijs Filme zieht. In Nostalghia hat die Italienerin Eugenia ein Problem damit, in der Kirche niederzuknien. Umgekehrt verbringen Alexander und Otto in Anlehnung an die anbetenden Greise auf Leonardos Anbetung der Könige (1482) einen guten Teil des Films auf allen Vieren.

Snaut, der schon etwas angesäuselt zur nachmittäglichen Versammlung in der Bibliothek erschienen war, hat dessen ungeachtet dem Portwein, oder einem ähnlichen Getränk weiterhin kräftig zugesprochen. Snaut bittet Kris um Hilfe, und zu allem Überfluss hört man im Hintergrund den anheimelnden Stundenschlag einer alten Standuhr. Weder Snaut noch Tarkowskij halten sich mit Erklärungen auf. Kris geleitet den leicht schwankenden Snaut hinaus, der im Anbetracht der prekären Lage der Solaristik für sich das moralische Recht in Anspruch nimmt sich zu betrinken. Er tituliert Sartorius als „Faust“, weil der nach Wegen sucht die Unsterblichkeit abzuschaffen. Wie man sieht hat man in der Solaristik die zu unseren irdischen umgekehrten Probleme. Wie Faust will Sartorius Herr über Leben und Tod sein. Der angetrunkene Snaut schwadroniert höhnisch über die Kontaktaufnahme mit dem Ozean, wobei Tarkowskij wieder einmal an in der Sowjetunion verbotenen Früchten nascht und Anspielungen auf Christus einflicht. Ob man ihn auspeitschen oder anbeten solle, diesen Ozean? Er macht einen theatralischen Abgang, indem er (auf Deutsch!) Brechts Soldatenlied schmettert: „Oh Susanna, das Leben ist nicht schwer, für einen toten Bräutigam kommen Tausend neue her!“ Aber vorher warnt er noch Kris, dass um 17 h ein Moment der Schwerelosigkeit  eintreten wird. Kris ist plötzlich eingefallen, dass er Hari allein in der Bibliothek zurückgelassen  und  vielleicht sogar die Tür geschlossen hat. Als er atemlos in die Bibliothek stürzt, sitzt Hari ruhig und gedankenverloren eine Zigarette rauchend auf dem Tisch. Offenbar verselbstständigt sie sich immer mehr. Nun wird die ästhetische Kontemplation von Bruegels Heimkehr der Jäger dominant. Wichtig ist die elektronische Geräuschkulisse, die er dabei herstellt: Stimmengemurmel, Hundegebell, eine Vielzahl von Vogelstimmen, unheimliche elektronischer Geräusche, die das Gefühl der kafkaesker Unbehaustheit, Unheimlichkeit, das sicher auch zu diesem Bild gehört, verstärkt. Die Kamera konzentriert sich zunächst die gebeugt und in sich gekehrt  mit magerer Ausbeute heimkommenden Jäger und ihre spindeldürren Hunde, die Tarkowskij an die heimatlichen Barsoi erinnert haben mögen, und bei deren Anblick man friert wie ein Schneider.

Dann tritt die angekündigte Schwerelosigkeit ein, ein Kerzenständer stößt an den über und über mit Kristallen behängten Leuchter, was eine sanfte Wellenbewegung durch diesen sendet. Das aufgeschlagene Cervantes-Buch fliegt vorbei wie die Erde auf ihrem Orbit: wir sehen die Doré-Illustration, die Don Quixote auf seiner erstaunlich leichtfüßig tänzelnden Mähre Rosinante und daneben Sancho auf seinem gebeugten Esel zeigt. Der aufmerksame Betrachter des Films, der ihn gefühlte fünfzig Mal gesehen hat, wird sich daran erinnern, dass die gleiche Buchabbildung schon im Abenddämmer des väterlichen Hauses zu sehen war, wenn auch etwas von Erde bedeckt. Auch Kris und Hari schweben nun in federleichter Umarmung, vorbei an dem Bruegel-Erker, dessen  Bilder wir nie alle, nun aber flüchtig aus etwas größerer Nähe sehen: Die Heimkehr der Jäger im Schnee, Der Ikarussturz, Der Sommer und der Der düstere Tag, um dann wieder in den Sog der Winterlandschaft zu geraten. Beim Ikarus nimmt den Vordergrund ein Bauer ein, der mit einem Pferd die Erde pflügt. Er ist mit seinem leuchtend roten Wams der erste Blickfang, Betonung der Nähe. Der Blick geht dann auf das weite Meer hinaus, aber den Ikarus muss man lange suchen: man sieht noch seine Beine – winzig ist er vorne rechts ins Meer gestürzt.

Auffallend ist auch der Gegensatz zwischen dem gesenkten Blick des Bauern und dem zum Himmel aufblickenden Hirten im Mittelgrund, der das eigentliche Zentrum des Bildes ist. Wer eine etwas beweglichere Phantasie hat, kann sich hier an Genesis erinnert fühlen, den Gegensatz zwischen dem Ackerbauern Kain und dem Hirten Abel. Der Rauch des Brandopfers Abels stieg zum Himmel auf, der des Brandopfers Kains nicht. Sein daraus rührender Neid war die Wurzel seiner Niedertracht und seines Brudermords.

Was der flämische Kartograph Abraham Ortelius in seinem Buch Über die Freunde über den niederländischen Grübelgermanen und Meister des Hintersinns Bruegel bemerkte, ließe sich auf Tarkowskij ummünzen: „Unser Bruegel malt viele Dinge, die man gar nicht malen kann. […] In seinen Werken ist oft mehr an Gedanken als an Malerei.“

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Pieter Bruegel der Ä., Landschaft mit Ikarus, ca. 1558,  Brüssel, Öl auf L., 73.5 × 112 cm

Für Tarkowskij bedeutet die Abkehr von der Hybris des Ikarus und der Solaristik, nicht einfach der heimatlichen Scholle verhaftet zu bleiben und den Äther zu vergessen. Auch der Turmbau zu Babel ist ein Bild menschlicher Hybris und wurde bezeichnender Weise nur kurz gezeigt, als Hari den Leuchter vor der Teufelsmaske zu Fall brachte.

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Pieter Bruegel d. Ä., Turmbau zu Babel, 1563, Wien, Öl auf Eichenholz, 114 cm x 155 cm

Nebenbei bemerkt, ist auch die kostbare Einrichtung der Bibliothek „somewhat elusive“: jemand hat darauf hingewiesen, dass unerklärlicher Weise die Kerzenständer im Laufe der Szene in diesem Raum in verschiedenen Positionen auf dem Tisch, mal links und mal rechts von Hari, stehen und mit verschieden weit heruntergebrannten Kerzen…

Ist das Schusselei oder ist das der Kobold, der sein Publikum foppt?

Denn spätere Filme wie Stalker und Opfer zeigen ähnlich irritierende Veränderungen innerhalb eines settings und scheinen im englischen Sprachraum genügend herzugeben für ganze Dissertationen.

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Pieter Bruegel d. Ä., Die Heimkehr der Jäger im Schnee, 1565, Wien, Öl auf Eichenholz, 117 cm x 162 cm

In der erneuten Annäherung an die Winterlandschaft erklingt nun wieder Bachs sehnsuchtsvolles Orgelstück, womit die Fremdheit ins Humanum, ins Heimkommen umschlägt: das vertraute Dorf mit der Kirche, die heimatlichen Bäume und Sträucher, das muntere Treiben auf dem Eis. Die Bilder Bruegels vermitteln sowohl ein Gefühl wehmütiger Nostalgie als auch der – trügerischen – Geborgenheit: so viele Jahre sind seither schon ins Land gegangen, so war es immer schon, und so wird es immer bleiben. Tarkowskij machte uns in einem ersten Moment darauf aufmerksam, dass die heimkehrenden Jäger sich im unwirtlichen Winter genauso entborgen fühlen mögen wie die Männer auf der Raumstation. Tarkowskij hat darauf hingewiesen, dass ihn an den Kunstwerken ihre Ambivalenz faszinierte, was er hier mit dem beschriebenen zweifachen Zugang zur Darstellung gebracht hat[8].

Der sanfte Flug der Bach-Meditation nimmt ein jähes Ende: Schnitt – eine Art Thermosgefäß zerschellt auf dem Boden, Kälterauch steht im Raum, daneben liegt die in ein knackend gefrorenes hellblaues Hemd gehüllte tiefgefrorene Hari mit blutendem Mund und blutiger Nase: Schwesterchen Frost.  In ihrem lang hingeflossenen, grau überreiften Haar ist die Sehnsuchtsbewegung der unter Wasser wallend tanzenden Gräser erstarrt. Ihr Gesicht erscheint mehrfach verfremdet in einer Spiegelung: kopfüber, riesig und verzerrt und dann noch einmal aufrecht.

Sie hat flüssigen Sauerstoff getrunken, um ihrer zweifelhaften Existenz ein Ende zu setzen. Die extreme Kälte wird gewissermaßen ihrer meteorlogischen Selbstverständlichkeit entkleidet und so vielleicht als spirituelles Phänomen ansichtig. Unter Kelvins Augen erwärmt sich ihr Körper langsam und ganz allmählich kehrt in konvulsivischen Zuckungen Leben in sie zurück. Snaut, der zufällig vorbeikommt, stöhnt, er könne die ständigen Auferstehungen nicht mit ansehen. Unter dem immer geschmeidiger werdenden nassen Hemd zeichnen sich ihre Brüste deutlich ab. Snauts Beteuerung ist absolut glaubwürdig, obwohl Hari eine junge, schön gewachsene Frau ist. Ihr Kampf um die nackte Existenz lässt keinen Raum für Voyeurismus. Kris hat zwar noch seine Lederjacke an, ist ansonsten aber ohne weitere Erklärung bis auf die Unterhose entkleidet. Die zuständige sowjetische Kommission hatte seinerzeit deswegen ideologische oder anderweitige Bedenken angemeldet.

Kris umfasst die Schultern der delirierenden Hari von hinten und ihre stoßweise geflüsterte  Zwiesprache bringt die erschütterten Grundfesten, die Urängste in der Beziehung zwischen den Geschlechtern zum Vorschein. Sie reißt sich von ihm los und verdächtigt ihn, dass er sie abstoßend finde. Mitten hinein in dieses dramatische Getätschel der beiden wie ein Froschkönigspaar auf dem Boden hockenden Liebenden flicht Tarkowskij eines seiner Verwirrspiele: wir sehen in einiger Entfernung Snaut am Eingang seiner Kabine sich von irgendetwas los machen, los reißen und Hals über Kopf, aber leicht hinkend fliehen. Das Hin-und Her Gezerre wird unmittelbar im Anschluss an den Ringkampf von Kris und Hari gezeigt und fast unbewusst damit in Verbindung gebracht. Snaut rennt, eine ominöse Metallschatulle in der Hand einmal rund um die Raumstation, wie Hector laut Homer auf der Flucht vor Achill um Troja.  Kris hat eine mit Muttererde gefüllte Schatulle von der Erde mitgebracht.

Das Hinken ist eine Anspielung auf Jakobs Kampf mit dem Engel und wird von Tarkowskij in seinem letzten Film Opfer (1986) wieder aufgegriffen: die Hauptfigur Alexander hat im Traum eine zärtliche, aber auch existentiell erschütternde Begegnung mit der Küchenhilfe Maria. Nach dem Aufwachen stößt er sich am Nachtschränkchen oder ähnlichem und hinkt fortan durch das, was vom Film noch bleibt.

Tarkowskij, der nach seinem drastischen Rubljow im Ruf stand, einen Hang zur Grausamkeit zu haben, lässt sich in diesem Film davon wenig anmerken. Lediglich diese Szenen mit Hari zwischen Leben und Tod haben eine gewisse Härte, insbesondere im Kontrast mit der vorherigen, von Bachs Orgelmusik untermalten Schwebeszene. Auch die Dialoge sind gelegentlich von einer Drastik, die für westliche Ohren etwas ungewohnt ist. Im Gespräch mit Sartorius sagt Kris, wenn er sich von Hari trennen müsse, sei das so, als müsse er sich ein Bein abtrennen. Sartorius geht darauf nicht ein. Aber Kris setzt einige Sätze später noch einmal nach: wenn Sartorius sich alle Arme und Beine abgeschnitten habe, solle er sie rufen, damit sie ihm mit dem Nachtgeschirr behilflich sein können…

In der folgenden Nacht schläft Hari friedlich, aber Kris ist schweißbedeckt; (außerdem hat er das Kopfkissen vollgelüllt). Er steht auf, wandelt wieder  wie beanstandet mit der Unterhose durch die Gänge, und eine Art fiebriges Delirium scheint einzusetzen (das famose „Nervenfieber“, das uns aus der Dostojewskij-Lektüre vertraut ist und bis dato eigentlich nur daraus). Damit schlägt erfahrungsgemäß in ganz besonderer Weise Tarkowskijs Stunde. Zur Einstimmung gibt es erst einmal einen „Januskopfeffekt“: Kris kommt auf uns zu mit einem Mal wird er überblendet mit seiner Rückenansicht – er hat im Handumdrehen oder genauer gesagt eher mysteriös eine 180º Grad Kehrtwende vollzogen.  Dem an einem Bullauge stehenden Snaut gegenüber gibt er allerlei Wundersames zu Protokoll. Er weigere sich Mitleid zu haben: „Leiden gibt dem ganzen Leben ein finsteres und verdächtiges Aussehen!“ Er verstehe jetzt Tolstojs Problem, die Unmöglichkeit die ganze Menschheit zu lieben. Das war mir bislang nicht bekannt, wohl habe ich von Dostojewskijs altem Karamasow gehört, er könne ganz gut die ganze Menschheit lieben, nur mit dem Einzelnen habe er so seine Probleme… Ob Dostojewskij beim alten Karamasow den Kollegen Tolstoj im Sinn hatte? Tolstoj konnte sich sehr wohl mit großem Eifer dem Wohl der Menschheit widmen mit Alphabetisierungsprogrammen für die Bauernkinder, war aber gleichzeitig fühllos und kalt dem ihm am nächsten stehenden Menschen, seiner Ehefrau gegenüber: ein Mensch mit seinem Widerspruch, mehr noch ein Russe und genialer Ausnahmemensch! Tolstoj war ein Urviech mit unermesslichen spirituellen Sehnsüchten, dessen innere Zerrissenheit im Russland seiner Tage eine „cause célèbre“ war. Nicht nur schuf in ihm wie bei allen künstlerischen oder musischen Menschen die Einheit oder enge Verbundenheit von Sinnlichem und Geistigem eine besondere Affinität zur Sexualität, darüber hinaus scheint er von einer ungewöhnlich starken Triebhaftigkeit und  zu allem Überfluss von einem leidenschaftlichen Temperament geplagt gewesen zu sein. Schon eine dieser drei Komponenten allein macht es schwer, ein menschenwürdiges Verhältnis zur Sexualität zu finden. Nicht auszudenken, wenn die drei zusammenkommen. Deshalb neigte Tolstoj immer mehr dazu, die Sexualität zu verteufeln und völlige Enthaltsamkeit zu predigen. Tarkowskij, der gegen Ende seines Lebens bekannte, sehr viel mehr von Tolstoj als etwa von Dostojewskij beeinflusst worden zu sein, hat da manches von dem ruppigen Moralisten übernommen.

Bei Dostojewskij setzt Tarkowskij auch noch eins drauf, wie wir gleich sehen werden. Kelvin wird nun von Snaut und auch von Hari geleitet, die nach längerem wieder in ihrer wie angegossenen, jedenfalls nicht angezogenen Lederkluft erscheint. Durch die Bullaugen, die auf den Ozean gehen, blitzt jetzt immer wieder ein blendendes Licht. Kris, der in der Bibliothek noch meinte, sein Freund Gibarian habe sich aus Hoffnungslosigkeit das Leben genommen, kommt jetzt zu dem Schluss, er habe es aus Scham getan, um dann ein überraschende Statement zur Korrektur Dostojewskijs in die Welt zu setzen: Die Scham wird die Menschheit retten! Also nicht die Schönheit wie Dostojewskij angeblich gesagt haben soll. Ein russischer Schriftsteller unserer Tage behauptet schlicht und einfach, Dostojewskij habe das nie gesagt, wobei allerdings die Autorität dieses uns zeitgenössischen Autors, soweit mir bekannt, vor allem auf seiner Trinkfestigkeit beruht. Dabei muss man zugeben, dass sein Spott etwas Richtiges trifft. Die in ihrer gehobenen Erbaulichkeit aufreizende Aussage kursiert nur als Gerücht durch den Roman Der Idiot. (Die Oberflachheit in der heutigen Medienlandschaft ist freilich durch nichts zu beirren und hat das Wort zum Werbeslogan für Kosmetikprodukte gemacht.) Fürst Myschkin soll es angeblich gesagt haben, was den Hohn und die Feindseligkeit seiner Mitmenschen auf ihn lenkt. Er selbst nimmt aber nie Stellung dazu, bestätigt es nie. Die von Lem beklagte „elusiveness“ Tarkowskijs hat so am Ende ihr Vorbild in Dostojewskij.

Vielleicht sind Scham und Schönheit nur zwei Seiten der gleichen Medaille: wenn wir eine Intuition der spirituellen Schönheit von Jesus Christus haben, und darum ging es  Dostojewskij, dann werden wir unweigerlich von der Scham über unsere eigene Erbärmlichkeit eingeholt. Etwas ins Stolpern bringt die Tatsache, dass Gibarian sich umgebracht hat: eine Scham, die zum Tode führte. Von Paulus werden die Umkehr und der Beginn eines anderen Lebens mit Tod und Auferstehung gleichgesetzt. Es passt in die Tendenz dieses Filmes geistige Prozesse mit der dem Film möglichen Buchstäblichkeit vorzuführen: den Kampf um die „nackte Existenz“, die spirituelle  „Vereisung“ oder auch Kelvins „Umkehr“, mit der wir in sein Delirium einbezogen werden. Gibarians Tod ist dieser Sichtweise zufolge Voraussetzung für ein neues Leben.

Kris wird in sein Bett gebracht. Die optischen Verwirrspiele werden kompliziert: von seinem Bett blicken hinunter in einen tiefer liegenden Raum, in dem wir ihn und sein Bett verdoppelt sehen. Ein sozialistisch schütterer Blumenstrauß in einer Glasvase spielt auch eine rätselhafte Rolle. Hari umhegt Kris, aber in seiner fiebrigen Verwirrung gleichen sich die beiden Frauen Hari und die Mutter – beide im Unterrock mit Haris Umhang in der Hand oder über den Schultern, gehen umher, verschwinden in einem dunklen Eingang, tauchen wieder auf. Tarkowskij, der in seinem Schaffen immer dem Kompass größtmöglicher subjektiver Wahrhaftigkeit gefolgt ist (im dialektischen Widerspruch zur Verlogenheit des Systems), gibt sich hier beträchtliche Blößen.

Auch sein heimatlicher Boxer hockt in seiner Kabine, mit hängender Zunge heftig hechelnd, ein hässliches Bild von Triebhaftigkeit. Es folgt eine Traumszene mit der Mutter in dem gleichen taubenblauen Dämmerlicht, das auch die abendliche Landschaft und das Haus vor seiner Abreise umgab. (Zuvor waren Aufnahmen aus dem Vaterhaus, die Fensterbank mit dem Kanarienvogelkäfig, in warmem bernsteinfarbenem Dämmer gezeigt worden.) Kris schaut scheu auf, verzaubert und gebannt; er geht langsam auf die Mutter zu und sie umarmen sich sanft. Er beklagt schuldbewusst seine zweistündige Verspätung.

Der mehrendige Fuß eines massig liegenden Glases gerät aus unerfindlichen Gründen ins Kippeln: das  sich verlangsamende Pochen zieht die Aufmerksamkeit auf eines jener verrätselten Stillleben, die den Russen noch berüchtigt machen werden und ihm schon von einem wenig zur Langmut veranlagten italienischen Kritiker das abschätzig gemeinte „Bric à Brac“ eingehandelt hat. Die rechteckige Metallschatulle, die Kris von der Erde mitgebracht hat, liegt geöffnet und es zeigt sich, dass sie mit Erde gefüllt war. Ein Pflänzchen hat zu sprießen begonnen. Münzen verschiedener Größen liegen über den Humus und neben der Schatulle verstreut und dahinter ein rätselhafter Gegenstand, der vielleicht das Grätengerippe einer Scholle sein könnte; keine Ahnung.  Einerseits sind in den zwei Räumen Gegenstände aus seinem Vaterhaus zu sehen, wie die Stiche mit den Mongolfieren, ein antikes Jagdhorn und die Anatomiepuppe, andererseits spielt das Bruegelbild mit der Heimkehr der Jäger im Schnee eine prominente Rolle. Die gewaltige Metallkiste, mit der er sich in seiner ersten Nacht auf der Raumstation zu verbarrikadieren versuchte, steht mitten im Raum. Überall die knisternden Plastikplanen als Verfremdungseffekt: an der Wand der Kabine, um die Anatomiepuppe und das Bruegelbild. Das Plastik rückt das Ganze auf unbestimmte Art in die Nähe des Todes, denn diesen Planen sind wir zum ersten Mal auf der Leiche Gibarians im Kühlraum begegnet.

Man hört wieder den Stundenschlag der Standuhr. Sie scheint also in der Traumwelt verortet zu sein, also doch Wolkenkuckucksheim. Die Mutter, wieder im gehäkelten Rosenkleid, meint sie gehe wohl etwas nach und sie müsse sie wieder einmal stellen. Sie blättert in einem Buch und macht ihm sanft Vorwürfe,  er habe sie, die Eltern, so sehr gekränkt, weil er nie angerufen habe. Sie ist in diesen beiden Hinsichten Tarkowskijs wirklicher Mutter nicht unähnlich, die ihm früh die Liebe zur russischen Literatur eingeflösst hat. Er bemerkt bekümmert, dass er sich nie an ihr Gesicht erinnern könne. Sie geht darauf nicht ein und meint, dass er schlecht aussehe. Sie fragt ihn – sie stehen beide vor der dunklen Winterlandschaft – ob er glücklich sei. Er findet den Begriff irgendwie „unangebracht“. Sie ergreift einen auf dem Tisch liegenden Apfel und beißt hinein, was eine unbestimmte, rätselhafte Beziehung zu dem angebissenen Apfel auf dem Verandatisch des väterlichen Hauses zu Beginn des Films herstellt. Außerdem rückt sie dieses Detail von der mütterlichen Rolle ab und lässt an Eva denken. Nicht nur gibt es die poetische Kindheitserinnerung in Iwans Kindheit, in der Iwan auf einem Wagen voller Äpfel seiner kleinen Schwester den schönsten schenken möchte. Auch zuvor in der Diplomarbeit Die Dampfwalze und die Violine spielt beim Warten im Konservatorium ein Apfel zwischen dem jungen Musiker und einer ebenso jungen Musikerin eine poetische Rolle. Wie sich die Mutter den Apfel essend an die Kabinenwand lehnt, sich ein wenig klein macht und zusammenkauert, um sich auf ihren Sohn einzustellen, sich in ihn hineinzufühlen, ist nicht nur mütterlich, sondern darüber hinaus auch ungemein anziehend weiblich. „Du führst ein seltsames Leben. Wie du aussiehst!“ Sie schiebt mit leichter Hand an seinem aufgestützten Arm den Pyjamaärmel zurück, um schwarze Dreckspuren zu entdecken, als habe er ein Auto repariert. Sie holt eine große Schüssel und gießt aus einer Porzellankanne Wasser hinein, um dann die Dreckspuren abzuwaschen. Dabei haucht sie ihm einen heimlichen Kuss aufs Ohr und wir hören eine gicksende Vogelstimme, vielleicht einer sehr schläfrigen Nachtigallen Schlag. Auch während der ersten Annäherung an das Winterbild Bruegels hörte man unter anderem dieses Vogels Stimme. (Unnötig darauf hinzuweisen, dass ich mir bei youtube vergebens dutzende von Vogelstimmen angehört habe.) Vielleicht ist es aber auch einfach das Allerweltsgeräusch eines Vogels: sowohl bei einem Nachmittagsspaziergang als auch in einem Dokumentarfilm über die Mancha meine ich es gehört zu haben. Außerdem ähnelt es auf für Tarkowskij charakteristische Weise körperinternen Geräuschen. Das gehört zu seiner unauffälligen Art uns unter die Haut zu gehen. Der fiebrige Kris stammelt flehentlich: „Mama!“ Die Mutter entgleitet in das Dunkel einer Türöffnung.

Coleridges „suspension of disbelief“ ist im Traum eine Selbstverständlichkeit, und so nimmt man ohne Protest hin, dass diese „Mutter“ gut und gerne die Tochter des Schauspielers Banionis sein könnte. Vermutlich sind es Szenen wie diese, an die Ingmar Bergman dachte als er sagte, Tarkowskij habe sich im Raum der Träume mit einer schlafwandlerischen, traumtänzerischen Sicherheit bewegt, wie es ihm selbst fast nie möglich gewesen sei (sehr frei wiedergegeben!). Auch Tarkowskij selbst hob diese Szene bei einer späteren Wiederbegegnung mit dem Film als gelungen hervor und hat eine Variation davon in seinen letzten Film Opfer übernommen.

Kelvin kommt in seiner wieder in Farbe erscheinenden Kabine im Bett liegend zu sich und kaum erwacht flüstert er „Hari“. Zwei wohl mit Wasser gefüllte Kannen aus Jenaglas kommen kurz ins Bild, wobei die eine siedend und heftig Blasen treibend die Gefährdung, der Kelvins Hirn soeben entronnen ist, sehr eindrucksvoll veranschaulicht. Etwas unerklärlich finden sich auch Schüssel, Porzellankanne mit Goldrand und himmelblaues Frotteehandtuch. Snaut kommt rein und erkundigt sich nach dem Befinden des Patienten. „Wie geht’s uns denn?“ (Tarkowskij persifliert wie man in Pflegeberufen halt spricht: eine Gemeinsamkeit suggerierend, die aber keineswegs ernst gemeint ist.) Kris fragt sofort  nach dem Verbleib von Hari und der muss damit herausrücken, dass sich Hari mit Hilfe des „Annihilators“ von Sartorius endgültig aus der Solariswelt geschaffen hat.

Denkwürdig ist wie sich der Film von Sartorius verabschiedet: er steht auf dem Gang herum „wie bestellt und nicht abgeholt.“ Dann schickt ihn Tarkowskij in die Kabine: Spielerisch wirft Sartorius einen kleinen bunten Plastikball vor sich auf den Gang. Wir kennen den Ball vom Beginn des Films; er kam durch das kleine Mädchen, Gibarians „Gast“, auf die Station. Er hüpft nun von dannen, und wird genialisch durch eine Überblendung mit den unterschiedlich großen und auf alternierenden Höhen angebrachten Bullaugen der Station in Beziehung gesetzt. Im Kontrast zum von Sartorius geradezu fanatisch behaupteten Pflichtethos kommt die Komponente verantwortungsloser Spielerei in der Solaristik, und damit in der modernen Wissenschaft zum Vorschein.

Kris ist auf dem Weg der Genesung und der Schauspieler stellt diese Art der Mattigkeit in halben Lächeln sehr überzeugend dar. Snaut und er treffen sich in der Bibliothek. Seine verbleibenden Gespräche mit Snaut haben etwas Kondensiertes, ein sämiges Konzentrat. Snaut warnt ihn doch bitte schön nicht die Frage nach dem Sinn des Lebens aufzubringen. Solange man gesund und zufrieden sei, habe man für die so genannten letzten Fragen weder Bedarf noch Zeit. Kris scheint ihm in gewisser Weise Recht zu geben: Die Tatsache, dass wir den Zeitpunkt unseres Todes nicht kennen, mache uns „praktisch“ unsterblich.- Was mich in dieser Szene am nachhaltigsten fasziniert, ist die Kameraführung, die langsam aber unaufhaltsam auf das schwarze Loch von Kelvins Ohr zuzoomt. Das dunkle Rätsel: Wer oder was ist der Mensch?


[1] Mikail Romadin, On Film and Painting, Topics, Nostalghia.com

[2] Elena V. Rodina, Connections between Different Realities through Video Screens.  Analysis of the “Berton’s Report” film sequence from „Solaris“ directed by Andrei Tarkovsky (1972), March 2012 in Offscreen Online Journal,  http://www.offscreen.com/index.php/pages/essays/solaris_video_screens/

[3] Die von absolut-Medien herausgegebene DVD von Offret ist begleitet vom Dokumentarfilm Michal Leszczylowskis Regie: Andrej Tarkowskij, der Hinweise darauf enthält.

[4] „Tarkovsky reminds me of a sergeant from the time of Turgenev — he is very pleasant and extremely prepossessing and at the same time visionary and elusive. One cannot ‘catch’ him anywhere because he is always at a slightly different place already. This is simply the type of person he is. When I understood that I stopped bothering.” englische Übersetzung auf Nostalghia.com The Topics, Tarkovsky and Lem on Solaris, Stanisław Bereś, Rozmowy ze Stanisławem Lemem, Wydawnictwo Literackie, Cracow 1987, ISBN 8308016561

[5] Tagebücher,  12. März 1971

[6] Die versiegelte Zeit, Berlin 1996, S. 98 – 100

[7] Tarkovsky, Solaris – Writing, Wikipedia, Anmerkung 6

[8] A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 114 f.

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