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Tarkowskij und die Frauen

September 29, 2014

Tarkowskij muss irgendwann einmal gesagt haben, er wolle sich erschießen, wenn eine Frau in seiner Gegenwart gähne.1 Eine Aussage, die gelinde gesagt überraschen mag und die zeigt, dass er, so gesehen, ein eher anstrengender Umgang für Frauen war. Man stelle sich das einmal vor: da gähnt eine Frau aus Versehen und schon will der gute Mann sich etwas antun.

In den schonungslosen Auseinandersetzungen mit seiner ersten Frau in Der Spiegel (1975) sagt sie einmal, er könne immer nur fordern und dass er immer den Eindruck erwecke, alle Welt müsse von seiner Existenz einfach beglückt sein. Worauf er erwidert, das habe damit zu tun, dass er nur mit Frauen aufgewachsen sei. Sie solle wieder heiraten, damit ihr Sohn nicht ähnlich verzogen werde. Zumindest die Ehrlichkeit der Antwort ist eindrucksvoll. (Freilich kann man den schneidenden Ton nicht einfach überhören.)

In seinen ersten Filmen kommen selten einfach geglückte Beziehungen zwischen Mann und Frau zur Darstellung. Freilich kann man ihm auch kaum einfach Parteilichkeit oder gar Misogynie nachsagen.

In Iwans Kindheit(1962) wird die sehr junge Sanitäts-Offizierin Mascha im Birkenwald eine wehrlose Beute von Hauptmann Cholin. Tarkowskij wies darauf hin, wie wichtig es war, dass sie für den Film eine Schauspielerin gefunden hatten, die von der Sanitäterin in der Romanvorlage sehr verschieden war: dort war von einer üppigen Blondine die Rede, während diese Mascha vor allem jung und unerfahren wirkt2. Es beginnt in einem Birkenhain mit einer unverfänglichen Konversation über Cholins sibirische Heimat Krasnojarsk und den Maler Surikow3. Der Hauptmann lockt sie dann etwas aus der Reserve, indem er sie zu einer kleinen Mutprobe verführt: er lässt sie auf einem schräg ansteigenden, gestürzten Baumstamm balancieren. Dann bietet er ihr an, sie beim Runterspringen aufzufangen. Ein besonders einprägsames Bild ist die Situation, als Cholin Mascha über einen Graben hilft. Er steht mit gespreizten Beinen über dem Graben und hält sie mitten inne, um sie zu küssen. Ein komplexes Bild, das, auch wenn man ihm sprachlich beizukommen trachtet, einen unauslotbaren Rest behält: Ihre reglos in seinen Armen hängende Gestalt macht ihre völlige Passivität deutlich. Sie wirkt wie geschlagene Beute. Aber mehr noch als an ein Raubtier, ist an eine Spinne zu denken, die ihre Beute bewegungsunfähig macht und ihr das Leben aussaugt4.

Eher unromantisch hört man im Hintergrund Gewehrfeuer. Das Ganze ist von unten, aus dem Graben gefilmt. Mit dem Graben, der an die Grabesgrube erinnert, ist vielleicht auf die Allgegenwart der Todesgefahr bei dieser flüchtigen Begegnung angespielt. Nach dem Kuss geht sie wie betäubt, mit den Füßen tastend, nah am Graben entlang. Er ruft sie zu sich, sie gehorcht wie willenlos und gelähmt. Daraufhin schickt er sie in einem plötzlichen Stimmungswandel weg. Offenbar kommt er sich auf einmal schäbig dabei vor, ihre Unerfahrenheit auszunutzen. Das wird nur in Andeutungen deutlich, es bleibt rätselhaft. Lediglich ihr von einer Kakophonie begleitetes Taumeln durch den Birkenhain kontrastiert negativ mit einer Szene wenig später.

Sie begegnet einem jungen Rekruten mit Nickelbrille, der sie wieder erkennt und herzlich begrüßt. (Es ist übrigens der dann auch in Hollywood bekannt gewordene Regisseur Andrej Michalkow-Kontschalowskij, der damals erst 25 Jahre alt war, aber seine erste Ehe schon hinter sich hatte. Er hat mit Tarkowskij auch für Andrej Rubljow zusammengearbeitet.) Aus ihrer Reaktion und der Inszenierung lässt sich entnehmen, dass er ihr wohl viel bedeutet. Wieder im Wald allein jubeln die Violinen im Walzertakt und ihre Seele tanzt durch den Birkenhain5.-

Der Birkenwald ist ein gutes Beispiel für die Ambivalenz der Bilder Tarkowskijs. Einerseits ist bekannt, dass die Russen – wie auch die Polen – ein geradezu zärtliches Verhältnis zu den Birken haben, diesen wunderbar lichten Bäumen, die die Melancholie der osteuropäischen Landschaft aufhellen aber gleichzeitig mit ihren feinen, traurig hängenden Zweigen in diese Melancholie einstimmen. In Nostalghia hören wir von dem Musiker Sosnofskij, dass es ihn schier umbrachte, seine russische Heimat mit den geliebten Birken nicht mehr wieder sehen zu können. Andererseits meinte Tarkowskij, dass dieser Birkenhain so etwas wie den „Hauch der schwarzen Pest“ heraufbeschwor6.

Nach einer gefährlichen Expedition an das andere Ufer des Flusses sitzen Hauptmann Cholin und der junge Leutnant Galzew in ihrem gut geheizten Bunker: Galzew hat sein Hemd zum Trocknen abgelegt und sitzt mit nacktem Oberkörper. Endlich kommen sie (und wir) dazu die Schallplatte mit dem Gesang des berühmten Bass-Baritons Fjodor Schaljapin zu hören, die der dann gefallene Katasonow aufgetrieben hatte (ein Lied mit dem beziehungsreichen Titel Mascha muss nicht über den Fluss hinüber7). Plötzlich erscheint Mascha um sich zu verabschieden. Galzew zieht sich sein Hemd über. Der bös überraschte Cholin erfährt, dass Galzew sie abkommandiert hat, weil sie den harten Anforderungen an diesem Abschnitt der Front nicht gewachsen sei. Cholin geht auf sie zu und sucht nach Abschiedsworten. Er kann es sich nicht versagen, sie auf den Soldaten mit der Nickelbrille anzusprechen. Es ist ihm nicht entgangen, dass da etwas war. Sie will das nicht zugeben. Der wunderbar lyrische Gesang im Hintergrund stellt eine sehr romantische Stimmung her, doch dann ist da ein Sprung in der Schallplatte und ein Seufzen wiederholt sich mechanisch: ein grausamer Scherz. Cholin dreht sich erschrocken um und Mascha verschwindet. Was mag den Regisseur zu dieser sehr männlich-unsentimentalen Lösung bewogen haben? Vor Jahren habe ich einmal einen kurzen Text zu dieser Stelle geschrieben, der zu dem Fazit kam: Es wäre schlimm, wenn es so etwas wie gelungene Abschiede gäbe.-

Warum überhaupt diese ganze Geschichte um Mascha, die völlig unabhängig von der Hauptgeschichte um Iwan existiert? Vielleicht war das eine Erfordernis der Romanvorlage Bogomolows. Aber Tarkowskij hat sich bekanntermaßen nie um Vorlagen geschert, wenn sie seinen Intentionen nicht entsprachen. Jemand hat zu Recht auf eine sozusagen unterirdische Beziehung hingewiesen: Mascha hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der kleinen Schwester Iwans, die in zweien der Traumsequenzen auftaucht. Beide Male wird eine kindlich unschuldige, geschwisterliche Paarbeziehung gezeigt, gewissermaßen paradiesisch, vor dem Sündenfall.

Tarkowskij zeigt die Furchtbarkeit des Krieges in diesem Film nicht in blutrünstiger Schlachterei, sondern zum einen daran dass die Kindheit Iwans zerstört ist: das macht die lichtdurchfluteten Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg so schmerzend. Zum anderen sehnt sich Hauptmann Cholin nach etwas Romantik, aber der Krieg hat ihn verroht, er belauerte Mascha mitunter wie ein Raubtier seine Beute. An der allgegenwärtigen Realität des Krieges zerschellt der Traum von einer glücklichen Beziehung.

Im Andrej Rubljow wird umgekehrt der gefesselte Mönch Andrej Opfer der gewissermaßen „virtuellen“ Verführung einer jungen Frau beim heidnischen Fest an einem Maienabend. (Unvergesslich wie zu Beginn dieses Filmabschnitts die Stimmung der frühsommerlichen Abenddämmerung vom Schlag der Nachtigallen herbeigerufen wird.) Andrej und Foma wollen Brennholz beschaffen. Doch etwas liegt in der Luft. Die seltsamen Geräusche im Wald, zum Teil nackte, mit Fackeln vorbei huschende Menschen stellen einen Sog her, dem sich Andrej nicht entziehen kann. Tief aufgewühlt ruft er Foma zu: „Sie betreiben Hexerei!“

Sein offenbar mit mehr Phlegma begabter jüngerer Gefährte versucht vergeblich ihn zurückzurufen. Eine wohl auf Stelzen gespenstisch hochragende vermummte Gestalt, aufflatternde weiße Vögel, ein heidnisches Ritual, bei dem ein sargähnlicher kleiner Einbaum mit einer bekleideten Strohpuppe, die eine brennende Kerze trägt, von einem langen Spalier nackter Menschen in den Fluss geleitet wird, dazu eine schnarrende, aufpeitschende akustische Untermalung, all das ist ungemein suggestiv und macht die zunehmende Erregung des Mönches verständlich. Um die sinnenfällig zu machen fängt seine Kutte an den Füßen Feuer, was ihm gerade noch auszustampfen gelingt.

In Kommentaren ist immer wieder von der „Johannisnacht“ die Rede, doch die ist im Juni und aus dem anfänglichen Dialog zwischen Andrej und Foma geht klar hervor, dass der Juni noch nicht angebrochen ist. Tarkowskij ging es nicht darum, ethnographisch verlässliche Aussagen zu machen. Er hat eine künstlerische Reflektion über die innere Folgerichtigkeit der indoeuropäischen Version einer heidnischen Weltsicht geschaffen. So ist die massenhafte, jugendliche und schöne Nacktheit in dieser Episode nicht willkürlich, sondern geht einher mit der Leugnung des Sündenfalls etwa der legendären Adamiten. Dazu gehört eine kleine Vergewaltigung des angeborenen Schamgefühls, die auf andere, spirituell weniger raubeinige Kulturen, wie etwa die chinesische, die die Geschichte unseres Sündenfalls bestenfalls vom Hörensagen kennen, nach wie vor schockierend wirkt.

Mehr als Folkloreforschung ist diese Episode eine Antwort auf schwarzmagische Faszinationen in der russischen Literatur etwa bei Gogol, die wiederum Mussorgskijs Eine Nacht auf einem kahlen Berge inspiriert haben, ein Werk, dem durch Walt Disneys Fantasia große Popularität zuteil wurde, oder auch auf Igor Stravinskijs Ballett von 1913 Le sacre du printemps, das bei seiner Premiere in Paris das Publikum in Raserei versetzte. Das Ritual des Einbaums mit der Strohpuppe soll inmitten erotischer Aufgeregtheit die Reise ans andere Ufer, ins andere Leben, die Sehnsucht nach Transzendenz versinnbildlichen.

Rubljow wird von den feiernden Bauern in einem Schuppen entdeckt und als feindlicher Eindringling, als „Schwarzkutte“, wie bei einer Kreuzigung an einen Balken gefesselt. Er droht ihnen, sie müssten für ihre Sünden in der Hölle schmoren. Die Männer lassen ihn zurück, nicht ohne sich höhnisch vor ihm zu bekreuzigen und ihm in Aussicht zu stellen, ihn am nächsten Morgen mit einem Stein am Hals im Fluss zu ertränken. Eine junge Frau, die die Szene beobachtet hat, wundert sich über seine Drohungen und fragt ihn, frei nach Zarah Leander: „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Zu einer Zeit, „da die ganze Natur sich liebt?“ Andrej sagt, Liebe müsse brüderlich sein und nicht „viehisch“. Doch diese slawische Eva8 kennt natürlich noch überzeugendere Argumente als Worte: sie geht auf den Mönch zu, nur mit einem umgehängten Fellmantel bekleidet, den sie von sich abgleiten lässt, ergreift seinen Kopf und küsst ihm lang und innig auf den Mund. Er bittet sie, ihn von den Fesseln zu befreien, und sie ist ihm zu Willen. Er irrt hin und her durch das Gestrüpp und streift sich den schwarzen Umhang ab, der ihn zuvor als Mönch verraten hatte. Dann blickt er mit einem Mal gebannt nach rechts, ein bisschen wie das Kaninchen vor der Schlange. Wir sehen das Gesicht der Frau, das sie abwartend zwischen ihre verschränkt auf einer Art Holzbrüstung lagernden, wundervollen, bereiften Arme versenkt wie ein „couche de soleil“ zwischen sanften Hügeln; unter ihrem sengenden Blick, dem sich die Kamera langsam nähert, werden wir aus der Szene entlassen.-

Erst im Morgengrauen findet Andrej zu seinen Leuten am Fluss zurück. Hat er der Versuchung der Frau standgehalten? Wir wissen es nicht. Im Text der Vorlage kam es zur Konfrontation mit der Frau im Wald ohne Fesselung und Entfesselung, die Verführung fand nur in der Vorstellung des Mönches statt, dennoch war sich Rubljow dort ausdrücklich seiner Sünde bewusst9. Offenbar wurde hier der hohe Anspruch des Neuen Testaments verinnerlicht, demzufolge einer schon Ehebruch begangen hat, wenn er eine Frau auch nur lüstern anblickt. Dass Tarkowskij die Primärquellen für diesen Film studiert hat, ist nicht verwunderlich. Dass er es so gründlich tat inmitten der sozialistischen, atheistischen Wildnis, hingegen schon.

Rubljow kommt an Bauernhäusern mit friedlich beieinander schlafenden Paaren vorbei. In den Türen aufgehängte kleine Strohkränze und Bündel gemahnen vage an das heidnische Ritual. Eine verhärmte, kummervoll vor sich hinstarrende alte Frau sitzt in leicht schaukelnder Bewegung. Einmal wischt sie bedächtig den Kitzel einer verstohlen rinnenden Träne fort. Kurz zuvor im Wald sah man beim erregten Andrej eine ähnliche Geste. Es ist eine Besonderheit des Films im Unterschied zum Theater, dass solch minimale Details bedeutsam werden können. Vielleicht ist es ein entmystifizierendes Bild für sexuelle Lust: Wenn es einen juckt, muss man sich kratzen. Tarkowskijs Wahrheitsliebe hebt die Flüchtigkeit dieser Erfahrung hervor, ihre Vergänglichkeit, die besonders wie hier im Rückblick des Alters schmerzlich zu Bewusstsein kommt.

Die Anderen empfangen den verlorenen Sohn mit Reserven und mehr oder minder unausgesprochenen Fragen. Rubljow ergeht sich in rätselhaften Andeutungen zur Macht der Gewohnheit, die auch das Verhältnis der Geschlechter bestimme – ein Wald, in dem er sich nicht auskenne. Deshalb ist er so zerkratzt. Die Rede von der Wiederholung des Immergleichen erinnert an das leichte Schaukeln der alten Frau, ein Bild für monotones Einerlei. Da schlägt der kleine Einbaum mit der schwelenden Asche der Strohpuppe an ihr Boot. Das ersehnte andere Ufer des Flusses wurde nicht erreicht. Im nüchternen Licht des Morgens erscheint das vorabendliche Ritual in seiner mystifizierenden Aufgeregtheit als bloße Illusion10.

Dann werden sie in ihren Booten Zeugen eines dramatischen Nachspiels des nächtlichen Festes. Rubljow, durch jüngste Erfahrung gewitzt, befürchtet schlimmes und befiehlt einer älteren Frau dem kleinen Sergej die Augen zuzuhalten, weil er nicht sehen soll, was da geschieht, ein Detail, für das ich den Regisseur bewundere. Es ist ein Verhalten, das man nach jetzt gängigem Denken als heuchlerisch zu sehen neigt: gerade noch hat er kaum einer Versuchung widerstanden, wenn überhaupt, und jetzt spielt er sich als moralische Autorität auf. Aber wer sagt denn, dass man seine Grundüberzeugungen über den Haufen werfen muss, nur weil man schwach ist? Vielleicht hat Rubljows Anfechtung das Gute, dass er hoffentlich den geistlichen Hochmut ablegt, der leider mit sexueller Enthaltsamkeit allzu oft einhergeht.

Einige der Heiden sind von Schergen der Obrigkeit am Ufer zusammengetrieben worden und sollen verhaftet werden. Einer jungen Frau gelingt es nackt ins Wasser zu entkommen. Als sie näher heranschwimmt, erkennen wir die Versucherin. In kryptischen Andeutungen hat Tarkowskij so etwas wie ein Taufritual inszeniert. In der undeutlichen Ferne des Ufers sehen wir einen Mönch mit einem Heiden ringen, die Frau schwimmt an Andrej Rubljows Boot vorbei. Er sitzt da mit gesenktem Haupt, und es scheint, dass seine Lippen sich bewegen, als murmele er ein Gebet. Eine kräftige Männerstimme ruft ihr beschwörend nach: „Marfa, Marfa, schwimm, Marfa!“ Ihr Name ist eine Verbindung von Maria und Eva. Jetzt ist die Kamera hoch oben über dem Fluss und wir sehen die schwimmende Frau von hinten. Die Kamera zoomt zurück, was dem Schwimmen der Frau größere Geschwindigkeit zu verleihen scheint. Man neigt dazu zu glauben, dass sie das andere Ufer erreichen wird. Damit wird die Szene ausgeblendet11.

Tarkowskij ist dafür kritisiert worden, dass es unhistorisch sei, Anfang des 15. Jahrhunderts in Russland heidnische Enklaven anzunehmen. Vielleicht gab es im strikten Sinne eines Bekenntnisses solche Enklaven nicht, aber überall auf der Welt haben heidnische Grundüberzeugungen mit dem Christentum fortexistiert. Als ich diesen Film zum ersten Mal gesehen habe, schien er mir in einer prophetischen Schau vorwegzunehmen, was dann hier im Westen wenige Jahre später im Anschluss an 1968 als sexuelle Befreiung über uns hereingebrochen ist, eine naturhafte Auffassung von „Liebe“ ohne jedes Verständnis für die spirituellen Ansprüche des Christentums. Auch der Kuss des wehrlosen Mönches nimmt in komprimierter Form die bald folgende üppige Entwicklung der Pornographie vorweg. Für unmittelbare erotische Stimulation gilt das Recht der „freien Meinungsäußerung“, was man sich in einer nicht zuletzt auch intellektuellen Dumpfheit bis auf den heutigen Tag gefallen lässt.

Ob eine Verfolgung der Heiden durch die Obrigkeit wahrscheinlich war, mag dahingestellt bleiben. Wie gesagt, sehe ich die Balgerei von Mönchen und Heiden am Strand bildhaft. Eine Episode aus dem Roman zu diesem Film bestätigt den Eindruck einer Taufe sui generis12.

Tarkowskij hat, wie man weiß, in diesem Film seiner ersten Frau Irma Rausch ein Denkmal gesetzt, die in der Rolle einer taubstummen Schwachsinnigen auftritt (und für ihre schauspielerische Leistung in dieser Rolle einen französischen Preis erhalten hat13). Sie war dem Mönch in der Kirche zugelaufen, in der Rubljow mit Daniil und seinen Gehilfen das „Jüngste Gericht“ malen sollte. Nach der Verwüstung der Kirche von Wladimir sieht man darin einen blutbespritzten Rubljow mit der Schwachsinnigen zwischen Leichen hocken. Ihr Schwachsinn zeigt sich hier darin, dass sie einer toten Frau bedächtig einen Zopf ins lange, blonde Haar flicht. Anscheinend ist dieses Detail alles, was von einer geplanten Episode übrig geblieben ist: die Tartaren hatten von den Moskauern verlangt, dass sie ihnen, um sich freizukaufen, mehrere Fuhrwerke angefüllt mit Frauenhaar abliefern mussten, was eine gezielte Demütigung war14. Die Überlebenden nach einem Gemetzel sollten uns die Zuversicht vermitteln, dass das Leben weiter geht, und das Flechten eines Zopfes ist ein sinnfälliges Bild dafür, dass es weitergehen muss; zugleich führt es diese Hoffnung ad absurdum, weil die Frau tot ist. Was für ein Traumpaar: er ist Mönch und sie nicht ganz bei Trost. Bald taucht der Geist des toten Feofan Grek auf und es folgt eine lange, intensive Unterredung der beiden Künstler, an deren Ende auf unnachahmliche Weise inmitten des unbeschreiblichen Grauens so etwas wie Schönheit und Hoffnung ins Spiel kommt15.

Rubljow hat bei der Plünderung der Kirche, um die Frau zu schützen einen Russen mit einer Axt erschlagen: deshalb ist er blutbespritzt. Zur Buße will er schweigen, will nicht mehr malen und behält die Frau bei sich, um sein Ansehen in der Tradition der „Narren in Christo“ zu ruinieren. Der Regisseur zeigt die Demütigung seiner Heimat an Durochka, der Schwachsinnigen, die sich, wie erwähnt16, auf ein würdeloses Spiel mit mongolischen Reitern einlässt. Sie kommen lärmend und johlend mitten im härtesten Frost bei einem Weiler vorbei, wo Andrej mit der Frau lebt. Dem ohnmächtigen, verbissen im Schweigen verharrenden Rubljow, der sie zurückhalten will, spuckt sie ins Gesicht.

Ich müsste mich sehr irren, wenn nicht am Ende des letzten Film-Kapitels über den gelungenen Glockenguss die Schauspielerin, die die Schwachsinnige gespielt hat, wieder auftaucht17. Strahlend, festlich in ein weißes Kleid gewandet, führt sie ein Pferd beim Klang der Glocke (was auf die Tatsache antwortet, dass zuvor im Film ein herrenloses Pferd in eine verwüstete Kirche geklappert kommt.) In diesem Bild ist die Würde Russlands wieder hergestellt. Auch die anwesenden Gesandten Venedigs, die sich in der Originalversion des Films auf Italienisch unterhalten und recht abfällig über die Russen äußern, zollen der Frau Bewunderung.

In Solaris (1972) sind zwei Frauentypen einander gegenübergestellt und man ist fast versucht, sie auf christliche Vorstellungen zu beziehen. Demnach wäre Hari die alte Eva, völlig abhängig vom Mann besonders eindrucksvoll in der Szene, bei der sie, alleingelassen, gewaltsam durch eine Metalltür bricht (vgl. Gen 3,16: „dein Verlangen wird nach deinem Mann sein, und er wird dein Herr sein“). Sie klammert sich verzweifelt an die Beine von Kris. Ihre Kleidung besteht aus einem symmetrisch zusammen gestückten Lederkleid in drei Tönen: hell beige, rostbraun und dunkelbraun und einem Makramée-Umhang in Streifen mit ähnlichen Farben, den Farben des Herbstes.

Die andere Frau, die „Mutter“, Olga Barnet, auch sie eine junge Frau von Anfang zwanzig, erscheint in einem aus weißen und rosigen Rosen gestrickten Kleid, was besonders auffällt, weil sie in diesen Frühlingsfarben in einer herbstlichen Landschaft gefilmt wird. Sie verkörpert hingegen Maria, die neue Eva, die gegen Ende Kelvin in einer fiebrigen Traumvision mit mütterlicher Zärtlichkeit die beschmutzten Arme und Hände wäscht, eine Szene, die Tarkowskij später als eine der gelungensten des Films erinnerte.

Der Spiegel (1975) setzt sich mit der Mutter auseinander, die, wie Tarkowskij einmal sagte, „Nihilistin“, war, was man in unserem Kulturkreis mit „Emanze“ übersetzen kann18. Bei dem Gespräch mit einer befreundeten Kollegin in den Räumen der Druckerei, für die die Mutter arbeitete, bricht sehr unvermittelt aus dieser Kollegin heraus, wie sie über die Mutter denkt: Sie wolle sich bedienen lassen, sie wolle, dass man ihr die Pantoffeln bringe. Es sei ein Wunder, dass ihr Mann sie nicht schon viel früher verlassen habe, wirft sie ihr unter Tränen vor. Eigentümlich, dass ein vielleicht nicht gänzlich unvoreingenommener, aber sensibler (männlicher) Betrachter nach einem kurzen Stück, das er von Andrej Rubljow gesehen hatte, genau diesen Eindruck gewann: dieser Regisseur sei jemand, der sich gerne von seiner Frau die Pantoffeln bringen lassen möchte. In anderem Zusammenhang, in der Diskussion über das Bildnis angeblich Leonardos der Ginevra Benci, ging es darum, wie die Frau als das„Andere“ gleichzeitig faszinierend und niedrig erscheint. Das muss hier nicht wiederholt werden. Ich verweise auf das Kapitel über Tarkowskij und die westliche Kunst19.

Eine Episode mit der Mutter aus Tarkowskijs Kindheit, die die bittere Armut, in der sie damals leben mussten, zeigt, handelt von dem demütigenden Versuch Ohrringe bei der Frau eines entfernt bekannten Arztes zu verschachern. Die Szene ist auch deshalb bemerkenswert, weil die wohlhabende Arztfrau im Seidenkleid von Tarkovskijs zweiter Frau Larissa dargestellt wird. Es ist ihr einziger Auftritt in einem seiner Filme und sie wirkt hier eher kühl, abweisend. Lediglich als sie in stolzer Mutterfreude ihren kleinen Sohn im Himmelbettchen vorführt, fließt sie über von slawischer Zärtlichkeit. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn das nicht auch Aufnahmen von Andrej junior, ihrem eigenen Sohn sind. Weil die Gelegenheit so günstig ist, bittet sie Alexejs Mutter ihr beim Schlachten eines Hahnes behilflich zu sein. Sie drückt ihr kurzerhand den Hahn und ein Beilchen in die Hände und sinniert auch noch obenhin über „unsere weiblichen Schwächen“. Das Köpfen des Hahnes wird nicht direkt gezeigt, aber sein Kreischen und Zappeln, bei dem die Federn fliegen, bekommen wir mit. Dann erscheint das Gesicht der Terechowa verfremdet von unten beleuchtet und in Zeitlupe „dämonisch“ lächelnd. In Tarkowskijs Sicht gehört es zur Natur der Frau, Leben zu hegen und zu schützen, nicht es zu nehmen. Wenn sie wie hier zur Gewalt gezwungen wird, entstellt sie das.

In Stalker (1979) wird der Schriftsteller zu Beginn des Films von einer schönen Frau mit Pelzmantel und schneidigem, wahrscheinlich westlichem Sportwagen zum Ort der Verabredung gebracht. Sie plaudern über das Bermudadreieck, doch als der Stalker ihr wortkarg aber unmissverständlich bedeutet, dass sie verschwinden soll, zischt sie den Schriftsteller als: „Kretin!“ an und prescht davon. In seinen Auslassungen zieht der Schriftsteller später über „verrückte Weiber“ her, aber das bleibt am Rande.

Einen wichtigen Part hat im Kontrast zur anfangs gezeigten Dame von Welt die weniger glamouröse Ehefrau des Stalkers (Alissa Freindlich), die sich gegen Ende des Films direkt an den Zuschauer wendet und sich zu ihrer Ehe bekennt, obwohl daraus eine behinderte Tochter hervorging, wohl weil der Stalker von seinem Umgang mit der Zone gezeichnet ist. Sie hat viele Opfer bringen müssen, bereut es aber nicht ihrem Mann die Treue gehalten zu haben. Für Tarkowskij selbst war diese Aussage überaus wichtig, sie war „alles“, was er dem Zynismus des Schriftstellers und des Wissenschaftlers entgegensetzen konnte. Ist es bezeichnend, dass ihm dazu keine poetischen Visionen eingefallen sind, sondern, dass er die Frau Klartext reden lässt?

Man darf darin wohl auch ein Loblied auf seine eigene Ehefrau sehen, von der der Regisseurkollege Paradschanow in einem Brief einmal schrieb, es sei sicher nicht leicht mit einem Genie verheiratet zu sein20. Das ist abzugleichen mit der sehr kritischen Stellungnahme zu Adelaide in seinem letzten Film Offret, die peinlicherweise genau die Frisur von Larissa, Tarkowskijs Frau trug. (Tarkowskijs zweite Ehe war anscheinend ein Labyrinth von Tolstojschen Proportionen.) Beim Aufbruch des Stalkers in die Zone zu Beginn des Films macht seine Frau ihm heftige Vorhaltungen. Als er sie zurücklässt, zeigt sie fast noch drastischere „Entzugserscheinungen“ als Hari in Solaris und windet sich verzweifelt am Boden. Das korrespondiert merkwürdig zu dem Verhalten des Stalkers in der Zone, der sich etwas abseits ins grüne Gras kniet, dann sich darin ausstreckt, um sich dann aber alsbald umzudrehen Er wendet sich nach oben: Die Seele ist, wie die Mystik weiß, weiblich.

Der dem Andenken an die Mutter gewidmete Film Nostalghia (1983) bietet am ehesten eine explizite Auseinandersetzung mit dem Thema der Emanzipation. Als die Dolmetscherin des russischen Schriftstellers Eugenia in die Kirche kommt, in der die Madonna del parto von Piero della Francesca zu sehen ist, wechselt sie einige Worte mit dem Sakristan, der von sich sagt ein sehr einfacher Mann zu sein, was in einem gewissen Widerspruch dazu steht, dass Tarkowskij für diese kleine Rolle einen Schauspieler mit einem edlen Philosophenkopf gefunden hatte. Der Sakristan bedauert, dass sie einfach nur zum Schauen und nicht zum Beten in die Kirche kommt. In der Kirche ist eine Prozession im Gange von Frauen, die darum bitten, fruchtbar sein zu können.

Eugenia fragt den Sakristan, was er meine, weshalb Frauen mehr bereit sind zu beten als Männer. „Das fragen Sie mich?“ Als dann der alte Mann sagt, dass Frauen Kinder zur Welt bringen und sie mit Geduld und Opfermut aufziehen sollen, fragt sie ihn: Und mehr können sie nicht? Er weiß darauf nichts zu sagen. Sie bedankt sich kalt und lässt ihn zurück, bleibt aber in einiger Entfernung stehen und wird so Zeugin des folgenden Geschehens. Vor dem von den betenden Frauen gebrachten Gnadenbild geschieht ein Wunder à la Tarkowskij: eine Frau öffnet unter Anrufungen einer vermutlich von Tarkowskij erfundenen Litanei einen offenbar zugeknöpften oder zugenähten Vorhang mit leichter Gewalt und mit einem Mal flattern daraus eine Unzahl von Vögelchen hervor, die zwitschernd nach oben davon schwirren. Über die vielen brennenden Kerzen sinken kleine Flaumfedern herab. Ein Bild für das Wunder des Lebens, dem zu dienen nach Tarkowskij die Frauen berufen sind.

In seinem Hotelzimmer fällt Gortschakow in einen von Träumen bewegten Schlaf. Eugenia senkt ihre Lockenpracht auf sein Gesicht herab. Vor einer gewellten, wie in Schollen zerborstenen Wand bewegen sich Maria, die aus Traumvisionen schon bekannte Frau des Russen, und Eugenia aufeinander zu, umarmen sich, streichen sich gegenseitig über das Haar und, tränenüberströmt, trösten sie sich. Tarkowskij erwähnte in seinem Buch wie eine ähnliche Szene bei Bergman ihn beeindruckt hat. Nur trägt das Ganze bei Bergman deutlicher homoerotische Züge, die Frauen küssen erogene Zonen. Hier ist es mehr reine Zärtlichkeit. In Larissa Schepitkos Film Aufstieg gibt es auch zwei Frauen, die sich ähnlich umarmen, freilich sind es ältere Frauen, während sie hier jung sind.

Etwas später im Film macht Tarkowskij noch einen „essentialistischen“ Kommentar, der in knapper Form wieder einiges zusammenfasst. Er dauert nur wenige Sekunden, hat es aber in sich. Eugenia beugt sich im Korridor des Hotels am Fuß der Treppe einer plötzlichen Laune folgend wie in die Startposition einer Sprinterin, sagt: „Uno, due, tre!“ und sprintet los, nur um nach wenigen Schritten mit ihren Stöckelschuhen auszurutschen, zu Boden zu fallen und in Lachen auszubrechen. Hier ist auf den Sport angespielt, bei dem die Ungleichheit von Männern und Frauen nicht von der Hand zu weisen ist. Und so liegt hier auch die Aussichtslosigkeit auf der Hand, dass es die Frau dem Mann gleichtun könne. (Man kann auch an bestimmte Monstrositäten denken, die der Leistungssport gerade in Osteuropa hervorgebracht hat, indem durch Hormonbehandlungen Mannweiber entstanden.) Freilich kann man einwenden, das gelte für den Sport, in anderen Lebensbereichen liege die Sache nicht so eindeutig. Tarkowskij scheint aber stillschweigend davon auszugehen, dass das allgemein gilt. Die Treppe steht für die Karriereleiter.

Eugenia hat den Wunsch dem Russen erotisch näher zu kommen. Als er ihr sagt, dass sie in einem bestimmten Licht besonders schön sei, ist sie angenehm berührt und hofft, es könne noch etwas mehr kommen. Doch Gortschakow ist schon im nächsten Satz mit der Figur des angeblich irren Domenico beschäftigt, von dem er meint, er sei nicht irre, sondern habe Glauben. Sie ist offensichtlich sekkiert. Gortschakow drängt darauf, ein Treffen mit Domenico zu vereinbaren, wobei sie ihm widerwillig zu helfen versucht. Ihre Annäherungsversuche werden unterdessen zunehmend direkter. Einmal steht sie im Dämmer vor der Tür seines Hotelzimmers, die sich wie von Geisterhand geöffnet hat. Sie begleitet ihre Worte mit einer sicher nicht minder deutlichen Sprache des Körpers, denn sie hält mit beiden Händen ein Büchlein vor ihren Schoß in leicht anklopfender Bewegung, einen Finger zum Einmerken eingelegt. (Es sind, wie sich herausstellt, Gedichte Arsenij Tarkowskijs in italienischer Übersetzung). Dann hat sie sich bei seiner Rückkehr von Domenico in seinem Zimmer geduscht und föhnt sich auf seinem Bett das üppige Haar: die Dusche in ihrem Zimmer funktioniere nicht. (Eine Behauptung, deren Glaubwürdigkeit erfahrene Italienreisende – insbesondere wenn es wie hier um die Zeit der 70er und frühen 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts geht – kaum bezweifeln werden.) Plötzlich macht sie ihrem Unmut in einer Szene Luft. Es kann nicht alles wiederholt werden, was sie ihm an den Kopf wirft. Er sei voller Komplexe. Sie, die Russen redeten von Freiheit, wüssten aber mit der Freiheit gar nichts anzufangen. Als sie ihm zum ersten Mal begegnete, habe sie einen beklemmenden Traum gehabt, ein klebriger, vielbeiniger Wurm habe sich in ihrem Haar festgesetzt21. Sie habe ihn schließlich zu Boden geworfen und versucht ihn zu zertreten, doch sei er unter den Schrank gekrochen. Seither habe sie immer das Bedürfnis ihr Haar zu berühren. Hier haben wir den psychologischen Spiegeleffekt, der seit dem Film Der Spiegel zur Filmkunst Tarkowskijs gehört: seine Filme sind so angelegt, dass die Kommentare seiner Zuschauer mindestens ebenso viel, wenn nicht mehr, über sich selbst sagen als über den jeweiligen Film. Das Ekelhafte, dessen sie in der Begegnung mit ihm innewurde, liegt in ihr selbst. Im Folgenden verstrickt sie sich in Widersprüche, er sei ja so was von langweilig, aber sie verstehe etwas von Charme („fascino“ auf Italienisch), auch wenn sie noch jung sei. Während ihrer gesamten Tirade, bei der sie einmal vor dem Fenster und dann vor dem Badezimmer steht, hört man das Gluckern des Waschbeckens, das Geräusch für Stagnation.22 Sie ist so etwas wie die Illustration des „verrückten Weibes“, und das ist auch in etwa sein einziger Kommentar, als er die Flucht ergreift. Draußen auf dem Flur schreit sie ihm nach, es habe nicht viel gefehlt, dass er seine Frau betrogen hätte: „Heuchler!“ Vielleicht ist sie eine Trophäenjägerin, die es darauf anlegt, interessante Männer zur Strecke zu bringen. Wer weiß, ob nicht Tarkowskij hier in einem Konzentrat seine eigenen Erfahrungen zusammengefasst hat. Man erinnert sich an das Gejammer des alten Machos Picasso, weil diese Art von Frauen ihm nicht einmal die Illusion ließ, sie erobern zu müssen.

In dem, was der angetrunkene Gortschakow in einer versumpften Kirchenruine der kleinen Angela sagt23, kann man eine indirekte Antwort auf die Angriffe Eugenias sehen. Er spricht von den großen Liebesgeschichten und hebt hervor, dass sie nicht geradewegs ins Bett führen: „Niente baci, niente di niente!“ In diesem Zusammenhang kommt auch die erwähnte Aussage, dass man die Gefühle, die man nicht ausspricht, nicht vergisst. Auch dies steht im Kontrast zum Verhalten Eugenias, die dem Russen gleich zu Beginn des Films zuruft, sie habe, als sie die Madonna del parto Piero della Francescas zum ersten Mal gesehen habe, geweint.

Die anderen Frauen, die, wie etwa die Ehefrau Gortschakows, nur in Erscheinung treten, sind als solche aber wichtig und sorgfältig ausgewählt. Ähnliches gilt für Tarkowskijs letzten Film Opfer, auch hier sind die Typen der Frauen wichtig, insbesondere Adelaide und Maria, aber auch Julia und Marta.

Im Film Opfer (1985) verkörpert die Ehefrau Adelaide eine bestimmte Art von Verirrung, die Tarkowskij in seinem Buch ausführlich kommentiert hat, so dass es sich hier fast erübrigt darüber zu schreiben.24 Was er über das zerstörerische Potential Adelaides schreibt, kommt in dieser Klarheit im Film beinahe nicht zum Ausdruck. Die gute Hexe Maria ist eine Bedienstete und die wohltätige Ausstrahlung dieser einfachen Frau hat Tarkowskij ebenfalls beschrieben. Bei der Namensgebung der übrigen beiden Frauen hat Tarkowskij Spuren verwischt. Marta, die Tochter Adelaides sollte richtiger Julia heißen, denn sie ist „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“. Julia, die besser Marta heißen sollte, ist das tüchtigere der beiden Dienstmädchen und von fast athletischem Körperbau. In einem Ausbruch klagt sie unter Tränen die Hausherrin Adelaide an, weil sie „Jungchen“ wecken soll. Dieser Angriff auf Adelaides Tyrannei hat große Ähnlichkeit mit der bereits erwähnten Attacke im Spiegel, mit der sich die Kollegin gegen die Mutter Tarkowskijs wendet. Vielleicht versprach sich Tarkowskij eine nachhaltigere Wirkung davon, wenn die Vorwürfe von einer anderen Frau kamen. Nach der Ankündigung des Atomkrieges hat Adelaide eine hysterische Krise und wird vom Arzt und Hausfreund Viktor mit einer Beruhigungsspritze ruhig gestellt. Bei Adelaide scheint der Ausdruck ihrer äußersten Hilfsbedürftigkeit aber immer noch Teil ihrer Tyrannei zu sein. Hysterische Zustände bei Frauen begegnen im Werk Tarkowskijs immer wieder. Als der Stalker gegen den Willen seiner Frau in die Zone aufgebrochen ist, windet sie sich in einem Anfall am Boden. Auch die Wiederbelebungen Haris in Solaris haben etwas Konvulsivisches. In der winterlichen Passionsszene im Andrej Rubljow wirft sich eine Frau über die Füße des zur Kreuzigung hingestreckten Jesus und weint haltlos. Ebenso umarmt in Nostalghia die aus siebenjähriger Gefangenschaft befreite Frau Domenicos wild schluchzend die Beine eines Polizeibeamten. Offenbar entspricht das Tarkowskijs Erfahrung mit Frauen, insbesondere die Szene mit Adelaide scheint eine persönliche Erfahrung widergespiegelt zu haben.25 Immerhin gibt es einen Moment der Besinnung für Adelaide: “…Jetzt habe ich das Gefühl, als ob ich erwacht bin aus einer Art von Traum… wie nach einer anderen Art von Leben. Aus irgendeinem Grund habe ich immer Widerstand geleistet… mit etwas gekämpft. Ich verteidige mich selbst. Es war so als ob in mir ein anderes Ich wäre, das sagte, du darfst dich nicht aufgeben und lass dich nicht auf etwas ein, was du nicht willst, sonst stirbst du. Mein Gott, wie wir uns irren … trotz allem.“1 Sie scheint zu bemerken, dass Lieben heißt, nein zu sagen zum eigenen Ego. Als Julia ihr offen widerspricht und sie anklagt, umarmt sie sie sogar. Aber später scheint sie wieder in ihre herrische, aggressive Art zurückzufallen. Als das Haus brennt und das aufgeregte hin und her Gerenne von Alexander und den anderen beginnt, fällt sie an einer Wasserlache auf die Knie und verharrt in dieser Haltung. Dies ist wiederum die Andeutung eines Umdenkens, einer Umkehr. In seinem Film hat Tarkowskij die Akzente sehr viel sorgfältiger verteilt als in seinem schriftlichen Kommentar. Hat Tarkowskij hier seine eigene Ehe porträtiert? War er nicht ungerecht, selbstgerecht?

Seine rückhaltlose Ehrlichkeit, die er für eine der Voraussetzungen der Kunst hielt, führte dazu, dass er sich Blößen gab. Der Kampf für sein Frauenbild hatte sicher eine fast schon pathologische Dimension und doch sollte seine Sorge um die spirituelle Seite des Lebens auch in dieser Hinsicht zu denken geben.

Dass er so extreme Positionen vertrat, hat mit seiner Biographie zu tun: die Eltern hatten sich als angehende junge Schriftsteller kennen gelernt. Der Vater, ein Dichter der schwierigeren Art, der vor allem über seinen Sohn bekannt geworden ist, hat früh die Familie verlassen, also Frau und Kindern gegenüber versagt26, während die Mutter ihre Selbstverwirklichung als Schriftstellerin zurückgestellt und ihre beiden Kinder unter großen Opfern aufgezogen hat. Andererseits war es Tarkowskij klar, dass er den Löwenanteil seiner Begabung vom Vater geerbt hatte. In dieser Hinsicht blieb er tief zerrissen. Er sah, dass im spirituellen Leben Liebe und Opfer das einzige sind was zählt und die Fähigkeit dazu sah er vor allem in Frauen. Dann wieder behauptet er am Ende seines Buches Die versiegelte Zeit: „Und zu guter Letzt im Vertrauen: Die Menschheit hat außer dem künstlerischen Bild nichts uneigennützig erfunden, und vielleicht besteht tatsächlich der Sinn der menschlichen Existenz in der Erschaffung von Werken der Kunst, im künstlerischen Akt, der zweckfrei und uneigennützig ist. Vielleicht zeigt sich gerade darin, dass wir nach Gottes Ebenbild erschaffen wurden.“27 Allerdings ist es wohl nur sehr wenigen vorbehalten, in diesem Sinne Ebenbild Gottes zu sein (den Genies, die meistens wiederum Männer sind). Gegenüber dieser extrem aristokratischen Sicht der Menschheit28 ist die andere Auffassung, dass die Liebe das Wesen Gottes ist und wir, indem wir lieben, Gottes Ebenbild sind, sehr viel demokratischer: jedem steht es frei zu lieben, auch wenn Tarkowskij zeigt, dass es nicht leicht ist.

Mein Eindruck ist, dass Tarkowskij mit seinem letzten Film ein Opfer bringen, sozusagen als Künstler eine ihm gemäße Form der Selbstaufgabe finden wollte, indem er den Eindruck erweckte, verrückt geworden zu sein. Der Zuschauer sollte am Ende des Films an ihm irrewerden, in dem Sinne, dass nicht nur der Protagonist zu Recht im Irrenhaus landet, sondern das auch für den Regisseur der richtige Ort sei. Domenico in Nostalghia und Alexander im Opfer haben große Ähnlichkeit mit den Jurodiwy, den russischen „Narren in Christo“, zuletzt nun auch der Regisseur selbst. Freilich ist man in der Rezeption des Films nie so weit gegangen, den Regisseur für verrückt zu erklären, lediglich hat man es als einen Mangel gesehen, dass er sich in Widersprüche verstrickt habe.

1Layla Alexander Garrett, Never be neutral, in : Sight and Sound, Januar 97, p.23

2Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, S. 37 f.: „Das Pathos ihrer Natur und ihres Alters war die Hilflosigkeit. Das Aktive in ihr, das, was ihre Einstellung zum Leben bestimmen sollte, befand sich bei ihr noch in embryonalem Zustand. Dies bot die Möglichkeit, eine authentische Beziehung zu Hauptmann Cholin aufzubauen. Auf diese Weise geriet Subkow, der Darsteller des Cholin, in völlige Abhängigkeit von seiner Partnerin und verhielt sich da genau richtig, wo er mit einer anderen Partnerin falsch und moralisierend gewirkt hätte.“

3 Der berühmte Maler war ein Vorfahre der Michalkows. Wenn Tarkowskij wegen seines Dichtervaters sich einbilden konnte aus der künstlerischen Aristokratie des Landes zu stammen, dann sein Kollege (und damals noch Freund) Andron Michalkow-Kontschalovskij, erst recht.

4 Tarkowskij hat sich nach eigenem Bekenntnis gern an der Welt des Kleinen orientiert, zu der auch die Insekten gehören. Er, der geheimnisvolle Anspielungen liebte, hat uns in dem Erinnerungstraum Iwans zu Beginn des Films ein Spinnennetz gezeigt. Während das im Zauber des Sommertages untergehen mag, ist die unmittelbar folgende Szene, die auf ein Spinnennetz anspielt, expressiv düster. Der aus ebendiesem Traum aufgewachte Iwan verlässt einen halbverkohlten Verschlag im Frontgebiet, bei dem die Bretter in etwa wie ein Spinnennetz konvergieren und sich kreuzen. Das Bild ist seiner Intensität wegen sehr beliebt und findet sich vielfach im Internet. – Etwas unverständlich ist für mich Robert Bird’s Behauptung: „Masha performs a strange mating dance with Kholin full of rather violent sexual innuendo…“ (Robert Bird, Andrei Tarkovsky. Elements of Cinema, S. 62) Einzig die Szene über die Graben kann ich mit etwas gutem Willen als sexuelle Anspielung verstehen: der hängende Körper und der Graben sind wie Penis und Vagina aufeinander bezogen, was sicherlich zur erwähnten Komplexität des Bildes beiträgt.

5 Es gibt eine Quelle, in der sich Tarkowskij ausführlicher zu Iwans Kindheit äußert als in Die versiegelte Zeit; im Moment habe ich den Zugang nur über Internet: http://www.kinematographie.de/HEFT39.HTM#IK, Quellen zur Filmgeschichte ab 1920, Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963:“ Der Kuss über dem Laufgraben ist, meines Erachtens, verfremdet und assoziiert sehr indirekt einen Kuss am Grabe. Auch das ist wiederum ein tragisches Bild, jedenfalls sehe ich es so. Der Walzer kann ein bräutlicher Rausch sein oder ein anderer, der Puschkinsche ‚Rausch der Schlacht vor eines Abgrunds finstrer Nacht’. Und das war das, was wir brauchten.“

6 Andrej Tarkowskij, a.a.O.: „Wir suchten lange nach einer Stelle für den ‚Tanz der Birken’ und sahen uns Dutzende von Hainen an. Wir fanden dann einen bei Moskau. Der Kameramann Wadim Jussow war begeistert. Während der Aufnahme ging ich neben ihm her und gab durch Händeklatschen den Takt an: ‚Eins-zwei-drei …, eins-zwei-drei …’ Und wirklich, diese sterile Struktur des schönen, stillen Birkenwaldes deutet irgendwie, wenn auch sehr, sehr indirekt, den unabwendbaren ‚Hauch der schwarzen Pest’ an, in dessen Umkreis die Personen des Films leben.“

7 Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky: a Visual Fugue, Indiana University Press 1994, S. 264

8 Tarkowskij war bei seinen Filmen immer sehr sorgfältig in der Wahl der Gesichter, die nach seinem Eindruck eine Vielzahl an Assoziationen wecken können. Man ist versucht diese Frau mit kurzer, stumpfer Nase und breiten Backenknochen typisch slawisch zu finden. Man kennt diesen Typus etwa von der Marmorbüste Femme slave ou la Mer des Auguste Rodin (1906, Musée Rodin, Paris). Aber auch die langhaarige und ebenfalls blonde Maria Magdalena im Kapitel der russischen Passion mit langer schmaler Nase und schön geschwungenen Augenbrauen ist typisch slawisch.

9 Andrej Tarkowskij, Andrej Rubljow. Die Novelle, Frankfurt a. Main Berlin 1991, S. 140

10 Der dumpfe Aufprall des Einbaums als Gegenargument gegen die Rede von der ewigen Wiederkehr

hat vielleicht eine gewisse Parallele in Tarkowskijs letztem Film. Als der Briefträger Otto von Nietzsches ewiger

Wiederkehr zu reden beginnt und dabei Alexander und Jungchen auf dem Fahrrad umkreist, bindet Jungchen

heimlich das Hinterrad an einem Strauch fest, was den Postboten fast zu Fall bringt.

11 Die Taufe ist mit der wundersamen Rettung der Israeliten vor der Übermacht der Ägypter beim Durchzug durchs rote Meer in Verbindung gebracht worden (so der Apostel Paulus in 1 Kor 10,1-2). In Stalker muss in der Zone ein tiefer Wassergraben durchquert werden, und in Nostalghia durchquert Gortschakow das (freilich trockengelegte) Thermalbad in Bagno Vignoni mit einer brennenden (Tauf)kerze.

12 In der sogenannten Novelle (a.a. O. S. 158) wird ein wenig wahrscheinliches Gemälde Rubljows zum Jüngsten Gericht beschrieben. Er greift dabei auf eine andere Episode des Romans zurück, die Daniil zu Beginn erzählt und die Tarkowskij sehr faszinierte aber dennoch nur als Andeutung Eingang in den Film gefunden hat: wie die Moskauer Frauen, um ihre Stadt vor einem Massaker der Mongolen zu retten, scharenweise ihre Haare opferten. Marfa, im Buch ausdrücklich „Hexe“ genannt, erscheint in der Schar der geretteten Frauen, weil sie durch ihr Opfer und ihre Leiden die Taufe empfangen haben.

13 unter Irma Raush in Wikipedia; 1970 hat sie für die Rolle der Durochka in Andrej Rubljow den Étoile de Cristale erhalten, den Vorgängerpreis zum César.

14 Siehe Anmerkung

15 Siehe das Kapitel über Tarkowskij und die Ikonen, S.

16 Im Kapitel Humor, Ironie und Satire im Werk Andrej Tarkowskijs habe ich diese Szene ausführlicher kommentiert, S.

17 Das ist schon bemerkt worden von Nigel Savio D’Sa in Andrei Rublev, Religious Epiphany in Art, Online Journal of Religion and Film, vol. 3, No 2, October 1999, paragraph 7: „After she runs off with the Tartars, Rublev is fully disillusioned by her baseness, yet she reappears at a moment of epiphanic climax, at the first peal of Boriska’s bell, dressed in vestal attire, her aspect radiant and smiling.” Robert Bird meint ohne weitere Erklärung, die „heilige Närrin“ kehre als eine „Tartarenprinzessin“ wieder. Die Bestimmung als „Tartarenprinzessin“ scheint mir nicht zutreffend; Robert Bird: Andrei Tarkovsky: Elements of Cinema, Reaktion Books, London 2008, S. 101

18 Vida.T Johnson, Graham Petrie: The Films of Andrei Tarkovsky, A Visual Fugue, S. 19

19 Vgl. das Kapitel Tarkowskij und die Kunst des Westens, S.

20 Brief am 25.12.1974 abgedruckt; Andrej Tarkowskij Tagebücher 1970 – 1986 .Martyrolog, Frankfurt Berlin 1989

21 Johnson &Petrie meinen dieser Traum sei „patently and insultingly Freudian“; vielleicht war die Psychoanalyse zur Zeit der Veröffentlichung ihres Buches noch eine heilige Kuh in den Staaten – oder hatte gerade aufgehört eine solche zu sein: eine etwas rätselhafte Aussage; Vida T. Johnson, Graham Petrie, The Films of Andrei Tarkovsky A Visual Fugue, Indiana University Press 1994, p.220. Tiefer schürft Hartmut Böhme

22 Im Aufsatz „Humor, Satire und Ironie im Werk Andrej Tarkowskijs“ habe ich dargelegt, wie das Geräusch der Stagnation in die Filme Tarkowskijs gekommen ist, p.

23 Die Begegnung mit dem kleinen Mädchen

24A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, op. cit. p. 227:“Darüber hinaus aber bleibt Adelaide bis zum Ende eine absolut tragische Gestalt, eine Frau, die rings um sich alle Anzeichen von Individualität und Persönlichkeit erstickt und ohne es eigentlich zu wollen andere Menschen unterdrückt, so auch ihren Mann. Sie ist kaum fähig zu reflektieren, leidet unter ihrer Ungeistigkeit, bezieht aus diesem Leid insgeheim aber auch ihre zerstörerischen Kräfte. In gewisser Hinsicht ist sie die Ursache von Alexanders Tragödie. So wenig sie sich im Grunde für andere Menschen interessiert, so sehr folgt sie dem eigenen aggressiven Instinkt der Selbstbestätigung und Selbstbehauptung. Ihr Wahrnehmungsfeld ist zu klein, als dass sie jenseits davon eine andere Welt erkennen könnte, und selbst, wenn sie diese sähe – sie würde sie nicht begreifen.“

25Layla Alexander Garrett op. cit., ibidem

26Freilich darf man nicht die herbe Kritik der Kollegin im Spiegel vergessen: „Es ist ein Wunder, dass dein Mann dich nicht schon früher verlassen hat!“

27A. Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, p. 242

28Einerseits hatte Tarkowskij diese aristokratische Tendenz, andererseits sind es die aristokratischen Frauen, die er kritisiert. In „Nostalghia“ heißt die Dolmetscherin Eugenia – die Wohlgeborene. Ihr Mann stamme aus einer vornehmen Familie in Orvieto. Auch der Name von Alexanders Frau Adelaide heißt etymologisch „von vornehmer Art“. Tarkowskij legte sich mit den Simone de Beauvoirs dieser Welt an.

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