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Tarkowskijs Unruhe

Oktober 11, 2013

Dem russischen Regisseur eilt der Ruf voraus, in seinen Filmen Zeit zu haben wie Heu.
Wir kennen das mit einem etwas anderen Dreh: wir sagen „jemand hat Geld wie Heu“.
Und wir sagen „Time is money“. Kaum wird das als eine eherne Gesetzmäßigkeit bei der Produktion von Filmen in Zweifel gezogen werden. Eine Gesetzmäßigkeit, die unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus bis zu einem gewissen Grade außer Kraft gesetzt zu sein schien. Außer bei seinen letzten beiden Filmen hat Tarkowskij unter diesen Bedingungen gearbeitet. Nun ist der Film allerdings eine „Zeitkunst“ und man wird bei seiner Verfertigung in jedem Fall gehalten sein, es im Umgang mit der Zeit sehr genau zu nehmen. Im real existierenden Sozialismus wirkte wohl doch auch noch „die Diktatur des Proletariats“ nach und so war Tarkowskij, der sich selbst als Aristokraten sah, freilich nur im geistigen, nicht im irgendwie sozialen Sinn, immer wieder zu langen Perioden der Untätigkeit gezwungen. Die Wechselbäder im Umgang mit der Zeit, der genaue Umgang mit Zeit auf dem Set und die einsamen Zeiten mit seinen Büchern in seinem Landhaus führten zu einer gründlichen Reflektion zur Rolle der Zeit im Film, gründlicher als man sie bei den meisten westlichen Kollegen voraussetzen kann. Die alten Griechen wurden zu Philosophen, weil sie eine Sklavenhaltergesellschaft waren, also Leute hatten, die für sie die Arbeit erledigten. Tarkowskij wurde zum Philosophen, weil er in der Diktatur des Proletariats zur Untätigkeit gezwungen wurde.

Wir greifen nur sehr vereinzelte Szenen heraus, die das Vergehen der Zeit thematisieren, einige Male handelt es sich um einzelne Motive, die in ihrer Entwicklung über mehrere Filme hin gezeigt werden.

Aus dem großen Film über den Malermönch Andrej Rubljow (1966) kommt mir eine einzige Szene in den Sinn. In einer Kirche in Wladimir soll das Jüngste Gericht gemalt werden und Rubljows Mitarbeiter warten untätig auf ihren Werkstattleiter. Der Innenraum ist fertig eingerüstet und weiß getüncht. Der eigentlichen Malerei scheint also nichts mehr im Wege zu stehen. Ein großer kontinentaler Sommer ist aufgezogen. Die brütende Hitze quält. Ein Kirchenangestellter kommt, brüllt Zeter und Mordio, droht, ein Bote werde zum Großfürsten geschickt.

Draußen auf den Feldern diskutiert Andrej Rubljow mit Daniel Tschornij, seinem Freund und fast ebenbürtigen Mitarbeiter. Sie stehen und gehen auf einem Weg zwischen endlos blühenden Feldern. Die Bienen summen. Kurioserweise hat Tarkowskij darauf hingewiesen, dass er – obwohl Russe – mit der großen Natur, mit der endlosen Weite relativ wenig anfangen konnte, dass es ihn hingegen mehr zu der kleinen Welt der Pflanzen und Insekten zog. In dieser Szene hat er beides verbunden. Denn während die Männer diskutieren, stürmt auf dem schnurgeraden Feldweg ein Reiter vorbei und in die Ferne. Wenig später rast in umgekehrter Richtung ein anderer Reiter vorbei. Das ist so beiläufig, dass es fast Hintergrund bleibt und doch teilt es der Szene ein Gefühl von Eile und Dringlichkeit mit. In Ermangelung einer Uhr erfüllt das Hin- und Herrasen der Reiter die Funktion des Pendelschlags…
Das Summen der Bienen ist ein Hinweis auf deren Emsigkeit, den sprichwörtlichen Bienenfleiß, und vor diesem Hintergrund wird die Untätigkeit der Künstler noch besonders ärgerlich. Tarkowskijs großes Vorbild Tolstoj vergleicht in Krieg und Frieden, das von Napoleon überfallene Moskau mit einem Bienenstock ohne Bienenkönigin. Die Aufmerksamkeit für die kleine Welt der Bienen ist also vielleicht nicht zu weit hergeholt.

Worüber diskutieren die beiden Künstler? Daniel Tschornij versteht nicht, warum Andrej zögert. Die Aufgabe das Jüngste Gericht zu malen, erfüllt ihn mit Enthusiasmus und er malt sich die im Höllenfeuer röstenden Verdammten farbenprächtig aus. Doch gerade mit dieser Aufgabe hat Andrej seine Probleme. Er will den Menschen keine Angst einjagen. Damit müsste er gegen sein Gewissen gehen. Lieber nimmt er die Pinsel nicht in die Hand. Da man ihn den ganzen lieben, langen Film nie malen sieht, wächst sich das zu einer Geduldsprobe für den Zuschauer aus. In der heutigen Mentalität ist man geneigt, in der schieren Produktivität eines Künstlers einen Garant für Qualität zu sehen (zumal alle anderen Kriterien, offen gesagt, etwas ungewiss geworden sind). Wir sind alle in etwa kalvinistische Kapitalisten. Ohne es zu wollen ist Tarkowskij zum Zeugen gegen diese Auffassung geworden, die ich hier einmal provisorisch ein dominantes amerikanisches Missverständnis nennen möchte, weil er nur sehr wenige Filme realisieren konnte, diese allerdings ausgestattet hat mit einem spezifischen Gewicht sans pareille.

Da Problem, das Rubljow ins Stocken gebracht hat, ist freilich alles andere als banal, es geht nicht um die Formel 1 oder das Bruttonationaleinkommen. Aus christlicher Sicht – und die war zu Rubljows Zeiten die dominante – traut sich der Junge einiges. Denn er zögert, Jesus Christus selbst Gefolgschaft zu leisten, der in den Evangelien wüste Höllendrohungen ausgestoßen hat.
Am Ende des Films steht als Kontrast zu den beispiellosen Grausamkeiten, deren Zeuge der Künstler geworden ist, die berühmte Dreifaltigkeitsikone als Frucht und Rechtfertigung von Rubljows Ringen. Hier also unter anderem auch der Triumph der Qualität über die Quantität, die Tarkowskij wie gesagt wider Willen mit seiner Biographie wiederholend behauptet hat. Im Übrigen war Tarkowskij völlig von der Überzeugung durchdrungen, dass Kunst im Letzten lichtvoll sein müsse, sonst sei sie eben keine Kunst. Darüber darf man sich von all der wunderbaren „Traurigkeit Russlands“, die bekanntlich Nietzsche so irrational ins Schwärmen bringen konnte, nicht hinwegtäuschen lassen. („Ich würde das Glück des ganzen Westens eintauschen gegen die russische Art, traurig zu sein.“ Nietzsche Nachlass, Juli-August 1888, 18/9)

Insofern war er auf einem ganz anderen Dampfer als die Ambitionierteren unter den amerikanischen Kollegen, die es als ein Kriterium für Qualität zu sehen scheinen, wenn ein Stoff „dark“ ist.

Rubljows extreme Anspannung durch die Krise oder Blockade entlädt sich in einem Anfall blinder Wut, in dem er eine weiß getünchte Wand in der Kirche mit einer dunklen Pampe beschmiert. Die Wand erscheint als abstrakter weißer Bildträger und Tarkowskij spielt offenbar auf das zur Zeit der Entstehung dieses Films noch ziemlich neue action painting an, desavouiert es als blindwütigen Aktionismus. Rubljow bebt noch lange nach. Auch diese Szene sollte „unseren amerikanischen Freunden“ (Helmut Kohl) zu denken geben.

In seinem übernächsten Film Zerkalo (1975) hat Tarkowskij an sehr sonderbarem Ort wieder einen Moment geschaffen, der die Flüchtigkeit von Zeit hervorhebt. Der Sohn des Protagonisten wird von seiner Mutter allein in einer Wohnung gelassen, wo er eine Begegnung mit dem Unheimlichen hat. Es mag sehr wohl Tarkowskijs eigene Wohnung gewesen sein, zumindest hat er ihm teure Bilder an die Wände gehängt, so zum Beispiel ein Foto seiner Mutter in mittlerem Alter mit einem Blumenstrauß. Die Wohnung ist mit älteren, geschmackvollen Möbeln eingerichtet, zeichnet sich aber im Übrigen durch abenteuerlich verwahrloste Wohnungswände aus. Ohne irgendeine Erklärung findet er eine Dame mit einer ältlichen Bediensteten in einem benachbarten Raum, ein wenig Gebäck und eine kostbare Teetasse auf dem Tisch. Die Dame ist Tamara Ogorodnikowa, die, wie wiederholt hervorgehoben worden ist, eine gewisse Ähnlichkeit mit der russischen Dichterin Anna Achmatowa hatte, Produzentin von Andrej Rubljow war, im gleichen Film einen Auftritt in der Passionsszene als Maria, die Mutter Jesu hatte und dann in Solaris und im Spiegel zur Repräsentantin mehr oder minder unklarer Verwandtschaftsverhältnisse wurde. Sie scheint sich in der Wohnung gut auszukennen und weist den Jungen an, ein Buch aus dem Regal zu nehmen und dort aufzuschlagen, wo ein Bändchen eingelegt ist. Als er erst etwas über Rousseau vorliest, ermahnt sie ihn keine Zeit zu verlieren, eine Gefahr in die man leicht kommt beim Blättern in Büchern. Nur das rot Unterstrichene soll er vorlesen: einen Brief Puschkins an Tschaadajew vom 19. Oktober 1836, in dem der Dichter über den geschichtlichen Sonderweg Russlands sinniert. Dann klingelt es an der Tür, die Dame fordert den Jungen auf, zu öffnen. Draußen steht Tarkowskijs Mutter, die „Großmutter“ des Jungen und meint aus unerfindlichen Gründen wie in einem schlechten Traum, sie habe sich in der Tür geirrt. Danach ist das Zimmer, in dem sich zuvor die Dame mit ihrer Hausangestellten aufhielt, schlagartig leer und als letzte Spur ihres Aufenthalts schwindet auf dem Tisch ein Kondensierungsfleck. Während der ganzen Szene hatte man das leise An- und Abschwellen elektronisch modifizierter Gesänge gehört, die eine Atmosphäre des Unheimlichen hervorriefen. Dieser Gesang schwillt nun gewaltig, geradezu dramatisch an, um wenige Sekunden bevor der Fleck ganz verschwunden ist, zu verstummen. Er wird so zu einer Akzentuierung des Schwindens, der dem melancholischen Lebensgefühl immer gegenwärtige Tatsache, dass wir, um es mit Rilkes neunter Duineser Elegie zu sagen „die Schwindendsten“ sind. Diese vielschichtige Szene, die – wie gesagt – auch Traumhaftes, Albtraumhaftes hat und mit einigem parapsychologischen Brimborium einhergeht, hat später eine sehr viel schlichtere Entsprechung im von mir so genannten „rollenden Rubel“ gefunden. Schon unmittelbar vor der hier beschriebenen Szene fällt der Mutter ihre Handtasche zu Boden. Der Sohn hilft ihr die verstreuten Münzen aufzusammeln. Münzen spielen in den folgenden Filmen immer wieder eine Rolle.

Im Stalker (1979) erscheinen in einer sepiagetönten Passage Münzen zusammen mit einem Detail des Genter Altares der Brüder van Eyck in einer flachen Wasserlache: der Johannes der Täufer aus der großen Deesis, der auf eine rätselhafte Art, die Tarkowskij mit Sicherheit fasziniert haben muss, auch Johannes den Evangelisten, den Seher der Apokalypse verkörpert. Die runden Münzen zusammen mit der größeren sphärischen Form des Bogens über Johannes haben mich immer an Sterne und Planeten erinnert: schließlich geht es um die Apokalypse…

In Nostalghia (1983) fällt dem Protagonisten im dunklen Hotelzimmer eine Münze auf den Boden: man hört ihr Rollen und wie sich im endgültigen Fallen das Geräusch des Kippelns steigert. Dabei blättert Gortschakow in einer Bibel. Die verlorene Geldmünze ist ein Motiv aus dem Neuen Testament (Lukas 15, 8-10): eine Hausfrau stellt ihre Wohnung auf den Kopf um eine verlorene Drachme zu finden und feiert mit ihren Freundinnen, nachdem sie sie gefunden hat. Und selbstverständlich bleibt Tarkowskij auch auf dieser Spur, aber für mich ist hier nur die minimalistische Beobachtung im Zentrum, dass die Münze im Rollen ein sich steigerndes Geräusch hervorruft und damit das Vergehen der Zeit ähnlich dramatisiert wie mit dem anschwellende Gesang zu dem verdunstenden Fleck. Bei seinem letzten Film Offret hatte Tarkowskij das Glück auf einen Mitarbeiter für die Geräuscheffekte zu stoßen, der ähnlich perfektionistisch eingestellt war wie er selbst. (Wer mich persönlich kennt, wird bestätigen können, dass ich in der „vita vissuta“ wenig Hang zum Perfektionismus habe. In Fragen der Kunst bin ich aber mittlerweile so weit, den Perfektionismus für eine gute Sache zu halten: da wird viel zu oft, viel zu gern über den Daumen gepeilt…) Der „Ljudtekniker“ hat sich vermutlich nie zuvor in seinem Beruf so ernst genommen gefühlt: bei Beginn ihrer Zusammenarbeit hat Tarkowskij ihm eine Liste von 250 verschiedenen Geräuschwünschen überreicht. Da musste selbst dieser Mann, der von Berufs wegen das Gras wachsen hört, passen und hat in einem Gewaltakt und mit einem Rest von gesundem Menschenverstand, der ihm durch die Gegenwart des Genies noch nicht abhanden gekommen war, die Liste erst einmal um die Hälfte gekürzt. Owe Svensson, der überzeugt war, dass in einem Film jeder Schritt anders klingen sollte, hat mit dem „rollenden Rubel“ in Offret ein Meisterwerk hingelegt.

Alexander, der sich unzertrennlich an sein Cognac-Glas hält wie an einen kleinen Lampion, rutscht auf den Holzdielen seines Oberstübchens auf allen Vieren auf die Schlafcouch zu, nachdem er zum ersten Mal nach undenklicher Zeit eine Art Gebet improvisiert hatte. Als er auf die Couch robbt, rutscht ihm eine Münze aus der Cordhose und rollt unsichtbar in großer Runde durch den Raum, um dann in der beschriebenen Weise ihre Reise dramatisch zu beenden. In einem der folgenden, apokalyptischen Traumgesichte sind im Schnee verstreut liegende Münzen wichtig, aber das geht über den hier gesteckten Rahmen weit hinaus und setzt das fort, was Tarkowskij in Stalker bereits angedeutet hatte: die Münzen werden zu einem Bild für den Kosmos. (Tarkowskij hat einmal bemerkt, dass dem Dichter ein Loch in einer Socke, durch das ein Zeh lugt, ein Bild für die Welt werden könne.)

An diesem Beispiel wird nachvollziehbar wie sich bestimmte Motive bei Tarkowskij zu größerer Klarheit, Deutlichkeit und Aussagekräftigkeit entwickeln. Dazu sei exkursorisch bemerkt, dass er für das Reifen der Zeit ein surrealistisches Bild erfunden hat, für das ich sehr viel Zeit gebraucht habe, erst einmal um es überhaupt zu entdecken und dann noch mal gehörige Zeit, um es zu verstehen: Im Spiegel sieht man einmal in dämmerndem Vorübergleiten eine mit Wasser gefüllte Glasvase, in die ein schwer identifizierbares technisches Gerät eingetaucht ist. Vielleicht liegt es auch an mir, weil ich, wie ich zugeben muss, technisch völlig unbegabt bin. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, es könnte die Feder einer Uhr sein. Anschaulich-assoziativ liegt die Zwiebel, die im Wasser Keime treibt, nahe. Der Druck, den die Feder über die Zeit in der Uhr ausübt verbindet sich mit der organischen Vorstellung des Wachsens.

Das ist eine ganz andere Aussage über die Zeit als die Salvador Dalís in seinem vielleicht populärsten Bild Die Beständigkeit der Erinnerung von 1931. Einem Journalisten oder Kritiker, der danach fragte, ob das Bild vielleicht mit der Relativitätstheorie zu tun habe, vertraute der Künstler an, dass ihn zerfließende Camemberts zu dem Bild inspiriert hätten. In einer Wüstenei hängt eine Taschenuhr schlaff über dem Ast eines dürren Baumes, eine andere schleicht wie eine Schnecke eine Stufe hinunter – das entspricht der Erfahrung, dass Zeit „im Schneckentempo“ vergehen kann.  Man denke etwa an die Erfahrung im Sommerurlaub, als man bei brütender Hitze in einer Autoschlange stand.-

Zurück zu Nostalghia, dem Film, der der Hauptschauplatz für das zu sein scheint, was  wir Tarkowskijs Unruhe genannt haben.

Am 9. September 1970 schrieb Tarkowskij in seinem Tagebuch, dass das einzig Gute, was die Vernunft hervorgebracht habe, die Dialektik sei. Dialektik war während seines Studiums ein eigenes Studienfach. Tarkowskij hat sein sehr persönliches Verständnis von Dialektik entwickelt mit dem Resultat, dass das Dunkel seiner Filme einen lichtvollen Ausgang provoziert und vorbereitet. Die extreme Langsamkeit seiner Filme – und Nostalghia ist vielleicht der langsamste- zieht uns so sehr auf wie ein Uhrwerk, die „Unruh“ in einer Uhr, dass wir nachher durch nichts mehr aufzuhalten sind…

Es gibt einen vagen Anklang an das Theater des Absurden (dem Tarkowskij lebhaft applaudierte) in einer Szene zu Beginn des Films, kurz nach der Episode mit dem rollenden Rubel. Im mittelalterlichen Thermalbad von Bagno Vignoni haben sich einige Badegäste zusammengefunden, die bis zum Hals im warmen Schwefelwasser stehen und von dicken Nebelschwaden umgeben sind. Es ist wirklich nur eine eher knappe Episode, aber Tarkowskij ist hier mal ausnahmsweise im Fahrwasser von Nikolai Gogol und Michail Bulgakow, weil es ihm gelingt eine phantastisch absurde, komische Atmosphäre herzustellen. Minimale Kunstgriffe wie der, dass einer der badenden Männer einen Hut trägt, die einzige Dame hingegen einen Turban, legen den Verdacht nahe, dass diese ehrenwerten Herrschaften hier nicht etwa baden, sondern leben. Zu allem Überfluss raucht ein glatzköpfiger General Zigarre, und nicht nur er, mehr noch: wir werden beinahe glauben gemacht, als seien die Schwaden, mit denen man sich einnebelt, hausgemacht, selbst in die Luft gepafft.  Sogar der Außenseiter Domenico, der am Rand des Beckens wandelt, lässt sich anstecken, eine Zigarette anstecken, „weil er nicht raucht“. Es klingt auch an, dass die wohlig einschläfernde, schwefelige Flüssigkeit potentiell gefährlich sein kann: jemand sei einmal darin ertrunken.
Die Unterhaltung reicht von uralter chinesischer Musik, für die der General schwärmt (und er bringt damit eine Faszination Tarkowskijs zum Ausdruck), bis zum Moulin Rouge in Paris, der Tarkowskij weniger interessieren dürfte. Der Außenseiter Domenico, der sich fortwährend leise mit seinem treuen deutschen Schäferhund Zoé unterhält, kommentiert das: „Sie wollen ewig leben.“ Er sieht in ihnen eine Einstellung, die zuvor am Ende des Films Solaris so formuliert worden ist: „Die Tatsache, dass wir den Zeitpunkt unseres Sterbens nicht kennen, macht uns praktisch unsterblich.“ Hier nun, in diesem Film stößt Tarkowskij in das gleiche Horn wie schon Tolstoj, der mehr als alle anderen verehrte Landsmann, der in der Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch mit grimmigen Spott beschreibt, wie sich ein Jedermann die Gewissheit des eigenen Todes vom Leibe hält.
Der Nebel hindert daran die verwitterten Ränder des Beckens, will sagen: die Grenzen unserer Existenz wahrzunehmen. Dass diese Annahme zulässig ist, erhellt aus der Szene mit der Kerze, die dem Autor schon lange vorschwebte, lange bevor er eine überzeugende Rechtfertigung dafür in der Geschichte finden konnte.

DIE KERZE

Mit gelber Flamme züngelt Licht,
Und immer mehr die Kerze rinnt.
Genauso leben du und ich:
der Körper schmilzt, die Seele brennt.

Arsenij Tarkowskij

Ein ausgesprochen einfaches Bild, das Andrej Tarkowskijs Vater in diesen Zeilen zur Sprache bringt. Der Regisseur hat es in der Schlussszene seines Films Nostalghia aufgegriffen. Andrej Gortschakow, der russische Schriftsteller, hat seinen Rückflug nach Moskau verschoben, um ein scheinbar unsinniges Versprechen, das er dem verrückten Mathematiker Domenico gegenüber gemacht hat, einzuhalten. Hier hatte Tarkowskij eine überzeugende Verankerung der Szene im Film gefunden: Gortschakow sah diese rituelle Handlung nicht als irgendwie sinnvoll an, sondern er vollzieht sie als Akt der Loyalität mit diesem Mann, als Ausdruck seiner Hochachtung für ihn.

Domenico hat zu wiederholten Malen versucht das mittelalterliche Thermalbad mit einer brennenden Kerze der Länge nach zu durchqueren. Aber sobald Domenico sich anschicke, sein Vorhaben auszuführen, stürzen sich alle auf ihn, um ihn davon abzuhalten, weil er im Ruf steht, verrückt zu sein und man fürchtet, er wolle sich etwas antun. Oder wie Eugenia das formuliert: „Sie retten ihn.“ Von ferne erinnert mich diese „antispirituelle Alarmbereitschaft“ an die Klage einer vom Hungertod bedrohten afrikanischen Mutter, von der ich irgendwann einmal gelesen habe. Die westlichen Bemühungen, ihr Leben zu retten, sah sie als einen Anschlag auf ihre Würde. Man solle sie in Würde sterben lassen. Offenbar nahm sie die technokratisch abgespulten Hilfsmaßnahmen nicht persönlich, und das vielleicht zu Recht. Denn geht es dabei oft nicht vor allem um ein Bemühen, die „last frontier“, den physischen Tod, weiter zurückzudrängen?

Als Gortschakow von seiner Unterredung mit Domenico in sein Hotelzimmer zurückkehrt hat er einen Kerzenstummel, eine Art Staffelstab in der Hand. Seine junge Dolmetscherin Eugenia, von beträchtlicher physischer Schönheit, hat sich in seinem Zimmer geduscht, weil es in ihrem Zimmer kein heißes Wasser gab. Eine Erklärung, die niemand in Zweifel ziehen wird, der in den 80er Jahren Italien bereist hat. Sie sitzt im Negligé auf Gortschakows Bett und trocknet sich die üppige, rötlich schimmernde Lockenpracht mit dem Föhn. Also eine leicht elektrisierende Situation. Der Föhn und die Kerze, die sie auf dem Bett einander entgegenhalten, versinnbildlichen die grundsätzlich verschiedenen Erwartungen an das Leben. Der Föhn wie auch das Badewasser vermitteln äußere Wärme (wobei es fatal wäre, wenn beides zusammen käme), es geht um ein Leben konzentriert auf Äußerlichkeiten, während die Kerze für das innere Leben steht. Perfiderweise erinnert das Geräusch des Föhns an das Geräusch der Kreissäge, die im Hintergrund als ein memento mori immer wieder zu hören ist. Die Kreissäge ist ein modernes Äquivalent zur Sense des Sensenmannes und lässt an rechteckige Bretter denken, die in der Form an den Grundriss des Beckens erinnern und dessen Begrenztheit betonen.

Die Begrenztheit unserer irdischen Existenz hervorzuheben ist der Sinn der von Domenico ersonnenen „Performance“: das Becken von einem Ende zum anderen zu durchqueren. Tarkowskij hat also in Domenico eine Aktion in einer zeitgenössischen Kunstform ersonnen. Die Tatsache, dass fast keine Zeugen zugegen sind, nimmt das Filmpublikum umso mehr in die Pflicht.

Während Domenico auf dem römischen Kapitolsplatz auf den Rücken des Bronzepferdes des Kaisers Marc Aurel geklettert ist, um eine flammende Rede zu halten und sich anschließend selbst in Flammen zu setzen, setzt in Bagno Vignoni der todkranke Gortschakow dazu an, mit der angezündeten Kerze das Becken zu durchqueren. Mittlerweile ist alles Wasser versickert, nur noch vereinzelte Pfützen hier und da. Diese Tatsache ist in sich schon ein Bild der Vergänglichkeit. Eine auf unbestimmte Art geisteskrank wirkende Milena Vukotic fischt weggeworfene, beschädigte Gegenstände aus dem weißlichen Schlick und reiht sie am Beckenrand auf.

Der Schauspieler Oleg Jankowskij hat davon berichtet, wie Tarkowskij ihn auf diese Szene vorbereitet habe: es gehe darum in diesem Gang durch das Becken „ein ganzes Menschenleben“ darzustellen. Wenn das gelänge in einer einzigen ununterbrochenen Aufnahme, dann sei darin der Sinn seines Lebens beschlossen. Jankowskij gab überzeugend seine eigene Verwirrung wieder. Aber gelegentlich liebte Tarkowskij Unmögliches von seinen Mitarbeitern zu verlangen. Das hatte zum einen damit zu tun, dass er von Haus aus kein Realist war, zum anderen gab es diesen Mitarbeitern die Möglichkeit über sich hinauszuwachsen, eine unvergessliche Erfahrung zu machen und das gute Gefühl zu haben, bei der Errichtung eines großen Kunstwerkes mitgewirkt zu haben.

Gortschakow erlebt seine Niederlagen: trotz seiner Bemühungen, die Flamme zu schützen, wird sie zweimal ausgelöscht. Beim zweiten Mal kann er sich kaum noch dazu aufraffen, an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Er schlurft kraftlos, in kleinen Schritten zurück, schlägt mit der Hand an den Ausgangspunkt und wankt wieder los, mit leicht stolperndem Schritt. Ein umgekehrt am Beckenrand lehnender Reisigbesen scheint ein besonderes, spirituelles Hindernis. ( Man fühlt sich an die sehr realen Hexereien in Gogols Erzählungen erinnert.) Endlich angelangt, stellt er die brennende Kerze auf eine Steinstufe und sinkt leise stöhnend zu Boden. Als Gortschakow Domenico zuerst kennen lernte, war er zu dem Schluss gekommen, er habe Glauben – „viera“. Das flackernde Licht der Kerze steht für das innere Leben, den Glauben. Oder, um es in den Worten des Apostels Paulus zu sagen: Ich habe den Lauf vollendet, den guten Kampf gekämpft, den Glauben bewahrt…(2 Timotheus 4,7)

Die Szene ist parallel zur Selbstverbrennung Domenicos und man kann in seiner Vorstellungskraft eine Übereinanderblendung beider Szenen vornehmen. Dann geht der Russe mit seiner Kerze über den Kapitolsplatz, auf dem eine Menge von zu Salzsäulen erstarrten Augenzeugen versammelt ist, auf der Suche nach einem Menschen wie Diogenes mit der Laterne . Die Selbstverbrennung umgekehrt verdeutlicht drastisch, was der Weg mit der Kerze ist: ein sich Verzehren nach dem Ziel…

Es gibt sehr viel früher im Film eine kleine Episode mit Eugenia, die eine geniale Aussage zur drängenden Zeit macht. Wenn man die weiteren Ausführungen dieser jungen Frau sich vergegenwärtigt, muss man zu dem Schluss kommen, dass sie sich als eine Art Groupie der Edelklasse versteht, die interessante Männer als Trophäen sammelt (, eine Spezies, die auf Filmsets wohl auftauchen mochte).  Zu ihrem Kummer ist der Kunde Gortschakow meistenteils sehr in sich gekehrt. Umso angenehmer berührt es sie, als er sie auffordert, in einem bestimmten, besonders schmeichelhaften Licht stehen zu bleiben: „Du bist so schön!“ Ihr subtiles Minenspiel verrät: sie wittert Morgenluft, macht sich Hoffnungen. Als er dann auch noch behauptet: „Ich beginne zu verstehen…“ meint man sie die Farbe wechseln zu sehen. Und wen oder was beginnt er zu verstehen? Den verrückten Domenico! Au Backe! In Sekundenschnelle schläft ihr das Gesicht ein. In diesem Augenblick beginnt irgendwo das Telefon zu klingeln und vermittelt das unbestimmte Gefühl der Enttäuschung: da winkt jemand zur Fühlung, aber nicht für mich. Wenig später, und das ist wirklich genial, beginnt mit sehr ähnlichen Intervallen eine Standuhr zu schlagen. Die Dringlichkeit des Klingelzeichens beim Anruf verbindet sich mit dem Hinweis auf die vergehende Zeit, eine sehr viel ernstere Dringlichkeit. Das Ganze wird zu einer Anspielung auf den Anruf Gottes.

Tarkowskij hat immer wieder die großen Autoren des Kinos als seine Kampfgenossen beschworen, nur ganz selten, in Momenten extremer Übellaunigkeit, ließ er im Tagebuch  durchblicken, dass er diese großen Namen (Bergman, Buňuel, Kurosawa, Fellini) nicht ganz auf seinem Niveau sah.  Er müsste mit den Stillen und Feinen in den Landen, den Lyrikern, den Poeten ins Gespräch gebracht werden. Aus diesem zarten Holz ist er geschnitzt, auch wenn ein Film freilich eine ganz andere Inkarnationswucht hat als einfach nur geschriebene Lyrik. Diese Leute liest zwar fast keiner, aber dennoch haben sie große repräsentative, symbolische Bedeutung für unsere Gesellschaften, weshalb auch beispielsweise die Financial Times oder das Wallstreet Journal, die nicht auf sich sitzen lassen wollen, dass es ihnen nur um den rollenden Rubel gehe, hoch qualifizierte Fachleute beschäftigen, die den Dichtern feinsinnige Würdigungen widmen.

Mir fallen zu dieser Szene Zeilen des nobelpreisgekrönten schwedischen Lyrikers Tomas Tranströmer ein, denen sie wunderbar Paroli bietet: “Und alles ist ohne Antwort und heftig, wie wenn im Dunkeln das Telefon klingelt.” Das scheint Ingmar Bergman die skandinavische Mär vom Schweigen Gottes eingeflüstert zu haben: das Klingeln im Dunkeln bedeutet, dass da niemand ist, der den Anruf annehmen könnte. Tarkowskij hat just den Spieß umgedreht: wir antworten nicht auf den Anruf.

Ein unvermittelter kurzer Dialog aus dem Off, als Gortschakow durch die Kirchenruine von San Galgano irrt, schlägt in die gleiche Kerbe: „Warum lässt Du ihn nicht Deine Anwesenheit spüren?“ fragt eine Frau, die Mittlerin Maria. „Das tue ich ja, aber er ist es, der sie nicht wahrnimmt.“

Man sagt, dass es eine Charakteristik spiritueller, geistlicher Menschen sei, dass ihnen der Boden unter den Füßen brennt. Und das soll auch für Tarkowskij gelten? diesen Weltmeister der Langsamkeit? Als Gortschakow unsicheren Schritts durch das Becken stapft, soll uns das langsame Vergehen der Zeit schmerzen, es soll sozusagen uns unter den Sohlen brennen. Ganz ähnlich soll in Tarkowskijs letztem Film Offret (1986) das ständige Gerede des Protagonisten Alexander auf die Nerven gehen, unerträglich werden, so dass schließlich die irrationale Wahnsinnstat, als er sein Haus anzündet, wie eine Erlösung ist, nicht nur für ihn, auch für uns: endlich tut er etwas.

Bei Robert Bresson gibt es vergleichbare Irritationen, freilich, wie bei einem Franzosen nicht sehr verwunderlich, mehr ironischer Art. So findet in einem seiner frühen Filme eine Schlägerei statt, in der eine Gruppe Jugendlicher einen anderen zusammenschlägt. Nur gehen diese Jugendliche dabei wie Schlafwandler vor. Dieses extreme Understatement ironisiert die Tatsache, dass die Gewalt in Filmen oft exzessiv ist, so dass sie, wenn sie ins wirkliche Leben übertragen wird, fatale Folgen hat.

Eigentümlicherweise haben Tarkowskijs letzte drei Filme, besonders die letzten beiden die Wirkung auf mich, dass im Laufe der Zeit das Gefühl der Dringlichkeit wächst, die Botschaft dieser Filme, ihren Aufruf zu einer radikalen Umkehr im Lebensstil unter die Leute zu bringen. Während bei einem Großteil der Filme, die ich sonst so gesehen habe, besonders bei denen, deren stellvertretender Aktionismus einem alles Mögliche um die Ohren fliegen ließ, sich nachträglich der Eindruck einstellt, Zeit totgeschlagen zu haben.

Nach Eugenio Montale, dem italienischen Dichter und Nobelpreisträger von 1975, ist es die uns vom Schicksal gegebene Aufgabe, der wir uns heroisch stellen müssen, die Zeit, diese vielköpfige Hydra, totzuschlagen.

Für einen Christen hingegen ist das Zeittotschlagen fast schon eine kleine Sünde.

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