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Hochprozentiges bei Tarkowskij

Oktober 11, 2013

Die Nähe und den Hang zum Rausch hat man gelernt als Selbstverständlichkeit der slawischen condition humaine hinzunehmen. Man weiß aus Nikolaj Gogols Taras Bulba, dass die Kosaken sich nur aus Anlass besonderer kriegerischer Ereignisse zur Nüchternheit durchringen konnten. Die wurde mit drakonischen Strafandrohungen durchgesetzt. Rauschhaft sind immer wieder die Chöre, nicht nur die der Don-Kosaken, sondern auch die liturgischen Gesänge. Etwas boshaft könnte man sagen, dass die marxistische Redensart von der Religion als Opium des Volkes in Russland mehr als anderswo etwas Richtiges traf.
Tarkowskij hat es geschafft, sogar zu diesem Thema etwas relativ Tiefschürfendes, um nicht zu sagen Tiefschlürfendes beizusteuern.

Wie der Titel vermuten lässt handelt es sich nicht um eine lange und ernsthafte Untersuchung, sondern eher um ein Intermezzo, in dessen Zentrum eine winzige visuelle Bemerkung in Nostalghia (1983) steht.

Der Suff als regelrechte Arbeitsbehinderung war weniger ein Problem für Tarkowskij, wohl aber für verschiedene seiner engsten Mitarbeiter, wie man seinen Tagebüchern entnehmen kann. 1983 hat Tarkowskij beim „Meeting“ von Comunione e Liberazione einer vielköpfigen, überwiegend jugendlichen Zuhörerschaft in Rimini eine Erfahrung mit der Vorsehung erzählt.
Tarkowskij hatte bevor die Dreharbeiten zu seinem Andrej Rubljow begannen, die einzige Abschrift des Drehbuches auf dem Rücksitz eines Taxis in Moskau liegen lassen. Als er es bemerkte war es schon zu spät. Das Taxi war im dicksten Getümmel in Moskaus Zentrum verschwunden. Er war so verzweifelt, dass er im Haus des Films zwei Flaschen Cognac leerte. Als er wieder auf die Straße trat, hupte kurz darauf ein Auto, ein Taxi hielt an und der Fahrer überreichte ihm das Konvolut. Tarkowskij nahm es als einen Wink der Vorsehung. Und seinen Zuhörern blieb nicht der Geruch der Heiligkeit, die Tarkowskij immer wieder mal nachgesagt wurde, sondern der von Cognac in der Nase. In den Tagebüchern ist sporadisch von unerfreulichen Begegnungen mit Alkohol die Rede. Einmal hat er sich im volltrunkenen Zustand den Schnurbart abrasiert, was ihn wegen seiner Dokumente bekümmerte. Im Ostblock verstand man da wohl keinen Spaß. Am 17. Februar 1971 schreibt er, wie sehr ihm seine Frau fehlt: „Und wenn Larotschka nicht bei mir ist, habe ich ständig Scherereien. Ich ging ins Haus des Films – betrank mich und prügelte mich mit Wassja Liwanow. Weder er noch ich können uns aus dem Haus wagen – so sehr haben wir einander ‚gestreichelt’. Tags darauf rief er mich an, entschuldigte sich. Offensichtlich hatte er selber angefangen. Ich erinnere mich an gar nichts. Solche Sachen passieren immer, wenn Larotschka lange nicht da ist.“

Das hochprozentige „Wässerchen“ spielt von Anbeginn eine Rolle in Tarkowskijs Filmen. Sogar in Iwans Kindheit (1962) beweist der der zwölfjährige Held seine Männlichkeit, indem er gleich zu Beginn mit zwei erwachsenen Kameraden anstößt, um seine geglückte Rückkehr zu feiern, wonach es ihn gehörig schüttelt. Im Rubljow (1967) haben berittene Kuriere in zeitlich weit auseinander liegenden Situationen große Mühe ihren Aufträgen nachzukommen, weil ihnen nach einer Zecherei der Kopf so brummt.

In Solaris (1972) hat der Kybernetiker Snaut einen stark angetrunkenen Auftritt, auf dessen Höhepunkt er Brechts deutsche Version eines amerikanischen Evergreens zum Besten gibt: „Oh Susanna, das Leben ist nicht schwer – für einen toten Bräutigam kommen tausend neue her!“

Lediglich Der Spiegel (1976) scheint auf diese Ingredienz russischer Folklore verzichten zu wollen, wenn man mal davon absieht, dass der leicht verwahrloste Arzt, der gleich zu Beginn des Films der einsamen Mutter seine aleatorische, aber aufdringliche Aufwartung macht, nicht ganz taufrisch wirkt. Aber es bleibt beim Verdacht, denn im Film riecht man zum Glück die Kerle nicht.

Im Stalker (1979) sind der „Schriftsteller“, mit dem verglichen ein Bohémien ein westlicher Säugling wäre, und seine Flasche unzertrennlich. Im Zusammenhang mit der Polemik um diesen Film hat Tarkowskij in seinem Tagebuch einen Wortwechsel mit dem langjährigen stellvertretenden Direktor der Goskino, der sowjetischen Filmbehörde, Pawljonok wiedergegeben, der einen beträchtlichen Unterhaltungswert hat: „Weshalb das Wort Wodka verwenden? Es ist zu russisch. Wodka ist ein Symbol für Russland.“ „Ein Symbol Russlands? Was reden Sie da, Boris Wladimirowitsch! Stehe Gott Ihnen bei…“ (13. April 1979)

In Nostalghia hat Tarkowskij dann aber dem Wodka ein Denkmal gesetzt, der einzige Fall von „product placement“, der mir aus seinen Filmen erinnerlich ist, wenn man von der sicher nicht minder wirkungsvollen Werbung im gleichen Film für die Lyrik seines Vaters einmal absieht, die auf einer etwas anderen Ebene liegt. Andrej Gortschakow hat in Mittelitalien die überschwemmte Ruine eines Kirchleins entdeckt (S. Vittorino in Cittaducale/Rieti). Er watet beseligt im mehr als knietiefen Wasser: „Hier ist es wie in Russland!“ Er findet in der Kapelle am Rand aber dann doch ein trockenes Plätzchen, auf dem er es sich bequem macht. Aus unerfindlichen Gründen brennt ein kleines Feuerchen. Daneben steht ein Plastikbecher, der durch die nahe Hitze bebt und wankt. Dann gießt Gortschakow Wodka hinein und der Becher gewinnt Standfestigkeit. Er stellt die Flasche dazu, die durch ihr grünes Label eindeutig als Wodka der Marke Moskovskaya zu erkennen ist, die in der Sowjetunion so etwas wie ein Monopol gehabt zu haben scheint. Der bebende Becher erinnert mich an eine Frage, die ich als Sechzehnjähriger meiner Großmutter gestellt habe, der Bildhauerin Grete Tschaplowitz-Seifert. Warum trinken die Russen so viel? Ich stellte ihr die Frage, weil ich sie als eine kluge Frau schätzen gelernt hatte und weil ich sie als Oberschlesierin für relativ kompetent hielt in solchen Fragen. Denn meine slawophilen Tendenzen habe ich stets mit ihr in Verbindung gebracht. Nach Adam Riese kann ich eigentlich nur auf sehr wenige Prozent slawisches Blut verweisen, aber ich habe diese wenigen Prozent immer ganz unverhältnismäßig stark gefühlt. Jedenfalls hat mich ihre Antwort damals etwas überrascht. Ich hatte mir irgendwas zur slawischen Schwermut erwartet, weil das Leben so traurig ist, etc. Aber sie meinte nur düster: „Wahrscheinlich ist es das furchtbare Temperament.“ Dieser neben dem Feuer wie Espenlaub bebende Becher, der durch den Wodka Standfestigkeit erlangt, scheint mir in die gleiche Richtung zu weisen.

Dieses winzige Moment ist ein gutes Beispiel für das, was Tarkowskij von einer filmischen Metapher forderte: dass sie auf Beobachtung basieren soll. Mit diesem Kunstgriff hat er einem gewissen Schwachpunkt seines russischen Hauptdarstellers abgeholfen. Als sich abzuzeichnen begann, dass Oleg Jankowskij der Hauptdarsteller sein würde, hat sich Tarkowskij in seinem Tagebuch leicht alarmiert geäußert. „Er ist fragil, spirituell schwach, leider. Ihn härter machen, die Haare kurz schneiden.“ (2. März 1982, nur in der italienischen Ausgabe der Tagebücher) Jetzt, da sowohl Tarkowskij als auch Jankowskij seit etlichen Jahren gestorben sind, kann man das erwähnen. Alexander Kajdanowskij, der Hauptdarsteller von Stalker und bevorzugter Kandidat für die Rolle, strahlte starke Vitalität und gleichzeitig starke Verwundbarkeit aus. Vor allem hatte Jankowskij nicht das nervöse Temperament von Anatolij (Tolja) Solonizyn, der kurz zuvor einem Krebsleiden erlegen war. Er spielte für Tarkowksij eine ähnliche Rolle wie Klaus Kinski für Werner Herzog und zwar ironischerweise wohl auch wegen einer slawisch-flackernden Komponente. Bei Kinski war es der sprichwörtlich „flackernde Blick“, bei Tolja die flackernden Hände. Ein heftig bewegtes Innenleben, dem die Physis fast nicht standhält. Das fehlte Jankowskij, und diesem Umstand hat Tarkowskij mit einem Plastikbecher abgeholfen.

In Tarkowskijs letzten Film Opfer (1986) hält sich der Protagonist Alexander in der Finsternis der Nacht an seinem Cognacglas fest wie an einer Laterne. Ganz im Sinne des soeben Gesagten hilft ihm der Cognac im Lot zu bleiben, auch als seine Frau eine schwer erträgliche hysterische Krise bekommt.

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